Auto-representaciones del malestar De la autobiografía de los trabajadores en el siglo XIX hasta la ocupación de las plazas (no nos representan) Anja Steidinger Aquesta tesi doctoral està subjecta a la llicència ReconeixementCompartirIgual 3.0. Espanya de Creative Commons. NoComercial – Esta tesis doctoral está sujeta a la licencia Reconocimiento - NoComercial – CompartirIgual 3.0. España de Creative Commons. This doctoral thesis is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercialShareAlike 3.0. Spain License. Anja Steidinger Auto-representaciones del malestar De la autobiografía de los trabajadores en el siglo XIX hasta la ocupación de las plazas (no nos representan) Director: Dr. Eloi Puig Mestres Co-director: Dr. Leónidas Martín Saura Tutor: Dr. Carles Ameller Programa de doctorado: Estudios Avanzados en Producciones Artísticas EAPA Departamento de Pintura Facultat de Belles Arts Barcelona, UB 2013 Fast vier Jahre habe ich an diesem hier vorliegenden Text gearbeitet und in dieser Zeit verschiedene Stimmungen, Zweifel und Freuden durchlebt. Hier möchte ich denjenigen danken, die mich unterstützt haben, ohne sie wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. Ich danke der Universität von Barcelona, der Generalitat de Catalunya für die Stipendien- Förderung FI 2009 - 2012, Dr. Carles Ameller, Dr. Leonidas Martin Saura und Dr. Eloi Puig Mestres für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung hier in Barcelona. Ganz besonderer Dank gilt Dr. Hanne Loreck von der Hochschule für bildende Künste (HFBK) in Hamburg. Meinen Freund_innen und Kolleg_innen von Enmedio, Dr. Alicia Vela, Therese Roth, Tjaša Kancler, Lupe Garcia, Dr. Octavi Comeron, María José González, Oriana Eliçabe, Anja Hertenberger, Oudée Dünkelsbühler, Ana Pipi Oberlin, Dr. Maria Ruido, und Neda Ploskow danke ich für die anregenden und ermutigenden Gespräche. Dank an Simon Graf, der mir mit seiner Kritik, seinen Kommentaren und Kontakten geholfen hat. Mein Dank an Dr. Mareike Teigeler für ihre Hilfestellung zur Skizzierung des vagen Begriffes von Unbehagen. Der Aufenthalt in Deutschland und die Teilnahme am Doktorand_innen- Kolloquium an der HfbK Hamburg und die Besuche in dem Videoarchiv von Bildwechsel haben die Arbeit inspiriert und beeinflusst. Ich möchte auch Horst Rosenberger für seine Übersetzung ins Spanische danken, ebenso Dr. Ulrike Bergermann und Dr. Gerald Raunig, die für die Disputation die Gutachten geschrieben haben. Dank an Sieglinde Steidinger für das Korrekturlesen, Juergen Steidinger, der immer da ist wenn es brennt und meiner Familie in Barcelona, vor allem Nicolás und Juan Manuel Villarreal Tolchinsky für ihre liebevolle Unterstützung. 2 Für Nicolás 3 Inhaltsverzeichnis Unbehagen als Objekt einer Untersuchung 1. Zitat: Unbehagen 2. Überblick (Vorhaben) 3. Methode (Vorgehen) ERSTER TEIL: DAS PERSÖNLICHE UND DIE PRODUKTION 1. Über das Unbehagen die eigene Produzent_innenposition betreffend 1.1 „Im Atelier“ von Marie Bashkirtseff 1.1.1 „Das Atelier des Künstlers“ von Gustave Courbet 1.1.2 Die privilegierte Stellung der beiden Künstler_innen 1.2 Zauberberg und Hustenburg: Die bürgerliche und die proletarische Selbstbeschreibung 1.2.1 Der „sprechende Stoff“ des Arbeiters Moritz Th. Bromme und Jacques Rancières Subjektraum 1.3 Forschung in der Literatur: Einführung in das Konzept der literarischen Autobiografie 1.3.1 Philipe Lejeune: Der autobiografische Pakt 1.3.2 Paul de Man: Autobiografie als Maskenspiel 1.4 Der Selbstfilm: Autobiografie und Film 1.4.1 Barbara Hammers autobiografische Fiktion „Tender Fictions“ 1.5 Zum Repräsentationsverständnis in dieser Arbeit 1.5.1 Wer spricht für wen? 1.6 Subjektivierungsprozesse: Bildliche und sprachliche Praktiken 1.6.1 Bild-Ich 1.6.2 Sprachkörper 1.7 Kritik verkörpern: Was ist Kritik? 20 21 24 26 28 32 40 42 44 47 51 55 57 66 66 68 74 8 9 18 2. Das Private ist politisch: Das Unbehagen als Frau im öffentlichen Leben nicht vorhanden zu sein. Kurzer Exkurs: die deutsche Frauenbewegung 81 2.1 Die feministische Praxis der Selbstbeschreibung 2.2. Zwei Beispiele aus dem Kunstfeld 2.2.1 Die Performance „Waiting“ von der Künstlerin Faith Wilding 2.2.2 Das Video „In Domination and the Everyday“ von Martha Rosler 2.3 Politisierung des Lebens: Der Film „Der subjektive Faktor“ von Helke Sander 2.3.1 Filmische Methoden in „Der subjektive Faktor“ 2.3.2 Szenen von Unbehagen in „Der subjektive Faktor“ 2.3.3 Repräsentation, Subjektivierungsprozesse und Kritik 2.3.3.1 Subjektives Framing 2.3.3.2 Montage: Ideologische Konstruktion des Frauenbildes 82 86 87 88 89 90 92 93 94 95 4 2.3.3.3 Filmische Selbst-Repräsentation 2.4 Video: Narzisstische Selbstbespiegelung vs. kollektive Medienarbeit 2.4.1. Rosalind Krauss: The Aesthetics of Narcissism 2.4.2. Alternative Medienpraxis 2.5 Video in Spanien 2.6 Postmediale Gesellschaften: (Selbst-) Repräsentation in der digitalen Netzwerkgesellschaft 2.6.1 Felix Guattari: Die postmediale Ära 2.6.2 Rosalind Krauss: Art in the Age of the Post-Medium Condition 2.6.3 Peter Weibel: Die postmediale Kondition 2.7 Filmessay, als intellektuelle Autobiografie 2.7.1 Eine Gegen-Geschichte zu Ödipus, der Film „Rätsel der Sphinx“ von Laura Mulvey und Peter Wollen ZWEITER TEIL: DAS LEBEN WIRD ZUM ARBEITEN GEBRACHT 3. Veränderungen in der Produktion: Vom industriellen zum elektronischen Zeitalter 3.1 Der spanische Film „Numax presenta...“: Über das Unbehagen der Fremd- und Selbst-Ausbeutung 3.1.2 Die Arbeit der Fiktion von Jacques Rancière 3.1.3 Zwei unterschiedliche Verfahren der filmischen Selbst-Repräsentation 3.2 Die Fabrikwände sind verschwunden: zwanzig Jahre nach dem Film über Numax 4. Biopolitische Arbeit: doppelte Wendungen - soziale Kämpfe und Produktion von Subjektivität 4.1 Biomacht: Von der Macht, die das Leben selbst betrifft 4.2 Vom Unbehagen über die Leerstelle: Der argentinische Film „Los Rubios“ von Albertina Carri 4.2.1 Kurze Einführung in den historischen und sozialen Kontext des Films 4.2.2 Filmische Sichtbarkeitsformen in „Los Rubios“ 4.2.2.1 Fiktionalisierung der Filmemacherin 4.2.2.2 Die Verwendung von heterogenem Aufnahmematerial 4.2.2.3 Das Video-Bild im Film-Bild 4.2.2.4 Interviews: Befragung von Augenzeugen 4.2.2.5 Selbst-Reflexion und Selbst-Referenz 4.3 H.I.J.O.S.: Eine soziale Bewegung in Argentinien 4.3.1 Kollektiv vs. Autorin: H.I.J.O.S. und Albertina Carri 99 101 103 105 108 110 110 112 110 118 122 127 130 135 136 138 139 143 145 147 148 148 151 154 156 158 161 165 5 5. Immaterielles oder von der unsichtbaren Arbeit 5.1 Zu dem Verhältnis von der Ent-Materialisierung in der Kunst und der immateriellen Arbeit 5.2 Welche Unbehagen gehen mit der immateriellen Produktion einher? 5.3 Die umherschweifenden Prekären: Precarias a la deriva 5.4 Wer fürchtet sich vor immateriellen Arbeiter_innen?: Der Film „Echt-Zeit“ von Maria Ruido 6. Ökonomisierung des Privaten 167 170 176 178 181 185 6.1 Die Bildagentur Plainpicture: „In Wahrheit ist nur die Wirklichkeit spannender“ 185 6.2 Selbst-Repräsentationen im Internet: Digitale Widerstände gegen prekarisierte Lebenslagen 187 6.2.1 Die Blogs Quartieren.org und Annalist.noblogs.org als Beispiele des digitalen Logbuchs 188 6.2.2 Workbloggers (Arbeiter-Blogger_innen) 192 6.4 Autobiografische Daten im Internet: Kommerzialisierung des Sozialen 195 6.3.1 Facebook: Die Lebens-Timeline 197 6.3.1.1 Finanzielle Verwertung der autobiografischen Daten der Benutzer_innen 203 6.3.1.2 Facebook: Prototyp von immaterieller Arbeit 204 6.5 Die Krise regeln wir unter uns: Eine Marketingstrategie 205 6.6 Zusammenfassung: Erster und zweiter Teil 206 DRITTER TEIL: KRISE. NEUE KOLLEKTIVE SELBST-REPRÄSENTATIONEN? 7. Repräsentation und Krise: Verschuldete Körper 7.1 Ein Rückblick auf die sozialen Bewegungen der letzten Jahre: No nos representan (Sie repräsentieren uns nicht) 7.1.1 11-M: Das Unbehagen über das plötzliche Eintreten des Todes in den Alltag 7.1.2 V de Vivienda (W wie Wohnraum): Das Unbehagen über die Wohnungssituation 7.1.3 Die Indignados: Das Unbehagen das Alle/s betrifft 7.1.4 Occupy Wall Street: We are the 99% 8. Kollektive Praktiken künstlerischer Selbst-Repräsentation 8.1 Die sowjetische Avantgarde: Verschiedene Strömungen im Produktivismus 8.2 Über Namen und Masken: Uneindeutigkeit versus Identität 8.3 Geschichten und das Leben: Write yourself into being 8.4 Zusammenfassung und Ausblick 207 212 214 215 218 221 224 225 229 233 235 6 9. Fallbeispiel: Das spanische Kollektiv Enmedio: Zwischen Kunst und Politik 9.1 En los medios: Inmitten der Medien 9.1.2 „Wir sind keine Nummern“: Foto-Interventionen gegen Zwangsräumungen 9.1.3 „Sie können - Aber sie wollen nicht“: Eine Grafikkampagne, die sich an die Regierenden richtet 9.2 Abschließende Worte: Writing back Anhang 1. Kronotop.org: Kurzbeschreibung von dem Projekt 1.1 Interview I : Ausschnitt aus dem Interview mit Martha Rosler 1.2 Interview II : Ausschnitt aus dem Interview mit María Ruido 2. Exkurs Spanien: Politisches Kino 2.1 Exkurs Spanien: Wirtschaftkrise 3. Exkurs Argentinien: Third Cinema und politisches Kino in Argentinien 3.1 Exkurs: Argentinien: Die Militärdiktatur 4. Bibliografie 238 239 245 253 257 260 265 269 271 276 279 282 286 7 „Unbehagen stellt sich ein, wenn Bezugsrahmen verschwinden, wenn ein unsicheres Terrain beschritten wird, das keine Anknüpfungspunkte bietet. Dieses Terrain kann nicht gefunden werden, sondern findet statt […] Unbehagen ist nicht zu sichern.“1 „Im Gegensatz zu dem eigenen Ort des verdeckten Ermittlers beschreibt das Unbehagen einen Ort, der erst gefunden werden, sich einstellen muss. Einen Ort der Unsicherheit, einen Ort der Irritation. Als Einstich in die horizontalen Linien machtförmiger Strukturen soll er zum Ausgangspunkt dafür werden, emergente Entwicklungen in Gang zu setzen [...] Unbehagen zeichnet sich dadurch aus, ziellos zu sein. Es füllt das Paradox, Widerstand ohne Halt denken zu können, indem dieser Halt keine vordefinierte Basis oder eine durch Analyse zu entwickelnde Position darstellt, sondern in der Ziellosigkeit sein Ziel, seine Konkretisierung erfährt.“2 „ [...] Unbehagen beschreibt [...] eine ziellose Haltung innerhalb des Prozesses des Unsichtbar-Werdens, bzw. des UnsichtbarSeins.“3 „Fasst man Unbehagen als Ort, der sich durch den Widerspruch erklärt, im Moment des Nicht-Wissens der Bewegung überlassen zu sein und gleichzeitig dazu animiert zu werden, neue, feinere Formen der Wahrnehmung entwickeln zu können, wird deutlich, dass Reflexion hier einer immanenten, nicht einer einordnenden Ebene entspringt. Diese Ebene ist jedoch nicht einfach da, sie muss entwickelt, bzw. erkannt werden, sie muss aus der Wirklichkeit sprudeln. “4 1 Mareike Teigeler: Unbehagen als Widerstand: Fluchtlinien der Kontrollgesellschaft bei Helmuth Plessner und Gilles Deleuze, Bielefeld: Transcript 2011, S. 264. 2 Ebd., S. 4. 3 Ebd., S. 5. 4 Ebd., S. 211. 8 Unbehagen als Objekt einer Untersuchung 1. Überblick (Vorhaben) Das Thema dieser Forschungsarbeit konzentriert sich auf den spanischen Begriff „malestar“,5 den ich hier mit „Unbehagen“ ins Deutsche übersetze. „Aber wie sollte man unfassbares Unbehagen in Worte kleiden, das sich in eine Wolke wandelte und davon wirbelte wie der Wind?“6 Flauberts illustrierendes Bild der Wolke setze ich in Beziehung zu dem, was ich als den vagen Zustand eines mulmigen Gefühls aufgrund des Eindrucks das „etwas nicht stimmt“ definiere. Erst wenn dieser Zustand, der als Unbehagen bezeichnet wird, genauer erforscht und umschrieben wird, läßt er sich als konkrete Forderung, bspw. die Situation zu verändern, stellen. Wie wird Unbehagen von denjenigen, die es empfinden, selbst repräsentiert? Welche künstlerischen Praktiken werden verwendet und wie stehen diese im Zusammenhang mit den Veränderungen der Produktionsmittel und ihrer Organisation? Und schliesslich: Inwieweit trägt Selbst-Repräsentation dazu bei, die Situation der sich äussernden Produzent_innen7 zu verändern? Mit diesen Fragen verfolge ich zwei Linien innerhalb der Untersuchung: Einerseits sollen die Veränderungen in der Produktion untersucht werden, die neue Formen von Ausbeutung und unterschiedliche Formen von Unbehagen erzeugen (z.B. Prekarität, Exklusion, Unsichtbarkeit), um dann andererseits die sozialen und künstlerischen Praktiken zu erforschen, die damit einhergehend entstehen, wenn Betroffene sich selbst organisieren. Im Mittelpunkt des Interesses stehen individuelle und zugleich kollektive SelbstRepräsentationen, die sich durch Prozesse der Politisierung auszeichnen, um in den gelebten Alltag zu intervenieren und ihn zu verändern. Ausgehend von den Repräsentationen des Ichs, des Alltags, der Geschlechter und den Beziehungen in der Arbeits- und Lebenswelt wird versucht die gegenwärtigen neuen sozialen Unbehagen zu definieren, die folgend allgemein als prekarisierte Lebensverhältnisse8 zusammengefaßt werden. 5 Vgl. die deutsche Übersetzung von dem spanischen Wort „malestar“, in: PONS Online-Wörterbuch Deutsch-Spanisch: „1. malestar (físico): Unwohlsein, 2. malestar (disgusto): Unbehagen“. URL: http://de.pons.eu/dict/search/results/?q=malestar&l=dees&ie=%E2%98%A0 (22.01.2013). 6 Gustav Flaubert: Madame Bovary [1856]. Aus dem Französischen von Ilse Perker und Ernst Sander, Stuttgart: Reclam 1972, S. 50. 7 Die Schreibweise von „_innen“ (Unterstrich) greift Susanne Lummerdings Argumentation einer offenen Genderkonstruktion auf: „Meine Verwendung des seitens der Queer Studies und Transgender - Positionen befürworteten Unterstrichs (underscore) an Stelle des Binnen-I als gender-reflektierte und einer Identitätslogik gegenüber kritische Schreibweise begründet sich damit, dass diese Schreibweise Differenzen auf eine Weise sichtbar macht, die eine Festschreibung auf binäre Strukturen in Frage stellt, indem sie auf ein „Dazwischen“ verweist, welches gleichzeitig unbenennbar bzw. uneindeutig bleibt.“ Susanne Lummerding: Facebooking - What You Book is What You Get - What Else?, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld: Transcript 2011, S. 199-215, S. 200. 8 Vgl. Judith Butler: In Prozesse von Prekarisierung eingreifen. Aus dem Englischen von Daniel 9 Die vorliegende Arbeit beginnt mit der Analyse von autobiographischen Texten, untersucht Selbst- Filme, Videos und Internetseiten und endet mit Aktionen auf der Strasse. Auf die Weise stelle ich unterschiedlich mediale Möglichkeiten der SelbstRepräsentation vor und beschreibe zugleich auch die technologischen Entwicklungen in der Kommunikation von Unbehagen. Unterteilung der Arbeit Teil l Das Persönliche als Teil der Produktion Der erste Teil der Arbeit beginnt mit Selbst-Dokumentationen in der Frühzeit der kapitalistischen Industrialisierung und ihren ersten Befreiungsbewegungen. Ich habe hier den Schwerpunkt auf Beispiele gelegt, in denen das persönliche Unbehagen der Produzent_innen in Text- oder Bildproduktion zum Ausdruck kommt, und verstehe sie im Weiteren als Vorläufer des politisch engagierten autobiografischen Films. Die Selbst-Zeugnisse im ersten Abschnitt stammen von bildenden Künstlern, ihnen wird im zweiten Abschnitt die Arbeiter_innenautobiografie gegenübergestellt. Mit der Ausrichtung der proletarischen Autobiografie auf den sogenannten Klassenkampf erhält die Arbeit eine politische Richtung, da mit ihr das plurale Ich der Schreiber_innen hervorgehoben wird, hinter der Schreibposition einer einzelnen Arbeiter_in steckt eine Vielzahl von Arbeiter_innen. Ein kurzer Exkurs in den Forschungsbereich der literarischen Autobiografie mit der Skizzierung ihrer wesentlichen Merkmale anhand der Autoren Philipe Lejeune9 und Paul de Man10 ermöglicht, in ihnen wesentliche Züge der postfordistischen Produktion im Neoliberalismus zu entdecken (Ich-Branding, Subjektivität und Kreativität als produktive Ressourcen, Verschmelzung von Arbeit, Leben und Repräsentation), als auch ihre künstlerischen, sozial-kommunikativen Praktiken (u.a. Unentscheidbarkeit von Fakt und Fiktion) hervorzuheben, die als Widerstands- oder Protestformen eine transformative Kapazität besitzen. Des Weiteren geht es um die Besonderheiten des autobiografischen Filmes und der Versuch der Autorinnen Elisabeth Bruss11 und Christine Noll Brinckmann12 das literarische Konzept auf den Film zu übertragen. Fastner und Frigga Haug, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 3/2009, S. 430-437, S.434 und Vassilis Tsianos/Dimitris Papadopoulos: Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus. Oder: wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit, in: EIPCP, 10/2006, URL: http://eipcp.net/transversal/1106/tsianospapadopoulos/de (03.07.2013). 9 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt [1975], in: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Aus dem Französischen von Hildegard Heydenreich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 214-257. 10 Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel [1984], in: Christoph Menke (Hg.): Die Ideologie des Ästhetischen. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer/Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 131–146. 11 Elisabeth Bruss: Eye for I: Making and Unmaking Autobiography in Film, in: James Olney (Hg.): Autobiography: Essays Theoretical and Critical, Princeton: Princeton University Press 1980, S. 296321. 12 Christine Noll Brinckmann: Ichfilm und Ichroman, in: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration, Zürich: Chronos 1997. S. 82- 114. 10 Zwei Aspekte der filmischen Autobiografie unterscheiden sich jedoch radikal von Lejeunes Gattungsbegriff: zum einen die kollaborative Produktionsform des Films und zum anderen die Position der konstruktivistischen Filmemacher_innen. Der konstruktivistische Film steht im Gegensatz zu der Position der realistischen Filmemacher_innen, die den Dokumentarfilm als Abbild der Wirklichkeit verstehen. Mit Barbara Hammers autobiografischen Film „Tender Fictions“13 stelle ich ein Beispiel von kollaborativer Autobiografie vor, das in der Verwendung von heterogenem Material, der Vielheit von Stimmen, den unterschiedlichen Kameraeinstellungen, die nicht von der Produzentin selbst stammen, und in der Unentscheidbarkeit zwischen Fakt und Fiktion gegen Lejeunes Vorstellung von einer durch den Autor_innennamen beglaubigten Wirklichkeit operiert. Die Frage Mit welchem Repräsentationsbegriff operiert diese Arbeit? wird im folgenden Kapitel mit dem Erläutern des tendenziell (de) konstruktivistischen Verständnisses von Repräsentation beantwortet. Die Untersuchung von dem Begriff der Repräsentation führt hier zu der Frage nach der Sprecher_innenposition - Wer spricht eigentlich? - und wie ist dieses Subjekt konstituiert? Wie bildet es sich und wie ist es in bestimmte Machtdiskurse eingebettet. Daraus folgt die Überlegung zu einem widerständigen Subjekt, das befähigt ist Kritik zu äussern, bzw. Kritik zu verkörpern. Die drei Komponenten Repräsentation, Subjektivierungsprozess und Kritik bilden für den Fortlauf der Arbeit immer wieder Verbindungen zu den untersuchten Beispielen von Selbst-Repräsentation. Mit der Nennung historischer Koordinaten verorte ich das folgende Beispiel in der Zeit zur Entstehung der neuen bundesdeutschen Frauenbewegung anfang der siebziger Jahre. Autobiografische Texte und Ich-Erzählungen fanden hier als emanzipatorische Praktiken der Selbst-Befreiung und des Self-Empowerment ihren Einsatz. Ich definiere die von Frauen erfahrene Ungleichheit zu Männern als Unbehagen im öffentlichen Leben (als Frau) nicht vorzukommen. Der Film „Der Subjektive Faktor“14 von Helke Sander handelt von eben jener Zeit, die unter anderem durch das Motto Das Private ist politisch geprägt wurde. Sanders Film ist aus zwei Gründen von Interesse: zum einen untersuche ich an ihm die filmischen Möglichkeiten des autobiografischen Ausdrucks und zum anderen handelt es sich bei der Filmemacherin Helke Sander, die ihre eigene Geschichte erzählt, um eine der Protagonistinnen und Initiatorinnen der neuen Frauenbewegung. Der Film zeigt die Politisierung von Helke Sander von einer alleinstehenden Mutter zu einer emanzipierten Frauenrechtskämpferin. Ich erläutere die künstlerischen Praktiken des subjektiven Framings, der FotoMontage und des Reenactment durch eine Schauspielerin, die in dem Film verwendet werden. Die Organisation der Produktion von „Der Subjektive Faktor“ entspricht allerdings der herkömmlichen Herstellungsweise und Aufteilung der verschiedenen Tätigkeiten beim Film, den Dreharbeiten als auch in der Postproduktion. 13 14 Barbara Hammer: Tender Fictions, [DVD], USA: Barbara Hammer Editions 1995. Helke Sander: Der subjektive Faktor, [DVD], Deutschland: Neue Visionen Film 1980/81. 11 Anfang der siebziger Jahre ermöglichte aber die Entwicklung und Vermarktung von einfacher Videotechnologie, dass auch Personen ohne spezifische FilmtechnikKentnisse und Filmbudget zugang zur audiovisuellen Produktion erhielten. Für Künstler_innen, wie auch für politische Aktivist_innen stellte das Medium Video eine neue Herausforderung dar. Beide Gruppen experimentierten mit SelbstRepräsentation und Selbst-Editing. In diesem Abschnitt wird Rosalind Krauss „Video: The Aesthetics of Narcissism“15 dem Konzept der kollektiven, alternativen Medienarbeit gegenübergestellt. Um die Veränderungen in der medialen Kommunikation zu benennen, tauchte Ende der siebziger Jahre in Italien und schließlich erneut in den neunziger Jahren der Begriff der „Post-Media“ auf. Mit den drei, aus sehr unterschiedlichen Kontexten stammenden Autor_innen, Felix Guattari (französische AntiPsychatriebewegung und seine Nähe zu der italienischen Autonomia-Bewegung)16, Rosalind Krauss (US-amerikanische Konzeptkunst)17 und Peter Weibel (Wiener Aktionismus und Zentrum für Kunst und Medientechnologie)18, wird sich in diesem Kapitel dem Konzept der Postmedialität aus verschiedenen Perspektiven angenähert. Aus dem Verständnis einer gegenwärtigen postmedialen Zeit wird das Interesse an Mischformen (intermediale und interdisziplinäre Praktiken) begründet und die eingangs eingeführten Untersuchungsparameter der Forschungsdisziplinen (bspw. die Gattung der literarischen Autobiografie) der Medienspezifik durch disziplinübergreifende Projekte erweitert. Das Kapitel „Filmessay, eine intellektuelle Autobiografie“ bildet eine Verbindungs-Koordinate zu dem Postmedialen, da Essayfilme sich als ein „Aufeinandertreffen und Ineinandergreifen von Literatur, Philosophie und Bildmedien“19 skizzieren lassen. Oftmals handeln Essayfilme von individueller Erfahrung und subjektivem Blick, ohne jedoch in ein einheitliches Subjektverständnis zu verfallen. und sie untersuchen zudem die prekäre Stellung der Subjektivität in der modernen Massengesellschaft. Als Beispiel in diesem Kapitel stelle ich Laura Mulveys und Peter Wollens Film „Riddles of the Sphinx“20 vor. Ich bezeichne ihren gemeinsamen Film als eine intellektuelle Autobiografie, da die beiden mit ihren dargelegten kritischen Überlegungen zum patriarchalen Diskurs über den Identifikations-Prozess (ÖdipusKomplex) ihre professionelle Position als Theoretikerin und Filmemacher mit der politischen Wahrnehmung ihres Alltages und der Theorie verknüpfen. Dem Mythos des Ödipus, Freuds Rätsel der Weiblichkeit, setzen sie die Geschichte des Rätsels der Sphinx entgegen. 15 Rosalind Krauss: The Aesthetics of Narcissism, in: October 30, MIT Press Journal 01/1976, S. 5064. 16 Felix Guattari: Soft Subversions, New York: Semiotexte 1996. 17 Rosalind Krauss: A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Post-Medium Condition, London: Thames & Hudson 2000. 18 Peter Weibel: Postmediale Kondition, Graz: Neue Galerie 2005, URL: http://www.peter-weibel.at/index.php?option=com_content&view=article&id=75&Itemid=35 (28.01.2013). 19 Sven Kramer/Thomas Tode: Der Essayfilm: Ästhetik und Aktualität, in: Internationale Tagung, Universität Lüneburg 2007. URL: http://www.meolaffel.files.wordpress.com/2010/04/tagung-essayfilm.pdf (28.01.2013). 20 Laura Mulvey/Peter Wollen: Riddles of the Sphinx, [DVD], England 1977. 12 Teil ll Das Leben wird zum Arbeiten gebracht21 In dem zweiten Teil, in dem das Leben selbst zum Arbeiten gebracht wird, geht es um die Privatisierung und Kommerzialisierung des Persönlichen bzw. des Privaten, das in den siebziger Jahren noch als politisch galt. Welche digitalen Technologien des Selbst und welche Selbst-Darstellungen kursieren in dem neuen Paradigma von Arbeit? Ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Kapitalismus führt zu dem Beispiel des post-repräsentativen Dokumentarfilms22 „Numax presenta...“ (1979)23 aus Spanien. Der Film wurde von den Arbeiter_innen der Fabrik selbst finanziert, und zusammen mit dem katalanischen Filmemacher Joaquim Jordà Catalá realisiert. „Numax presenta...“ verhandelt zwei Formen der kapitalistischen Ausbeutung: die unwürdigen Arbeitsbedingungen in der Fabrik unter dem Diktat der Fabrikbesitzer und nach der Fabrikbesetzung durch die Arbeiter_innen das Scheitern ihrer Selbstorganisation, da sie selbstausbeuterisch um den Erhalt der Fabrik kämpfen müssen. Während die klassische Filmsequenz der Lumière Brüder „La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon“ (1895) die Arbeiter_innen vor den Fabriktoren in verschiedene Richtungen in ihr Privatleben streben lässt, spielt sich bei „Numax presenta...“ alles explizit im Inneren der Fabrik ab. Als künstlerisches Repräsentationsverfahren erläutere ich u.a. das Nachspielen: die Arbeiter_innen spielen die Ereignisse und Situationen, die sich in den zurückliegenden Monaten in der Fabrik zugetragen haben, vor der Film-Kamera nach. Ich beziehe mich an dieser Stelle auf Jacques Rancières Definition von Emanzipation als Ent-Identifizierung24, die stattfindet, wenn sich die Arbeiter_innen von der klassischen Rollenzuschreibung als Fabrikarbeiter lösen. Bei „Numax presenta…“ ereignet sich dies zum einen auf der Darstellungsebene, da die Arbeiter_innen zu Schauspieler_innen bzw. Kommentator_innen ihrer eigenen Geschichte werden und zum anderen in der sozialen Wirklichkeit, in der sie damit beginnen die Fabrik selbstzuverwalten. Biomacht, von einer Macht, die das Leben selbst betrifft Den Begriff der Biopolitik, der im Allgemeinen in engem Bezug zu postfordistischen Theorien gestellt wird, verbinde ich mit einem Filmbeispiel, dass sich auf die Strategien der Repräsentation von Erinnerung verlegt. Es handelt sich 21 Vgl. Santiago López Petit: Más allá de la crítica de la vida cotidiana, in: Espai en blanc (Hg.): Vida y politica, Barcelona: Bellaterra 2006, URL: http://www.espaienblanc.net/Mas-alla-de-lacritica-de-la-vida.html (20.06.2013). 22 Vgl. Maria Muhle: Aesthetic realism and subjectivation. From Chris Marker to the Medvedkin Groups, in: Appareil. Revue Appareil 4/2009, URL: http://revues.mshparisnord.org/appareil/index.php?id=920 (02.07.2013). 23 Joaquim Jordá: Numax presenta... , [DVD], Spanien: Asamblea de Trabajadores de Numax 1979. 24 Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Aus dem Französischen von Richard Steurer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 48. 13 um den argentinischen Film „Los Rubios“25 von Albertina Carri. Die Protagonistin des Filmes ist die Filmemacherin selbst. Sie versucht sich ein Bild von ihren, in der argentinischen Militärdiktatur verschwundenen Eltern zu machen. Mit dem Film wendet sie sich von einer allgemeinen Erinnerungsform an die Verschwundenen in Argentinien ab und erfindet mit dem Filmteam eine eigene. Ich habe unterschiedliche künstlerische Verfahren in „Los Rubios“ analisiert, in denen das Unbehagen der Filmemacherin deutlich hervortritt. Hier sei nur der von Carri verwendete sogenannte „reflexive Modus“26 skizziert: Carri versammelt sich zusammen mit dem Filmteam und der Schauspielerin, die Carri nachspielt und diskutiert mit ihnen über die Gründe, warum das Filminstitut die Förderung des Films abgelehnt hat. Sie sind nämlich nicht bereit, ein ausschliesslich positives Bild der militanten linken Eltergeneration nachzuzeichnen, sondern konzentrieren sich vielmehr auf das Werden von Carri und der Abwesenheit ihrer Eltern. Der Schwerpunkt in „Los Rubios“ liegt auf der persönlichen Erinnerung an die Eltern und nicht auf der Frage wie sie wirklich waren. Das Filmbeispiel von Carri führt zu der Frage nach dem Verhältnis von Einzelund Kollektivgeschichte. Welche Intentionen werden mit einer spezifischen Einzelgeschichte verfolgt und welche durch das Schaffen einer gemeinsamen Geschichte, in der die Einzelgeschichten zurücktreten? Die Antwort skizziere ich mit dem Vergleich des Films von Albertina Carri und der argentinischen sozialen Bewegung H.I.J.O.S. mit ihren Aktionen „Si no hay justicia, hay escraches“.27 Im vorletzten Abschnitt des letzten Teils kehre ich zurück zu einem tendenziell europäischen Diskurs, nämlich dem der sozialen Prekarität. Mit den „umherschweifenden Produzent_innen“28 formuliere ich eine Metapher für die selbständigen oder freischaffenden Arbeitnehmer_innen, die sich so gerade mal durchs Leben schlängeln und vereinzelt in ihren Wohnungen, Studios oder Büros über der Tastatur ihrer PCs sitzen: Sie stehen der klassischen Arbeiter_innenbewegung und ihrer kollektiven Organisation, als in die Welt zersprengte Arbeitssubjekte gegenüber. Hat es in der Kunst schon Bewegungen gegeben, die die Tendenz zur immatriellen Produktion auswiesen? Hierzu ein zusammenfassender Abschnitt zu der Konzeptkunst und den Situationist_innen mit der Kapitelüberschrift: „ Zu dem Verhältnis von der Ent-Materialisierung in der Kunst und der immateriellen Arbeit“. Ergänzend zu diesem Abschnitt werden die Filmbeispiele „Echt-Zeit“29 von Maria Ruido und das Projekt Precarias a la Deriva aus Madrid vorgestellt, die sich mit ganz unterschiedlichen autobiografischen Methoden, forschend mit der Prekarietät als Unbehagen in ihrem Lebens- und Arbeitsalltag auseinandersetzen. 25 26 Albertina Carri: Los Rubios, [DVD], Argentinien: Apparatus Productions 2003. Vgl. Bill Nichols: Representing Reality: Issues and Concepts in Documentary, Indiana: Indiana University Press1992, S. 61. 27 Veronica Gago: Cartografía del saber popular, in: Página 12, 02/10/2009, URL: http://www.pagina12.com.ar/diario/suplementos/las12/13-5217-2009-10-06.html (12.09.2013). 28 Die Bezeichnung „Umherschweifende Produzenten“ ist dem folgend genannten Buchtitel entlehnt: Antonio Negri/Maurizio Lazzarato/Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Mannheim: Id 1998. 29 María Ruido: Tiempo Real, Spanien: Fundació La Caixa 2003. 14 In dem letzten Abschnitt des zweiten Teils geht es um die Ökonomisierung des Sozialen und der Kommunikation. Mit verschiedenen Beispielen zeige ich, wie beides als Wertfaktoren in die neoliberale Marktwirtschaft des kognitiven Kapitalismus30 eingegangen sind und welche Widerstände erfunden werden, um sich gegen diese Logik zu stellen. Im Rahmen dieser Arbeit analysiere ich Blogs als digitale Logbücher und das Online-Unternehmen Facebook, das in seiner Vorreiterrolle als gegenwärtiges marktführendes Socialmedia Enterprise in der digitalen Wirtschaft maßgeblich an der Formung von Konsument_innen und Produzent_innenverhalten beteiligt ist. Paradoxerweise, dies erläutere ich kurz, wird Facebook aber auch teilweise als alternativer Medienkanal verwendet, indem Benutzer_innen in ihrer FacebookTimeline von Ereignissen und Krisensituationen berichten, die von anderen Kommunikationsmedien ignoriert oder aus politischen Gründen ausgesparrt wurden. Abschliessend zeige ich mit dem Beispiel von der Werbekampagne und Webseite „www.estosoloarreglamosentretodos.org“ wie selbst die Krise als Marktingstrategie von multinationalen Konzernen genutzt wurde, um das Vertrauen von Konsument_innen zu gewinnen. Teil lll Krise. Neue kollektive Selbst-Repräsentationen? Der dritte und letzte Teil dieser Arbeit ist in drei Abschnitte eingeteilt und bezieht sich auf die These, dass künstlerische und sozial-kommunikative Formen von Selbst-Repräsentation und mit ihnen autobiografische Vorgehensweisen, die unmittelbar das Persönliche betreffen (Lebenslage, Arbeitsbedingungen, Körper, Geschlecht, etc.) in der gegenwärtigen Krise erneut an Bedeutung gewinnen, um die vielen fragmentarisierten, individualisierten, privatisierten Unbehagen in eine Praxis der gemeinschaftlichen Veränderung zu verwandeln. Mit der Überschrift „Repräsentation und Krise: Verschuldete Körper“ skizziere ich eines der sozialen Unbehagen der momentanen Wirtschaftskrise: die Verschuldung. Die Vergabe von Krediten und deren Kehrseite, nämlich die Verschuldung der Kreditnehmer_innen wird, davon gehe ich in dieser Arbeit aus, als wirkungsvolles Machtinstrument neoliberaler Politik eingesetzt, dass die Betroffenen bei Rückzahlungsunfähigkeit in einen Zustand der sozialen Isolation und Ausschliessung drängt. Anhand verschiedener Beispiele wird der Frage nach der Sichtbarmachung und der Politisierung von Verschuldung, die oftmals als ein selbst-an-der-Situation-schuld-sein im Privaten gelebt wird, nachgegangen.31 30 Yann Moulier-Boutang: Marx in Kalifornien: Der dritte Kapitalismus und die alte politische Ökonomie, in: BpB. Bundeszentrale für politische Bildung 5/2002, URL: http://www.bpb.de/apuz/25813/marx-in-kalifornien-der-dritte-kapitalismus-und-die-altepolitische-oekonomie?p=all (02.07.2013). 31 Im Spanischen, als auch im Englischen gibt es für diese beiden unterschiedlichen Formen der Schuld jeweils ein Wort: Schuldgefühl (span. la culpa, engl. the fault) und ökonomische Schuld (span. la deuda, engl. the debt). 15 Mit dem Rückblick auf die sozialen Proteste der letzten Jahre, wie zum Beispiel der Bewegung Recht auf Wohnraum V de Vivienda, die 13M- und 15M-Bewegung und 99% bzw. OWS (Occupy Wall Street), werden die unterschiedlichen sozialen Unbehagen, die alle Bestandteil der momentanen prekarisierten Lebensverhältnisse sind, erläutert. Mit ihnen zeige ich neue Formen der Mobilisierung und des Ausdrucks auf, die gemeinschaftlich kommunizieren, das man sich von der Politik der Regierenden des Landes nicht vertreten fühlt: No nos representan! Hier stellt sich, den letzten Teil der Arbeit einführend, die Frage nach der Verbindung zwischen sozialen Bewegungen und kollektiven Praktiken künstlerischer Selbst-Repräsentation. In einer kurzen Zusammenfassung über die russische Avantgarde anfang des 20. Jahrhunderts beziehe ich mich auf die Produktionskunst, die mit dem Zusammenspiel von Leben, Produktion und Repräsentation ein politisches Konzept formulierte, das sich vornahm, die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Sowjetunion umzuarbeiten. Die Mitglieder der Künstlergruppe LEF (Linke Front der Kunst), unter ihnen auch der Schriftsteller Sergeij Tretjakow, traten für die Verbreitung von faktographischen Arbeitsweisen ein. Ich habe zwei Aspekte der faktographischen Produktion herausgearbeitet, die für das folgende Beispiel der Gruppe Enmedio relevant sind: 1.) Fakten werden als Konstruktion von Realität verstanden, insofern als etwas Produziertes, und stehen dem Verständnis von Repräsentation in dieser Arbeit nahe 2.) Fakten, das heisst Bilder, Filme und Texte werden in offenen Prozessen fabriziert. Ihre Produktion wird als kollektive Operation mit Spezialist_innen und Nicht-Spezialist_innen verstanden. Anstatt, so wie die Produktionskunst direkt in der Montagehalle der Fabrik zu intervenieren, geht es um die Fabrikation von Bedeutung. Als weiteres Beispiel von künstlerischen Praktiken der kollektiven SelbstRepräsentation gehe ich kurz auf die Strategien von u.a. feministischen Künstler_innen, die mit Namen und Masken experimentieren, ein. Hier geht es um das Spiel mit Uneindeutigkeit bzw. Offenheit einerseits und Identität bzw. Festschreibung andererseits. Auf diese Weise werden Räume für kollektive als auch individuelle Geschichten gebildet. Das Operieren mit Namen und Anonymität skizziert die Antwort auf die Frage nach dem GemeinsamÖffentlich-Werden von Unbehagen, das zuvor als individuelle, sich von den anderen abgrenzende Erfahrung erlebt wurde: Wie können wir nach gemeinsamen Namen suchen und gleichzeitig unsere Verschiedenheiten anerkennen? Zum Abschluss dieser Arbeit stelle ich zwei Interventionen des spanischen Kollektivs Enmedio vor, dessen Mitglieder sich ausgehend von der persönlichen Erfahrung der Vereinzelung und Vereinsamung am eigenen Arbeitsplatz (Schreibtisch, Atelier, Küchentisch, Büro, Agentur) 2007 in Barcelona zusammengefunden haben. Schon der Ausgangspunkt der Gruppe, das Unbehagen über die eigenen Produktionsverhältnisse als Anlass zu nehmen, gemeinsam einen Raum zu organisieren, verstehe ich als autobiografisches Vorgehen, Kritik an den vorherrschenden Arbeitsweisen zu praktizieren. In den zwei Projekten, „No somos números“ und „Sí se puede - pero no quieren“ kollaboriert die Gruppe Enmedio 16 mit der sozialen Plattform PAH (Plattform der Hypotehekengeschädigten), um gemeinsam die Politik der Verschuldung seitens der Banken und Regierenden sichtbar zu machen und eine kritische Öffentlichkeit herzustellen. Mit dem Bezug auf den französischen Philosophen Jacques Rancière werden an verschiedenen Stellen Widersprüche aufgezeigt und Fragen gestellt, die sich explizit auf den Aspekt der Ästhetik und das Politisch-Werden der Kunst beziehen. 17 2. Methode (Vorgehen) Das methodische Vorgehen dieser Arbeit basiert auf einer essayistischen Schreibweise, die - mit Hilfe von Überlegungen anderer Autor_innen aus unterschiedlichen Disziplinen, der Analyse von Texten, Filmen und den Interviews, die wir mit Filmemacher_innen, Theoretiker_innen und Aktivist_innen gemacht haben - den Fragen nachgeht, mit welchen Mitteln sich Unbehagen innerhalb von audiovisuellen Produktionen von den Betroffenen selbst repräsentieren lässt, welche Rolle künstlerische Praktiken dabei spielen und in welchem Verhältnis Selbst-Repräsentationen prekarisierter Subjekte zu gegenwärtigen offiziellen (Repräsentations-) Diskursen (bspw. des „unternehmerischen Selbst“32) stehen. Die Untersuchung fokussiert auf Arbeiten, in denen das Leben der Produzent_innen Teil der eigenen Produktion wurde, so dass Leben, Produktion und Repräsentation nicht mehr voneinander zu trennen sind. Zugleich verstehe ich das essayistische Vorgehen, das autobiografische Dokumente sich in Krisen befindender Subjekte verhandelt, als einen Versuch, die eigene (prekarisierte) Arbeitsweise im gegenwärtigen neoliberalen Arbeitsparadigma zu verorten. In ihrem Text „The Essay as conformism, some notes on global image Economies“33 stellt Hito Steyerl diesbezüglich fest, dass das Essay selbst mit seiner komplexen, oft geschichteten, fragmentierten Copy- and Paste-Manier und mit seiner subjektiven Form in gewissem Sinne auf perfekte Weise die neoliberalen Subjekte reproduziert, die es beschreibt. Steyerl fragt in dem zuvor erwähnten Text, ob die essayistische Form, auch wenn sie jene Produktionsverhältnisse widerspiegelt, deren Inhalt sie kritisiert, trotzdem Verbindungen („visual bonds“)34 herstellen kann, die als Kritik am postfordistischen Arbeitsparadigma verstanden werden können und die für alternative Realitätskonstruktionen und Interventionspraktiken nicht nur auf symbolischer Ebene, sondern auch auf praktischer Ebene interessant sind. Die vorliegende Arbeit basiert auf der von Steyerl beschriebenen „Manier“ und versucht, durch verschiedene Linien Koordinaten zu verbinden, die  nicht gegeben   sind, sondern erst durch diese subjektiven Verbindungslinien als Beziehungsgeflecht hervortreten. „Vergegenwärtigen wir uns, dass in der Vergangenheit methodologisch immer von einer gewissen Dualität ausgegangen wurde, von einer distanzierenden Trennung zwischen einem ‚äußerlichen´ Standpunkt des Beobachters und dem beobachteten Gegenstand. Heute scheint es hingegen, als gebe es kein Außen mehr […]. Wenn es kein Außen mehr gibt, so erwächst daraus 32 Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 33 Hito Steyerl: The Essay as conformism, some notes on global image Economies, in: Sven Kramer/Thomas Tode (Hg.): Der Essayfilm: Ästhetik und Aktualität, Konstanz: UVK 2011, S. 101111. 34 Hito Steyerl: In Defense of the Poor Image, in: E-flux. Online Art Journal, 01/2009, URL: http://www.e-flux.com/journal/in-defense-of-the-poor-image/ (24.01.2013). Steyerl bezieht sich auf den Begriff visual bonds von dem russischen Filmemacher Vertov. Vgl. Dziga Vertov: Kinopravda and Radiopravda, in: Annette Michelson (Hg.): Kino-Eye: The Writings of Dziga Vertov, Berkeley: University of California Press 1995, S. 52-56, S. 52. 18 eine gewisse Schwierigkeit, sich mit der Materie, mit dem Gegenstand, den es zu bestimmen gilt, auseinanderzusetzen. Das ‚Eingelassensein´ sprengt die Vorstellung allgemeingültiger methodologischer Prinzipien, Prinzipien, die darauf bauen, sich von außen her einem Gegenstand nähern zu können und aus seiner objektiven Gegebenheit die Darstellung entspringen zu lassen, aus einer Objektivität, die die historischen Verhältnisse determiniert, sie fixiert und ihnen Sinn verleiht.“35 „ […] die feministische Epistemologie [entwirft] die Idee eines in eine konkrete soziale Struktur eingewachsenen oder eingerückten Erkenntnissubjekts (folglich eines sexualisierten, rassisierten etc. Subjekts), das – nicht weniger objektive – situierte Wissen produziert. Ganz im Gegenteil verspricht, wie Donna Haraway schreibt, `[nur] eine partiale Perspektive […] einen objektiven Blick´, und diese partiale Perspektive verlangt eine Politik der Lokalisierung und der verwobenen Verwicklung an einem spezifischen Ort, von dem aus gesprochen, gehandelt und untersucht wird.“36 In den beiden Zitaten von ganz unterschiedlichen Autor_innen geht es um ein forschendes Subjekt, das sich nicht außerhalb des Forschungsgegenstandes befindet. Negri spricht von einem „Eingelassen-Sein“, beziehungsweise von der Untrennbarkeit der Forschenden und der zu erforschenden Objekte und Malo de Molina von einem „Eingewachsen-Sein“ in die sozialen Strukturen die erforscht werden. In diesem Sinne versucht diese Arbeit gar nicht erst einen objektiven Standpunkt zu konstruieren. Dieser Text könnte, einmal beendet, erneut beginnen, da die auftauchenden Fragen und versuchten Antworten erneut Fragen generieren; sie spannen (Glas-) Fasern zwischen hier und dort, dem Vergangenen und dem Kommenden, und ihre Autorin windet sich gewissermaßen in räumlich-zeitlichen Verstrickungen. Hito Steyerls bereits erwähnte „visual bonds“ innerhalb der essayistischen Form werden auf diese Weise als mögliche Verbindungslinien von Projekten verstanden, die sich der Selbst-Repräsentation von sozialem Unbehagen widmen, jenem Phänomen, das in der postfordistischen Netzwerkgesellschaft als persönliches Problem privatisiert wurde und oft als selbstverschuldetes individuelles Unglück wahrgenommen wird. Interviews, die im Rahmen des Projektes Kronotop.org37 (siehe Beschreibung des Projektes im Anhang) entstanden sind, dienten der Textarbeit als Quelle und Diskussionsgrundlage, ebenso die Teilnahme an Versammlungen und Aktivitäten des Arbeits-Kollektivs Enmedio. 35 Antonio Negri: Zur gesellschaftlichen Ontologie. Materielle Arbeit, immaterielle Arbeit und Biopolitik, in: Marianne Pieper/Thomas Atzert/Serhat Karakayali/Vassilis Tsianos (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt a. M./New York: Campus 2007, S. 17-31, S. 18. 36 Marta Malo de Molina: Teil 1: ArbeiterInnenbefragung und ArbeiterInnen-Mituntersuchung, Selbsterfahrung, in: EIPCP, 04/2004, URL: http://eipcp.net/transversal/0406/malo/de/print (24.01.2013). 37 Vgl. Anhang: Kronotop.org: Kurzbeschreibung von dem Projekt, S. 264. 19 ERSTER TEIL: DAS PERSÖNLICHE ALS TEIL DER PRODUKTION 1. Von dem Unbehagen, die eigene Produzent_innenposition betreffend Das Material für eine autobiografische Arbeit kann u.a. aus persönlichen Gegenständen, Erfahrungen und Wahrnehmungen bestehen, die die Produzent_in bearbeitet. Er/Sie nimmt sich selbst und sein/ihr Leben zum Anlass, um eine Textoder Bildproduktion zu beginnen. In der folgenden Untersuchung wird kein Ursprungspunkt von autobiografischen Arbeiten vorangestellt und ich zeichne auch keine Entstehungslinie der SelbstRepräsentation nach, die beispielsweise die Frage nach einer schriftlichen oder visuellen Tradition beantworten könnte. Vielmehr soll, ausgehend von zwei Beispielen aus der Bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts, gezeigt werden, dass Schrift und Bild unterschiedliche künstlerische Praktiken der Ich- bzw. Wir-Repräsentation bereithalten, die über Funktionen der klassischen Repräsentation hinausgehen und uns weiterführend ermöglichen, in ihnen Vorläufer von politischen Selbst-Repräsentationen und Subjektivierungsprozessen zu sehen. Vor dem Film. Mit welchen Mitteln wurden Macht-, Wissens- und Subjektbeziehungen im ausgehenden 19. Jahrhundert ausgedrückt? Und wie wird das daraus resultierende Unbehagen (die eigene Produzent_innenposition betreffend) dargestellt? „Ich halte die Sache selbst für sehr wichtig. Die Darstellung dieser Verhältnisse von [...] Mithandelnden, [...] ist absolut notwendig.“38 Karl Marx und Friedrich Engels haben schon 1876 in Bezug auf Johann Philipp Beckers Selbstdokumente „Abgerissene Bilder aus meinem Leben“39 auf die besondere politische, historische und didaktische Bedeutung und Funktion von Lebenserfahrungen in autobiografischen Dokumenten von Arbeiter_innen hingewiesen. Ich werde, bevor es im zweiten Abschnitt explizit um Arbeiter_innen geht, zuvor zwei Künstler vorstellen, die eine vielschichtige Bild- und Textproduktion von sich und ihrem Arbeitsplatz hinterlassen haben. Den historischen Rahmen für dieses Kapitel bildet die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in Europa durch Demokratisierungs- und Befreiungsbewegungen, einhergehend mit der Industrialisierung geprägt wurde. Theoretische Begleiter dieser gesellschaftlichen Veränderungen sind, hier seien nur zwei genannt, Karl 38 Karl Marx: Der Arme Konrad. Illustrierter Kalender für das arbeitende Volk, Leipzig: Genossenschaftsdruckerei 1876. Vgl. auch in: Wolfgang Emmerich: Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Bd. 2: 1914 bis 1945, Reinbeck: Rowohlt 1976, S. 437. 39 Johann Philipp Becker: Abgerissene Bilder aus meinem Leben , in: Die Neue Welt, 1876, Nr. 1720, 23, 24, 26, 28 und 29. 20 Marx grundsätzliche Kritik an der kapitalistischen Produktions- und Wirkungsweise und Sigmund Freud als Mitbegründer der psychoanalytischen Theorie und Praxis. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ändert sich allgemein gesprochen die Wahrnehmung des Subjekts. Galt es vormals als selbstbewusst, autonom und selbst handelnd, so erkennt es nun seine Unterwerfungen und Interdependenzen innerhalb der gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge bzw. Produktionsverhältnisse und versucht ihnen Ausdruck zu verleihen. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“40 Das sich erkennende Selbst, so formuliert Foucault den Paradigmenwechsel, erkennt, dass es weder von einem Gott geschaffen wurde, noch dass es sich selbst frei entwerfen kann, sondern dass es diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken unterworfen ist, die sein Subjektwerden auf diese Weise so erst ermöglichen. „Der Körper steht [...] unmittelbar im Feld des Politischen, die Machtverhältnisse umkleiden ihn, markieren ihn, zwingen ihn zu arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen.“41 1.1 Das Gemälde „Im Atelier“ von Marie Bashkirtseff Als erstes Beispiel wird hier unter dem Aspekt dieser neuen Subjekterkenntnis das Gemälde „Im Atelier“42 von Marie Bashkirtseff vorgestellt. Die Kunststudentin Bashkirtseff malte 1881 ihre eigene Arbeitssituation mit anderen Student_innen im Atelier Julian.43 Lassen sich anhand des Bildes Bashkirtseffs kritisches Interesse an den sozialen Beziehungen, die die Arbeitssituation konstituieren (Modell, Gruppe, Institution), ablesen? Das Bild selbst gibt wenig Aufschluss über Bashkirtseffs Position. Zu bedenken ist, dass das Bild von dem Direktor der Schule als eine Auftragsarbeit an die Kunststudentin vergeben wurde, um das erste Frauenatelier in Lebensgröße als ein noch nie dagewesenes Motiv zu zeigen: „A woman’s studio had never been painted.“44 40 Karl Marx/Friedrich Engels [1852]: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Bd. 8, Berlin/DDR: Dietz 1972, S.111-207, S. 115. 41 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 S. 37. 42 Maria Konstantinova Bashkirtseva: Im Atelier [1881]. Im Dnipropetrovsk State Art Museum, Ukraine. 43 Die Académie Julian war eines der ersten Kunstateliers von Paris, in denen Frauen zum Studium zugelassen waren. Die offizielle Kunstakademie, die Ecole de Beaux Arts, erlaubte bis 1897 Frauen keinen Zutritt zum Kunststudium. 44 Marie Bashkirtseff: The Journal of Marie Bashkirtseff [1891], Rozsika Parker/Griselda Pollock (Hg.), London: Virago Press 2000, S. 444. 21 Die Studentin Beaury-Saurel sollte die gleiche Szene aus einem anderen Blickwinkel malen. Der Direktor schürte mit solchen Vorgehen die Konkurrenz unter den Studentinnen, um sie für den Wettbewerb, die exklusive Auslese ihrer Arbeiten für die Salons, vorzubereiten. Mit der Unterschrift unter dem Arbeitsauftrag sicherte er sich beide Arbeiten als sein Eigentum, wie Bashkirtseff in ihrem Tagebuch, dem „Journal of Marie Bashkirtseff“45 schreibt, in dem sie an mehreren Stellen den Alltag in den Ateliers kommentiert. „These gentlemen despise us and it is only when they come across a powerful, even brutal piece of work, that they are satisfied, this vice is very rare among women. It is the work of a young man, they said of mine.“46 Lu Märten schreibt 1914 in ihrem Text „Die Künstlerin“: „Was aber vor allem noch ganz und gar fehlt, ist die selbstverständliche gesellschaftliche Anerkennung der Frau als geistig oder schöpferisch tätige Energie [...].“47 und weiter: „ [...] alle Probleme der heutigen Frau als Künstlerin und Arbeiterin sind gesellschaftliche Probleme, darum erfordern sie allein gesellschaftliche Lösungen – alles andere von ‚Natur‘ und ‚Bestimmung‘ usw. ist Wortgeschwätz.“48 Marie Bashkirtseffs Empörung, als kunstproduzierende Frau nicht wahrgenommen zu werden, richtet sich vor allen Dingen gegen die ihr auferlegte Rolle als Dame. Dies lässt sich an ihren schriftlich niedergelegten Zweifeln ablesen, die Griselda Pollock und Roszika Parker in dem Vorwort des Journals kommentieren: Bashkirtseffs Text sei durch den Druck von Außen und die sozialen Einschränkungen geformt.49 „Indeed the woman who is writing and her whom I describe, are really two persons. What are all her troubles to me? I tabulate, analyse and copy the daily life of my person, but to myself, all that is very indifferent. It is my pride, myself love, my interests my envelop, my eyes, which suffer, weep rejoice, but myself I am there only to watch, to write, to relate and to reason calmy about these great miseries [...].“50 Das Textfragment spricht von einer empfundenen Zweitteilung ihrer Person und der Schwierigkeit einen eigenen Ausdruck innerhalb des bereits (männlich) etablierten Repräsentations- bzw. Zuschreibungssystems zu finden. Die französische feministische Theoretikerin Monique Wittig beschreibt treffend die Problematik von einem Selbst, das sich selbst fremd ist und das zur Sprache kommen will, um sich den vorherrschenden Bedeutungszuschreibungen zu 45 46 Ebd. Ebd., S. 350. 47 Lu Märten: Die Künstlerin. Eine Monographie, Bielefeld: Aisthesis 2001, S.25. 48 Ebd., S.106. 49 Vgl. Griselda Pollock/Roszika Parker, in: Marie Bashkirtseff: The Journal of Marie Bashkirtseff [1891], Zitat: „The text is shaped by the pressure of the outside, the constraints of the social.“ o. S. 50 Ebd., S. 129. 22 widersetzen. „The I who writes is alien to her own writing at every word because this I (je) uses a language alien to her, [...] J/e poses the ideological and historic question of feminine subjects. If I ( j/e) examine m/y specific situation as subject in language, I (j/e) am physically incapable of writing I (je) [...] .“51 Nicht im Bild, sondern erst das Lesen von Bashkirtseffs Texten, der Beschreibungen über die Arbeitssituation in den Ateliers, verdeutlichen die Umstände, in denen die Künstlerin produzierte, die Diskriminierungen in der Schule, die permanente Kleinhaltung der Künstlerinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen und ihr Wunsch nach Anerkennung, Stellung und Beteiligung an Ausstellungen. Ihre Kritik über die ungleichen Behandlungen und den Ausschluss von Künstlerinnen aus der öffentlichen Kunstsphäre publizierte Bashkirtseff auch unter dem Pseudonym Pauline Orell in der Zeitung „La Citoyenne“. Sie suchte den Kontakt zu der Feministin Hubertine Auclerts, die die Gründerin der Société de droit des femmes war. Bashkirtseff spricht in ihren Texten deutlich von ihrem Unbehagen, als ein gesellschaftlich bestimmtes Konstrukt von Frau und Künstlerin adressiert zu werden, das weniger Wert ist als ihre männlichen Kollegen. Sie handelt und schreibt eigenwillig und egozentrisch, was zu jener Zeit in der Gesellschaft inakzeptabel war für das Rollenverständnis von Frauen. So muss ihr individualistischer und egoistischer Selbstbezug auch in eben diesem Kontext gelesen werden, in dem Frauen als für die Familie selbstaufopfernde, den Haushalt koordinierende und auf den richtigen Ehemann wartende Persönlichkeiten anerkannt waren. Pollock und Parker beschreiben Bashkirtseffs kommentierende Stimme im Text als einen Ort der kritischen Reflexion und geben ihm eine politische Bedeutung. Sie verweisen auf die Frauenbewegung, in der das Erzählen von eigenen Lebenserfahrungen und Geschichten als eine Praktik eingesetzt wurde, um Erfahrungen in einen größeren, politischen Kontext zu setzen. Die beiden Autorinnen bestätigen, das Bashkirtseffs Tagebuch, als autobiografisches Dokument in zahlreichen feministischen Publikationen Erwähnung gefunden hat und seitens der Psychoanalyse als wichtiges Zeugnis, das Aufschluss über den psychischen Zustand seiner Autorin gibt, anerkannt wurde. Die Psychoanalytikerin Janine Chasseguet-Smirgel würde bspw. die narzisstische Schreibweise und Selbstgefälligkeit Bashkirtseffs auf die Abwesenheit ihres Vaters zurückführen: Die erlittenen geringschätzigen Verurteilungen und Diskriminierungen seitens der Gesellschaft, auf die Bashkirtseff in ihrem Tagebuch reagierte, würden darauf hinweisen, das ihre Familie ohne männliches Oberhaupt insgesamt keine Aktzeptanz erfuhr.52 Ist ihr eigenwilliges Verhalten insofern nur als Reaktion auf den fehlenden Vater zu 51 52 Monique Wittig [1975]: The Lesbian Body, Boston: Beacon Press 1985, S. 10. Vgl. S. Griselda Pollock/Roszika Parker, in: The Journal of Marie Bashkirtseff [1891]: „The text is shaped by the pressure of the outside, the constraints of the social.“ S. xviii. 23 verstehen und nicht als selbständiger Gegenentwurf zu der sich selbstaufopfernden Rolle der Frau jener Zeit? Die Tatsache, dass es sich bei dem Gemälde der Arbeitssituation nur um eine Auftragsarbeit handelt, wirft die Frage auf, ob die Suche nach einem aus sich selbst sprechenden, schreibenden, malenden widerständigen Subjekt falsch formuliert ist: Ob nicht gerade aus den unterschiedlichen und fragmentarischen Selbstdokumenten der Künstlerin, aus dem Gemälde „Im Atelier“ und anhand ihrer Texte deutlich wird, in welchen unterschiedlichen Macht- und Wissensdiskursen sie sich in ihrer Zeit bewegte und ausdrückte. Michel Foucault betont den Einfluss von Machtstrukturen auf das Wissen und auf die Sprache: Das Selbst wird als kulturelles Artefakt aufgefasst, das im Zusammenspiel spezifischer diskursiver Praktiken, gesellschaftlicher Institutionen und Machtmechanismen hervorgebracht wird. In diesem Zusammenhang interpretiert Manfred Schneider autobiografische Arbeiten des 16. bis 20. Jahrhunderts als „Kopien von Vorschriften, die Innerlichkeiten [...] produzierten“.53 Ich könnte mir Bashkirtseffs Bild „Im Atelier“ und ihre Texte des Journals zusammenmontiert als eine kleine filmische Animation vorstellen, in der das Bild durch die kommentierende, subjektive Stimme der Frau ergänzt wird, die erzählt, was in dem Bild nicht direkt sichtbar ist, aber als Textform in dem Journal vorliegt, das von ihren Erfahrungen und Beobachtungen der Frauendiskriminierung am Produktionsort zeugt, um auf die Weise Benjamins Frage Wie steht ein Werk in den Produktionsverhältnissen seiner Epoche?54 nachzugehen. 1.1.1 „Das Atelier des Künstlers.“ von Gustave Courbet In dem zweiten Beispiel, das hier kurz vorgestellt wird, verwendet der Künstler im Unterschied zu Bashkirtseff allegorische Mittel der Darstellung um seine Arbeitssituation wiederzugeben. Bashkirtseff stellte ihre Situation im Frauenatelier möglichst wirklichkeitsnah dar und ergänzte das Gemälde mit detailliert beschriebenen Empfindungen und Wahrnehmungen. In „Das Atelier des Künstlers. Eine wirkliche Allegorie einer siebenjährigen Phase in meinem künstlerischen (und moralischen) Leben“ (1855) von Gustave Courbet55 malte der Künstler seinen Arbeitsraum in dem ihm mehrere Personen beim Entstehen eines Bildes assistieren. 53 Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiografische Text im 20. Jahrhundert, München/Wien: Hanser 1986, S. 13. 54 „Also ehe ich frage: wie steht eine Dichtung zu den Produktionsverhaltnissen der Epoche? möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen?,“ Zitat aus Walter Benjamin: Vorträge und Reden, in: Gesammelte Schriften, Bd. II . 2: Aufsätze – Essays – Vorträge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 683-701, S. 685. 55 Der Originaltitel des Gemäldes im Französischen: “L’Atelier du peintre. Allégorie Réelle déterminant une phase de sept années de ma vie artistique (et morale)“. Für die Entstehung des Bildes ist der Kontext der Weltausstellung als geschichtliches Ereignis von 1855 wesentlich. Durch diesen Zusammenhang lässt sich die spezifische Zusammensetzung von autobiografischen und universellen Bedeutungsschichten, die das Bild durchdringen, erklären. Courbet wurde viel Geld geboten, um an der „Exposition Universelle“, ein kulturelles Prestigeprojekt des französischen Kaisers Napoleon III., teilzunehmen. Er lehnte das Angebot jedoch ab und produzierte stattdessen „Das Atelier des Künstlers“, das mit Hilfe seines Freundes Alfred Bruyas im eigens organisierten Pavillon zeitgleich zur Weltausstellung gezeigt wurde. 24 Die Personen sind als allegorische Repräsentationen nachempfunden worden, die als Referenzen zu verschiedenen Einflüssen in Courbets Leben als Künstler gedeutet werden können. Links im Bild befinden sich Personen aus unterschiedlichen sozialen Schichten der Gesellschaft. Im Bildzentrum sitzt Courbet selbst vor einer Staffelei mit der Arbeit an einem Landschaftsbild, ihm abgewandt ein Nacktmodell. Im rechten Bildraum versammeln sich Freunde und Bekannte des Malers, Georges Sand, Charles Baudelaire, Jules Champfleury, Pierre-Joseph Proudhon, aber auch die Feinde, wie der Minister de Persigny. Im Hintergrund befindet sich auch der Anarchist Bakunin aus Russland. Das Gemälde lässt sich wie eine Art Beziehungsgeflecht lesen, in dem bestimmte literarische Einflüsse, Freundschaften, die Auseinandersetzung mit Klassenunterschieden und Traditionen sichtbar werden. Courbet malte sich selbst im Zentrum und positioniert sich gewissermaßen als Hervorbringer von Beziehungen, die außerhalb des Bildes liegen, nämlich die der Bild-Insassen: er bündelt die Verbindungen. An dem Beispiel der zentralen Künstlerfigur interessiert weniger die Tatsache, dass er damit die klassische Figur des männlichen Künstlergenies oder des Visionärs reproduziert, als vielmehr die Methode des Verknüpfens von verschiedenen Bezugspunkten (Personen und Ereignissen) aus seinem Leben. Wir könnten das Bild wie einen Text lesen, der aus dem künstlerischen und politischen Leben Courbets erzählt. Die teils etwas karikaturhaften Überzeichnungen der Personen könnten sogar den Ton der Erzählung, die Tendenz, die Einstellung Courbets zu den unterschiedlichen Figuren hervorheben. Beispielsweise kann die abgewandte Haltung, die er in dem Bild zu dem Aktmodell einnimmt als eine Kritik an der akademischen Kunsttradition, in der das Aktzeichnen die Basis der künstlerischen Ausbildung war, gedeutet werden. Das Bild weist trotz des politischen Engagements des Künstlers tendenziell rassistische und antisemitische Repräsentationsmodi auf, die an dieser Stelle aber nicht weiter ausgeführt werden.56 Die beiden Künstler_innen geben uns durch die Anwendung unterschiedlicher Praktiken und Methoden, Hinweise auf die sozialen Verhältnisse, in denen ihre Bildarbeiten entstanden sind. Sie artikulieren Unbehagen hinsichtlich bestimmter Bedingungen der Kunstproduktion: Bashkirtseff äußert sich zu Frauendiskriminierung und Courbet kritisiert die staatlichen Produktions- und Distributionsdogmen. 56 „The ‚Negress‘ that has been effaced was originally gazing at herself `coquettishly´ in the mirror while her lover read, and the circus clown wears a mocking Chinese mask and costume. But it is especially the image of the Jew, hugging tightly his jewel box (a familiar trope in the literature) and muttering to himself that he has the best of it, who betrays Courbet's social and ethnic prejudices.“ Zitat Albert Boime, in: Art in an Age of Civil Struggle, 1848-1871, Volumen 4, Chicago: University Of Chicago Press 2008, S. 215. Ebenso benennt Boime Courbets antisemitische Haltung: „Courbet was close to a number of antiJewisch leftis, including his friends Toussenel (whom he knew from the Brasserie Laveur) and the poet Pierre Dupont, who wrote a particular nasty piece about Jewisch usury. In addition, he clearly shared the virulent anti-semitism of his compatriots from the Department of the Doubts, Proudhorn and Fourier, who decisively contributed to the development of an anti-Jewish ideology in France.“ Ebd., S. 219. 25 Die Umsetzung von Selbst-Repräsentation, die via Bild (Malerei), Text, Sprache und politischer Selbstvertretung,57 in den Beispielen (Bashkirtseff, Courbet) ausschnitthaft angedeutet sind, werden in der Auseinandersetzung mit autobiografischem Film vertieft. Ich hielt es jedoch für notwendig, vor dem Film anzufangen, um überhaupt die unterschiedlichen Dimensionen von SelbstRepräsentation und Gesellschaftskritik einleitend anzusprechen und mit autobiografischen Fragmenten in Beziehung zu setzen. Es lässt sich bereits andeuten, dass die zu Wort kommenden Ichs (Bashkirtseff, Courbet) eine Vielzahl von Personen vertreten (Frauen und Künstlerinnen bei Bashkirtseff), (Künstler, Communarden und Sozialisten bei Courbet). 1.1.2 Zu der privilegierten Stellung der beiden Künstler_innen Marie Bashkirtseff, die 1859 als Tochter eines russischen Großgrundbesitzers in der Ukraine geboren wurde, und Gustave Courbet, der Sohn eines gut situierten Grundbesitzers war, kamen beide aus sichtlich wohlhabenden Familien und gehörten zum sogenannten Großbürgertum. Entgegen dieser privilegierten Perspektive wird es im nächsten Abschnitt um eine andere Ausgangsposition gehen: es dreht sich um Produzent_innen, die aufgrund ihrer sozialen Lage grundsätzlich erst einmal keinen Zugang zu Universitäten oder privilegierten Orten hatten und mit der Beschreibung der Verhältnisse, in denen sie lebten, also auch via Text, eine Möglichkeit entdeckten, über soziales Unbehagen zu berichten. Das folgende Zitat des Arbeiters Bruno H. Bürgel von 1894 umschreibt die Situation der Klassenunterschiede und die Ausgrenzungen der Arbeiter_innen. „Hinter den feinen Gardinen erstklassiger Weinrestaurants sah man schmausende Leute in heiterer Stimmung sitzen, und unsereiner kämpfte Monat um Monat um eine Arbeit und kroch jeden Abend müde und hoffnungslos in seine Höhle zurück. Mitunter erfasste mich eine ganz verzweifelte Stimmung. Ich sah schon am Äußeren, am Gebaren, dass es sich da und dort bei den vornehmen, schmausenden Nichtstuern und Verschwendern um Menschen handelte, die nicht viel im Kopf hatten und mit einem Vogelhirn durch die für sie bequeme Welt flatterten. Da sprang mir der Gedanke auf, an ihre Tafel zu treten und zu sprechen von den Gefühlen, die mich bewegten, zu reden von [...] Menschen, von Rechten und von Gerechtigkeit, und sie hinauszuweisen aus den Luxusräumen von der reichen Tafel. [...] In solcher Stimmung wurden junge temperamentvolle Menschen, besonders wenn sie durch Beschäftigung mit geistigen Dingen ein richtiges Gefühl für ihre Lage in der Gesellschaft erlangt haben, leicht zu Anarchisten oder -immer tiefer sinkend- zu Verbrechern.“58 57 Zwanzig Jahre nach der Entstehung des Bildes spielt Courbet in der Position des Ministers für öffentliche Bildung eine wichtige Rolle als politischer Vertreter der Pariser Künstler_innen zur Zeit der Pariser Kommune. 58 Bruno H. Bürgel zitiert nach Wolfgang Emmerich: Bruno H. Bürgel, Vom Arbeiter zum Astronomen. Der Aufstieg eines Lebenskämpfers (1894/95), in: Wolfgang Emmerich (Hg.): 26 Dass der Impuls des Arbeiters Bruno H. Bürgels um 1894 nicht etwa Geschichte ist, zeigt eine Aktion von 2005: Am 1. Mai plünderten 40 Aktivist_innen das Frühstücksbüffet eines Nobelrestaurants auf dem Süllberg in Hamburg. Sie trugen Masken und T-Shirts mit der Aufschrift „Die fetten Jahre sind vorbei“.59 „Mit überdimensionalen Messern und Gabeln taten sie sich an Lachs, tropischen Früchten und anderen Leckereien gütlich. Was nicht gegessen werden konnte, verschwand in Tüten mit der Aufschrift `Fünf Sterne to go´. Andere verteilten Flugblätter und Blumen an die Angestellten, die alle ihre Sympathie für die Aktion zeigten. [...] Mit der Aktion wollten die AktivistInnen auf die ungerechte Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum hinweisen. Während andere sich für 30 Euro ein Frühstück leisten können, seien sie nicht mehr bereit, sich mit immer niedrigeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen abzufinden. Besonders brisant: Das Restaurant Süllberg ist bekannt für seine schlechten Arbeitsbedingungen, unbezahlte Überstunden und Arbeitstage von 12 bis 16 Stunden.“60 Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. 2. Bd., Hamburg: Rowohlt 1974/75, S. 365-369, S. 367. 59 Hans Weingartner: Die Fetten Jahre sind vorbei, Deutschland/Österreich: Delphi Filmverleih 2004 Der Film Die fetten Jahre sind vorbei, auf den sich die interventionistische Aktion in Hamburg bezog, war 2004 der Versuch des Filmemachers Hans Weingartner, die Antiglobalisierungsbewegung für Kinozuschauer_innen erlebbar zu machen. 60 O. A.: Hamburg, 1. Mai: Die fetten Jahre sind vorbei, in: Indymedia. Plattform für unabhängige Berichterstattung, 03/05/2005, URL: http://de.indymedia.org/2005/05/114471.shtml (24.01.2013). 27 1.2 Zauberberg und Hustenburg: Die bürgerliche und proletarische Selbstbeschreibung „Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst. Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab. Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion.“61 Karl Marx` Zitat bezieht sich auf die theoretische dialektische Polarisierung von zwei unterschiedlichen Ausgangslagen, in denen Selbstdokumente angefertigt wurden: die des Kapitalisten und die des Arbeiters. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde das hegelsche Vorgehen der dialektischen Totalisierung von dem französischen Kriminologen, Soziologen und Sozialpsychologen Gabriel Tarde kritisiert. Tarde appellierte, um die Polarisierung aufzubrechen, an eine Betonung der Vielfalt. „Der Kapitalismus wäre [...] kein Kammerspiel mit nur zwei Akteuren - Kapital und Arbeit - sondern besteht aus einer Vielzahl `sozialer Dramen´. Die Dynamik rührt nicht von der titanischen, außer - und überirdischen Potenz der Dialektik, sondern geht zurück [...] auf `unendlich vielfältige, verschwindend kleine, intrinsische Kräfte´.“62 Mit einer (de-) konstruktivistischen Lesart von bürgerlichen Autobiografien und proletarischen Selbstbeschreibungen wird eine entpolarisierende Perspektive eingenommen. „Weder die Dialektik (als Logik des Widerspruches) noch die 61 Karl Marx/Friedrich Engels [1845/1847]: Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Bd. 3, Berlin: Dietz 1978, S. 5 - 530, S. 21. 62 Gabriel Tarde zitiert nach Mauricio Lazzarato: Leben und Lebendiges in der Kontrollgesellschaft, in: Marianne Pieper/Thomas Atzert/Serhat Karakayali/Vassilis Tsianos (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Frankfurt: Campus 2008, S. 253-268, S. 254 28 Semiotik (als Kommunikationsstruktur) könnten klären, was die wirkliche Intelligibilität der Konfrontationen ist. Die `Dialektik´ ist ein Modus, die stets ungewisse und offene Realität dieser Konfrontationen zu umgehen, indem sie sie auf das hegelianische Modell verlagert, die `Semiologie´ ist ein Modus, ihren gewaltsamen, blutigen, tödlichen Charakter zu umgehen, indem sie sie in die befriedete, platonische Form der Sprache und dessen Dialog preßt.“63 Ich halte jedoch Bernd Neumanns illustrierende Darstellung64 der zwei sehr unterschiedlichen sozialen Ausgangslagen, für die ich den Zauberberg und die Hustenburg als Topos einsetze, für sehr hilfreich um die Position von Schriftexpert_innen und Fabrikarbeiter_innen herauszuarbeiten. Der Fokus ist hierbei auf die Lage der Arbeiter_innen gelegt. Repräsentation hat u.a. die Funktion, etwas Abwesendes anwesend zu machen. Das Interesse der Autobiografie begründet sich in dieser Arbeit damit, dass wir sie als ein mögliches Medium der biografischen und öffentlichkeits-orientierten SelbstRepräsentation verstehen, die besonders vor dem Hintergrund ihrer sozialkommunikativen Funktion an gemeinschaftlicher Bedeutung gewinnen kann. Autobiografische Praxis ist als Selbst-Repräsentation eine kommunikative Handlung, in der die Produzent_innen ihre soziale Ausgangslage beschreiben und im besten Fall umarbeiten, so dass sie als Intervention in die Lebensverhältnisse zu operieren vermag. Der Zauberberg liegt in den schweizer Alpen von Davos; dazu im Vergleich liegt die Hustenburg von Berka in der Nähe von Weimar im Flachland. Wie Neuman feststellt, verhalten sich Zauberberg und Hustenburg nicht nur sprachlich und geographisch, sondern auch gesellschaftlich „wie oben und unten“65. Dazu gehört auch, dass innerhalb der europäischen literarischen Forschung der Autobiografie Selbstdokumente von Arbeiter_innen so gut wie keine Beachtung fanden. Es stehen sich im Folgenden der bürgerliche Literat Thomas Mann und der sozialistische Metallarbeiter Theodor Moritz Bromme gegenüber. Moritz Bromme schrieb 1903, an Tuberkulose erkrankt, seine Autobiografie in der Weimarer Lungenheilanstalt Sophienstätte66 in der Nähe von Berka, die auch Hustenburg genannt wurde und ein Verschickungslager für kranke Arbeiter_innen war. Der Schriftsteller Thomas Mann wurde bei dem Besuch seiner an Tuberkulose erkrankten Frau im Schweizer Sanatorium Berghof für den Schauplatz seines Buches „Der Zauberberg“67 inspiriert. Im Vorwort des Zauberbergs betont Mann, 63 Michel Foucault: Wahrheit und Macht. Aus dem Italienischen von ElkeWehr, in: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 21-55, S. 29. 64 Bernd Neumann: Nachwort zu Brommes Lebensgeschichte, in: Moritz Th. W. Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Nachdruck der Ausgabe von 1905, Frankfurt a. M.: Athenäum 1971, S.380. 65 Vgl. Ebd., S. 380f. 66 Die Patient_innen des Genesungsheims Sophienstätte und die Einwohner_innen von Weimar nannten das Heim „Hustenburg“ und die Insassen „die Hustenburger“, 67 Thomas Mann: Der Zauberberg [1924], Frankfurt a. M.: Fischer 2008. 29 dass der Zauberberg „ [...] einen Schwanengesang auf die Epoche des noch intakten Kapitalismus darstelle, in dem sich allein die bourgeoise Oberschicht den Luxus arbeitsfreien Kranksein leisten könne“.68 Der 1924 publizierte Bildungsroman von Thomas Mann ist kein autobiografisches Selbstdokument: Der Ort, das Sanatorium in Davos, von wo aus die Geschichte ihren Anfang nahm, definiert aber sehr treffend den gesellschaftlichen Ort, von dem aus bürgerliche Schriftsteller_innen Anfang des 20. Jahrhunderts schrieben. In dem Sanatorium auf dem Zauberberg waren unterschiedliche bürgerliche Persönlichkeiten als Patienten stationiert: sie befanden sich im verschneiten Davos in einer Ausnahmesituation – während dessen rüstete sich Deutschland für den 1. Weltkrieg. Der Aufenthalt des Protagonisten Hans Castrop in dem Sanatorium auf dem Zauberberg sollte, so Bernd Neumann, der Verfeinerung und Entwicklung seiner individuellen Geisteshaltung, seines Gefühlslebens als auch der Ausbildung bürgerlicher Lebenswerte dienen. Im radikalen Gegensatz steht hierzu der Aufenthalt des Arbeiters Brommes in der Hustenburg, in der es primär um die Wiederherstellung seines geschundenen Arbeitskörpers geht. Nur wer wie Hans Castrop zu jener Zeit aus gutbürgerlicher Familie stammte konnte sich das Privileg der Persönlichkeitsausbildung leisten. Die Arbeiter in der Hustenburg konzentrierten sich darauf, die einzige Ware, die sie auf den Markt anbieten konnten, nämlich ihre Arbeitskraft, zu rekonstruieren.69 Zynisch schreibt Bernd Neumann im Nachwort des Nachdrucks der von 1905 zum ersten Mal herausgegebenen „Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters“: „Die Arbeiter in der Hustenburg müssen gesunden, um der Bourgeoisie des Zauberbergs ihr Kranksein zu ermöglichen.“70 Neumanns Gegenüberstellung der zwei unterschiedlichen Schreibpositionen, die wir hier aufgegriffen haben, illustriert den theoretischen Rahmen der marxistischen Analyse, in der die Beziehung zwischen der Kapitalisten- und der Arbeiterklasse allgemein als zentrales Element gilt, um das Ausbeutungsverhältnis, das die kapitalistische Gesellschaft bestimmt, zu verstehen und um weiterführend die Form des Klassenkonflikts als treibende Kraft historischer Veränderungen zu sehen. „Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als auch möglich [...] zu machen sucht, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will [...] Recht wider Recht, beide gleichmässig durch das Gesetz des 68 „Es handelt oder handelte sich bei diesen Instituten um eine typische Erscheinung der Vorkriegszeit, nur denkbar bei einer noch intakten kapitalistischen Wirtschaftsform. Nur unter jenen Verhältnissen war es möglich, daß die Patienten auf Kosten ihrer Familien Jahre lang oder auch ad infinitum dies Leben führen konnten. Es ist heute zu Ende oder so gut wie zu Ende damit.“ Ebd., S. 10. 69 Vgl. Bernd Neuman (Hg.): Nachwort in: Moritz Th. W. Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, S.381 70 Ebd. S. 380. 30 Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstages dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, das heisst der Klasse der Kapitalisten und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.“71 Das neue Selbstwertgefühl, des aus den Feudalverhältnissen stammenden Bürgertums, die gewonnene unabhängige ökonomische Basis und das Konkurrenzverhalten als neue Unternehmer- oder Kaufmanngeneration, das die bürgerlich kapitalistische Mentalität prägte, sieht der Geschichtswissenschaftler Karl Joachim Weintraub eng verwandt mit dem Auftauchen der bürgerlich literarischen Autobiografie. Sie weise in ihren Anfängen bereits auf eine neue Art des Lebens im Frühkapitalismus hin: den Individualismus.72 Im Unterschied zur bürgerlichen Autobiografie, in der es vorwiegend um die Aufzeichnung einer Individualentwicklung und um die Privatisierung der Perspektive, der Rechenschaftslegung eines Einzelnen gehe, könne das proletarische Lebensbild als ein Hineinwachsen des Individuums in eine solidarische Klassengemeinschaft gesehen werden. So zumindest formuliert es Ursula Münchow in „Frühe Deutsche Arbeiterautobiographie“73, 1973. Ilja Ehrenburg bezweifelt den kollektiven Sinn von Selbstdokumenten und kommentiert, dass „Gute Kommunisten keine Biographie haben“74; er sieht die individuell empfundene Lebensbeschreibung als „Gegensatz zum Kollektivgedanken.“75 Tatsächlich aber bezieht sich die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung auf ein kollektives Subjekt und eine gemeinsame Geschichte, die Geschichte der Arbeiterklasse und die des gemeinsamen Klassenkampfes. Die Selbstdarstellung bzw. Autobiografie von Arbeiter_innen – so scheint es jedoch zunächst – ist die Geschichte eines Einzelnen: der Arbeiter, der Arbeiterin. Die Arbeiterautobiografien, die zwischen 1903-1914 auftauchen, machen dann doch einen entscheidenden Schritt, indem sie nämlich das einzelne Arbeiterleben nicht mehr aus der Perspektive des mehr oder weniger hilflosen Opfers beschreiben, sondern die eigene individuelle Entwicklung mit der Klassen- und Gesellschaftsentwicklung in Beziehung setzen. „Sein Lebenslauf ist von vornherein nicht nur sein eigener individueller sondern seiner ganzen sozialen Klasse. Von daher bestimmt sich der Charakter der gesellschaftlichen Funktion der proletarischen Selbstdarstellung, nämlich als Exempel zu sein für das Leben der Arbeiterklasse insgesamt, stellvertretend für sie zu 71 Karl Marx: Das Kapital, in: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Bd. 23, Berlin: Dietz 1968, S. 249. 72 Vgl. Karl Joachim Weintraub: Self and Circumstance. The Value of the Individual: Self and Circumstance in Autobiography, Chicago: University of Chicago Press 1978, S. 8. 73 Vgl. Ursula Münchow: Frühe Deutsche Arbeiterautobiographie, Berlin: Akademie 1973. 74 Ilja Ehrenburg: Der Raffer, Berlin: Volk u. Welt 1979, S. 150. 75 Ebd. 31 sprechen.“76 Mit dem Textfragment aus der Autobiografie der österreichischen Arbeiterin und Frauenrechtlerin Adelheid Popp bestätigt sich Emmerichs Interpretation. „Ich schrieb die Jugendgeschichte nicht, weil ich sie als etwas individuell Bedeutsames einschätzte, im Gegenteil, weil ich in meinem Schicksal das von hunderttausend Frauen und Mädchen der Proletariats erkannte, weil ich in dem, was mich umgab, was mich in schwere Lagen brachte, grosse gesellschaftliche Erscheinungen wirken sah.“77 Bei den „grossen gesellschaftlichen Erscheinungen“ handelt es sich mit relativer Sicherheit um die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die Adelheid Popp als wirtschaftliche Ausbeutungsprinzipien identifiziert. Auch der Arbeiter Ludwig Turek vermerkt hinsichtlich der Adressierung seines Textes. „Um mitzuhelfen, die Duldsamkeit zu brechen, darum habe ich geschrieben. Nicht für Literaten und Schwärmer, sondern für meine Klasse.“78 1.2.1 Der „sprechende Stoff“ des Arbeiters Moritz Th. Bromme und Jacques Rancières Subjektraum Der Fabrikarbeiter Bromme berichtet detailliert über die Missstände in der Fabrik, fehlende Sicherheitsvorrichtungen und führt eine akribische Liste von Lohnkürzungen auf. Er berichtet von seiner Frau, die neben der Erziehungs- und Haushaltsarbeit nachts Auftragsarbeiten als Näherin verrichtet. „Wieviele Flüche in die Stoffe von den Lippen meiner Frau mit eingenäht worden sind, ist nicht zu zählen. Wenn aber die Roben bei Herzog in Berlin oder auf Ballfesten und in Gesellschaften reden könnten, ihre Trägerinnen würden sie vor Entsetzen ausziehen müssen. Der Bissen würde ihnen an der reichbesetzten Tafel im Munde aufquillen. Wer ermißt diese Qual, am Tage und in der Nacht [...] zu nähen und zu sticheln, extra die häuslichen Arbeiten und die Kinder zu besorgen, um dann am Sonnabend einige Hungergroschen in die Hand gedrückt zu erhalten?“79 Bromme positioniert sich mit seiner „Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters“ als sozialdemokratisch denkender und schreibender ArbeiterAutobiograf. Schon sein Vater arbeitete illegal während des Erlasses der 76 Wolfgang Emmerich: Der Geschichtsverlust der Arbeiterbewegung, in: Wolfgang Emmerich (Hg): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. 1. Bd., Hamburg: Rowohlt 1974/75, S. 11-38, S. 22. 77 Adelheid Popp: Jugendgeschichte einer Arbeiterin, Berlin: Dietz 1922, S. IV. 78 Ludwig Turek: Ein Prolet erzählt. Lebensschilderung eines deutschen Arbeiters, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1985, S. 5. 79 Moritz Th. W. Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, S. 80. 32 Sozialistengesetze für die SPD in Deutschland. Er selbst konnte nicht studieren, sondern musste relativ früh zum Erhalt der Familie beitragen. Er arbeitete als Kellner, als Arbeiter in einer Knopffabrik und später als Metallarbeiter. Theodor Brommes, Adelheid Popps und Ludwig Tureks Äußerungen verdeutlichen, dass das Schreiben und Schildern über das eigene Lohnarbeiter_innendasein einen politischen Lernprozess in Gang setzt, ein Verstehen der eigenen Lage, das bei Veröffentlichung, die Funktion von Aufklärungsmaterial übernehmen kann. Hierzu im Gegensatz standen die Bücher, die Popp in ihrer Jugend gelesen hatte. „Ich lebte wie im Taumel. Heft um Heft verschlang ich. Ich war der Wirklichkeit entrückt und identifizierte mich mit den Heldinnen meiner Bücher. Ich wiederholte in Gedanken alle Worte die sie sprachen, fühlte mit ihnen die Schrecken wenn sie eingemauert, scheintot begraben, vergiftet, erdolcht oder gefoltert wurden. Ich war mit meinem Gedanken immer in einer anderen Welt und sah nichts von dem Elend um mich herum, noch empfand ich mein eigenes Elend.“80 Mit fortschreitender Industrialisierung und Technisierung der Produktion veränderte sich das Verhältnis zwischen manueller und geistiger Arbeit, und es wurde eigenständiges Mitdenken in den Arbeitsprozessen von den Lohnarbeiter_innen gefordert. Durch dieses anwachsende Mitdenken, so Urslula Münchow, hätten die Arbeiter_innen den Wunsch nach Bildung entwickelt, denn sie begannen damit, sich gegenseitig fortzubilden und zu organisieren.81 „Die theoretischen Abhandlungen konnte ich nicht sofort verstehen, was aber über die Leiden der Arbeiterschaft geschrieben wurde, das verstand und begriff ich und daran lernte ich erst mein eigenes Schicksal verstehen und zu beurteilen. Ich lernte einsehen, dass alles, was ich erduldet hatte, keine göttliche Fügung sondern von den ungerechten Gesellschaftseinrichtungen bedingt war.“82 „Ich fing nun an zu denken. Bisher hatte ich es immer für eine Fügung Gottes betrachtet, dass wir nur dazu da seien, um zu leiden, wofür uns im Jenseits grosse Freude erwarten. Ich kam zu dem Schlusse, dass es denn doch nicht gerecht sei, wenn die grosse Masse des Volkes am Hungertuche nagt und frühzeitig elendig in die Grube fährt, während einige Tausend schon hier auf Erden in Sauss [sic!] und Brauss leben. Das Blatt, durch welches mir die Augen geöffnet wurden wollte ich auch meine Mitarbeiterinnen gerne lesen lassen. Damit es nicht auffällig werde, wickelte ich es in mein Vesperbrot hinein und dann ging 80 81 Adelheid Popp: Jugendgeschichte einer Arbeiterin, S. 39. Vgl. Ursula Münchow: Frühe Deutsche Arbeiterautobiographie, Berlin: Akademie 1973, S. 132. 82 Adelheid Popp: Jugendgeschichte einer Arbeiterin, S. 73. 33 das Blatt von Hand zu Hand. Ja ich gehöre zu diesen Aufhetzern, das heisst, ich suche Wissen und Aufklärung unter die Proletarier zu tragen, die gleich mir von der Gesellschaft als Stiefkinder behandelt werden.“83 Die genannten autobiografischen Dokumente von schreibenden Arbeiter_innen stelle ich in Zusammenhang mit jenem Subjektraum, den der französische Philosoph Jacques Rancière als politische Subjektivierung definiert, um sich von einer vorgeschriebenen Rolle loszusagen. „Unter Subjektivierung wird man eine Reihe von Handlungen verstehen, die eine Instanz und eine Fähigkeit zur Aussage erzeugen, die nicht in einem gegebenen Erfahrungsfeld identifizierbar waren, deren Identifizierung also mit der Neuordnung des Erfahrungsfeldes einhergeht.“84 Rancière spricht von einer Arbeit der Fiktion. Er meint damit künstlerische Strategien, die sich vornehmen, die Rahmen und die Maßstäbe dessen, was sichtbar und aussprechbar ist, zu verändern, und das was nicht sichtbar war, sichtbar zu machen, Beziehungsloses in Beziehungen zu setzen mit dem Zweck, Risse im sinnlichen Gewebe der Wahrnehmungen und in der Dynamik der Affekte zu erzeugen. Er nennt das auch „die Arbeit, die Dissense vollzieht“85, die die Modi der sinnlichen Präsentation und die Formen der Aussage verändert. Dies geschieht, „indem sie die Rahmen, die Maßstäbe oder die Rhythmen ändert, indem sie neue Verhältnisse zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit, dem Einzelnen und dem Allgemeinen, dem Sichtbaren und seiner Bedeutung herstellt [...]“.86 „Diese Arbeit verändert die Koordinaten des Darstellbaren [...] verändert unsere Wahrnehmung der sinnlichen Ereignisse, unsere Weise, sie auf Subjekte zu beziehen, die Art, wie unsere Welt von Ereignissen und Gestalten bevölkert wird.“87 Die schreibenden Arbeiter_innen beginnen mit (Denk-) Tätigkeit und Textproduktion, eine Tätigkeit, die in der Form für sie nicht vorgesehen war. Sie gehen in dem Sinne der Arbeit von Schriftstellern nach, in dem sie forschen und Texte lesen und schreiben. Politische Figuren/Namen entstünden, so Rancière, in der „Verrechnung“88 gesell83 Anna Altmann: Jugendgeschichte einer Fabrikarbeiterin (1852-70), in: Wolfgang Emmerich (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. 1.Bd., Hamburg: Rowohlt 1974/75, S. 127-137, S. 129. 84 Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 47. 85 Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer. Aus dem Französischen von Richard Steurer, Wien: Passagen 2010, S. 79. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Für Rancière besteht die Politik im Allgemein aus Verrechnungen, die Werk von Klassenstrukturen sind, Klassen, die keine sind, sondern in denen sich eine Gruppe über die andere erhebt und den Namen der anderen definiert und einschreibt. 34 schaftlicher Figuren und daraus folgend sei „jede politische Subjektivierung daher eine Ent-Identifizierung, das Losreißen von einem natürlichen Platz, die Eröffnung eines Subjektraumes, in dem sich jeder dazuzählen kann, da es ein Raum einer Zählung der Ungezählten ist“.89 Dem „natürlichen“ (Arbeits-) Platz, von dem Rancière spricht, der den Arbeiter_innen zugewiesen wurde, die Fabrikarbeit, der Webstuhl etc. wird ein neuer Ort hinzugefügt, der dem anderen dialektisch gegenübersteht, in dem die Denk- und Schreibarbeit stattfindet, ein Ort, der eigentlich anderen Personen vorbehalten war. So empfahl die herrschende Grossbourgeoisie den Arbeiter_innen sich nach getaner Arbeit im Familienleben zu erholen und sich nicht um politische Angelegenheiten zu kümmern.90 1877 sprach Alfred Krupp zu den Arbeitern seiner Fabrik: „Genießet, was Euch beschieden ist. [...] Höhere Politik treiben erfordert mehr freie Zeit und Einblick in die Verhältnisse, als dem Arbeiter verliehen ist. Ihr thut Eure Schuldigkeit, wenn Ihr durch Vertrauenspersonen empfohlene Leute erwählt. Ihr erreicht aber sicher nichts als Schaden, wenn Ihr eingreifen wollt in das Ruder der gesetzlichen Ordnung. Das Politisiren in der Kneipe ist nebenbei sehr theuer, dafür kann man im Hause Besseres haben.“91 Subjektivierung im politischen Sinne bedeutet für Rancière also auch Erneuerung und Verschiebung. Auf diese Weise wird ein Bruch mit den polizeilichen Kategorisierungen und Festschreibungen wie die eines Alfred Krupps vollführt. Die gesetzliche Ordnung legt die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Identitäten fest. Subjektivierung steht daher der Identifizierung konträr gegenüber. Weder Staatsfunktionen noch soziologische Definitionen sozialer Gruppen können diesen Bruch ermöglichen. Politische Subjektivitäten „bilden sich in einer Art Überblendung der Namen und Identitäten dieser Funktionen und dieser Gruppen aus“.92 Rancière beschreibt ein Von-sich-selbst-unterscheiden, das nicht wiederholt, was man aus vermeintlich polizeilicher und/oder sozialwissenschaftlicher Logik heraus sei, sondern wie man sich selbst zu-, um- und be-schreibt in Beziehung zu Tätigkeiten, Arbeiten, Menschen und Ereignissen, eine „Politik der Selbstbeschreibung“93. 89 Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 48. 90 Allerdings gab es um 1895 in Berlin ca. 25 000 Wohnungen, die aus einem Zimmer bestanden, das von sechs und mehr Personen bewohnt wurde. Diese Gegebenheiten machten es den Arbeitern annähernd unmöglich, „Familienglück“ zu genießen. 91 Alfred Krupp: Alfred Krupps Briefe 1826 – 1887, in: Wilhelm Berdrow (Hg.), Berlin: Reimar Hobbing 1928, S. 343-348. 92 Jacques Rancière: Gibt es eine politische Philosophie?Aus dem Französischen von Rado Riha, in: Alain Badiou/Jacques Rancière: Politik der Wahrheit, Wien: Turia + Kant 1997, S. 64-93. 93 Vgl. Maria Muhle: Aesthetic realism and subjectivation. From Chris Marker to the Medvedkin Groups, in: Appareil. Revue Appareil 4/2009, URL: http://revues.mshparisnord.org/appareil/index.php?id=920 (02.07.2013). 35 „Ich bin ein Langsamleser gewesen und habe oft Monate zu einem Buch gebraucht, habe mich auch nicht so leicht abschrecken lassen, wenn der behandelte Stoff zunächst fremd erschien. Es war überhaupt kein gewöhnliches Lesen, sondern ein Leben und Wachsen in der Literatur. Was ich am Abende gelesen hatte, wurde am nächsten Tage neben meiner Arbeit nochmals Gegenstand eingehendensten Nachdenkens. Dabei wurde hier und da altes Gemäuer niedergerissen und dafür neue Strebepfeiler aufgeführt [...] Solche Art wurde mir die einförmige Arbeit am Webstuhl zum Vergnügen.“ 94 In dem Kapitel „Die Paradoxa der politischen Kunst“ bezieht sich Rancière auf die scheinbar unpolitische Beschreibung des Arbeitstages eines Tischlers, die 1848 in der Arbeiterzeitung Le Tocsin des travailleurs abgedruckt wurde. Es handelt sich um die Beschreibung eines Arbeitsablaufes vom Verlegen des Parkettfussbodens, in der der Autor ein Innehalten, ein aus dem Fensterblicken des Tischlers in den Mittelpunkt der Erzählung rückt: „Er schwebt in Gedanken zur grossräumigen Perspektive, um sie mehr als die Besitzer der Nebenwohnungen zu geniessen.“95 Rancière erläutert mit diesem Beispiel, wie sich in diesem Moment eine Trennung vollzieht, ein Dissens eingeführt wird. „Dieser Blick, der sich von den Händen trennt und den Raum ihrer unterworfenen Tätigkeit teilt, um darin einen Raum einer freien Untätigkeit abzugrenzen.“96 Sich der Perspektive zu bemächtigen deutet einen anderen Raum an, um einen Ort, in dem die „Arbeit nicht wartet“, zu bestimmen. „Mit der Aufteilung zwischen denen zu brechen, die der Notwendigkeit der Arbeit der Arme unterworfen sind, und denen, die über die Freiheit des Blicks verfügen [...], sich dieses perspektivischen Blicks zu bemächtigen, der traditionellerweise mit der Macht derer in Verbindung gebracht wird, bei denen die Linien der französischen Gärten und die des Gesellschaftsgebäudes zusammenlaufen.“97 In der Aneignung eines Ortes, der nicht für den Arbeiter bestimmt war, im Falle des Tischlers der Blick in den Garten und ein sich woanders sehen als es die Hände-sind, wird das Kunststück vollführt sich aus dem Ort herauszuwinden, der einen bisher festgehalten hat und einem zugeschrieben wurde. Dieses „Herauswinden“ ist nur mit Rancières Gleichheitsdenken zu verstehen. Er geht davon aus, das sozusagen „vor“ der Einteilung bzw. der Aufteilung des Sinnlichen alle grundsätzlich erst einmal als „gleich“ bzw. „gleichwertig“ zu 94 Richard Richter: Das Altarbilde der neuen Weltordnung (um 1890), in: Wolfgang Emmerich (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, 1. Bd., Hamburg: Rowohlt 1974/75, S. 287-290, S. 287. 95 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 75. 96 Ebd. 97 Ebd. 36 betrachten sind. Die Anteillosen agieren bei ihm nicht vor einem differenten Ausgangspunkt aus, sondern vor dem Hintergrund der Gleichheit sprechender Wesen. „Die Gleichheit ist nur durch die Gleichheit möglich“ 98 Dieses ursprüngliche Gleichheitsdenken99 erklären verschiedene Autor_innen100 als Abkehr von dem Differenzdenken seines Lehrers Althusser. Ruth Sonderegger erklärt Rancières Abneigung gegen den Ideologierkritiker als abgekehrende Haltung gegen die autoritäre Anmaßung des Ideologiekritikers, der seinen Untersuchungsobjekten erklären würde, wo und warum ihr Bewusstsein falsch ist.101 Er geht stattdessen von einer Selbstemanzipation z.B. der Arbeiter_innen aus, die durch die Beschäftigung (z.B. der Blick des Tischlers) mit Kunst (französischer Garten, bzw. die barocke Gartenkunst) oder Literatur initiiert wird. Vom französischen Garten der Bourgeoisie möchte ich nun abschließend noch einmal kurz zur Hustenburg zurückkehren. Den Arbeiter_innen in der Hustenburg wurde das Betreten der angelegten Promenadewege nicht gewährt, vermutlich damit den bürgerlichen Kurgästen von Berka ihr Anblick erspart bliebe.102 Davon berichtet Bromme in dem Kapitel über seinen Aufenthalt in der Lungenheilanstalt Sophienstätte, in der er den größten Teil seiner Autobiografie schrieb. Ähnelten sich die medizinischen Rituale (jede Patient_in erhielt ein Thermometer, eine „blaue Taschenspuckflasche“ und bekam regelmäßige Mahlzeiten, frische Luft, Bewegung und viel Schlaf verschrieben) in der Hustenburg mit denen vom Sanatorium auf dem Zauberberg, so unterscheiden sich, wie wir bereits feststellen konnten, die Insassen beider Anstalten aufgrund ihrer sozialen Klassenzugehörigkeit. Zauberberg und Hustenburg veranschaulichen die räumliche Trennung und soziale Verortung der schreibenden Subjekte, ähnlich wie die Fabrikwände, die französischen Gärten oder die Kurpromenade Grenzen bzw. bestimmte Zugehörigkeiten markieren und die Texte von unterschiedlichen Formen, Stilen und Inhalten durchzogen werden. 98 Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 29. 99 Auch Judith Butler wählt mit dem allgemeinen „Prekär-sein“ aller Menschen die Gleichheit als Ausgangspunkt für ihre theoretischen Überlegungen. Dem stehen dekoloniale Autor_innnen, und auch die Arbeiten des Soziologen Pierre Bourdieu, gegenüber, die die Differenz als Grundlage für ihre Theorien nehmen. 100 Vgl. Jens Kastner: Der Streit um den ästhetischen Blick, Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Wien: Turia + Kant 2012, S. 73 und Ruth Sonderegger: Institutionskritik? Zum politischen Alltag der Kunst und zur alltäglichen Politik ästhetischer Praktiken, Vortragspapier für das Symposium der Deutschen Gesellschaft in Jena: Ästhetik und Alltagserfahrung, 2008, URL: http://lithes.uni-graz.at/lithes/beitraege10_03/sonderegger.pdf (20.06.2013), S. 5 101 Ruth Sonderegger: Institutionskritik? Zum politischen Alltag der Kunst und zur alltäglichen Politik ästhetischer Praktiken, Vortragspapier für das Symposium der Deutschen Gesellschaft in Jena: Ästhetik und Alltagserfahrung, 2008, URL: http://lithes.unigraz.at/lithes/beitraege10_03/sonderegger.pdf (20.06.2013), S. 10. 102 Vgl. Ursula Münchow: Frühe Deutsche Arbeiterautobiographie, Berlin: Akademie 1973, S. 163. 37 Zu der Unterscheidung von Form und Inhalt hinsichtlich der Verortung (Arbeiter_in, Künstler_in oder Literart) autobiografischen Schreibens, werde ich in dem Kapitel „Repräsentation: Wer repräsentiert wen (wie, wann, wo und wofür)?“ mit Hito Steyerls Auseinandersetzung mit Gayatri Chakravorty Spivaks Text „Can the Subalterne speak?“, dem operierenden Schriftsteller von Walter Benjamin und Michel Foucaults Vergleich zwischen dem Universalen und spezialisierten Intellektuellen näher eingehen. Verlassen wir nun die Orte, an denen die zuvor erwähnten Selbstdokumente entstanden sind und befragen wir ihren Zustellungsraum. Wo befand sich der Einsatzort dieser Texte? Kamen Selbstdokumente tatsächlich als emanzipatorische Schriften im sogenannten Klassenkampf zum Einsatz? „Ich verfolge mit der Herausgabe dieses neuen Werkes einen sehr ernsthaften Zweck, nämlich allgemeine Kenntnis des wirklichen Lebens des heutigen Proletariats, und zwar aus der Feder von Proletariern selbst, so weit und so tief wie möglich zu verbreiten.“103 Arbeiter_innenautobiografien als politisches Agitationsmittel mit operativer politischer Funktion für den Klassenkampf einzubinden, scheiterte meist schon an den Möglichkeiten der Distribution. Bürgerliche Verlage begannen zwar damit, Arbeiter_innenautobiografien zu publizieren und konfrontierten auf diese Weise bürgerliche Leser_innen zum ersten Mal mit dem Leben von Arbeiter_innen. Aber darin lag, so Wolfgang Emmerich, oftmals auch der Widerspruch, denn dem vorgesehenen Klassenkampf wurde an Radikalität genommen und das Bürgertum, das seinerseits soziale Reformen anstrebte, instrumentalisierte die Texte, die das „Los der Erniedrigten und Beleidigten aus erster Hand wiederspiegelte“104 , da sie sie für die eigene Argumentation verwerteten. Grundsätzlich waren die Buchpreise für die Arbeiter_innen zu der Zeit vergleichbar hoch und die eigens angelegten Arbeiter_innenbibliotheken versäumten die Arbeiter_innenautobiografie als „Instrument der proletarischen Bewegung“105 in Dienst zu nehmen. Rancière, der in diesem Abschnitt mit dem Szenario der Ent-Identifizierung eingeführt wurde, verfolgt mit dem Konzept der Ent-Identifizierung als Arbeiter_in allerdings eine andere Gemeinschaft, als die der klassen(be)kämpfenden Arbeiter_innenbewegung. Rancières emanzipatorische Prozesse finden dort statt, wo der Arbeiter/die Arbeiterin genau diesen Zuschreibungen entkommen und anstatt dessen Literart_in, Müßiggänger_in und Künstler_in werden. Für diesen Raum, bedarf es nach Rancière auch keine Bewusstwerdungsprozesse (Identifizierung als Arbeiter_in und die Zugehörigkeit zu der Arbeiter_innenbewegung) sondern er setzt auf den ziellos umherwandernden Blick und 103 Paul Göhre: Vorwort, in: Moritz Th. W. Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, Leipzig: Eugen Diederichs 1905, S. 5. 104 Wolfgang Emmerich: Der Geschichtsverlust der Arbeiterbewegung, in: Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. 1. Bd, Hamburg: Rowohlt 1974/75, S. 11-38, S. 27. 105 Ebd., S. 30. 38 künstlerische Betätigung, die für ihn nicht als entfremdete Arbeit gelten. Das war vor dem Film. Eine der ersten Filmsequenzen, 1895 produziert, zeigt Arbeiter_innen, die die Fabrik verlassen, in denen das Filmmaterial hergestellt wurde: „Es war die Fabrik des Filmemachers selbst, und er filmte `seine´ Arbeiter aus seinem Büro gegenüber von dem Fabrikgelände. Und darin vielleicht liegt auch schon das Geheimnis dieses Erfolges beim proletarischen und kleinbürgerlichen Publikum: Man sah zwar auf der Leinwand wirklich nichts anderes als sich selbst, aber aus einem neuen Blickwinkel, in einer Perspektive der Allmacht, von einem Ort her, den man noch nie betreten hatte. Ein Arbeiter sah sich selbst auf der Leinwand mit den Augen des Fabrikherren.“106 Bevor der Produktionsapparat des audiovisuellen Bildes in die Hände von Arbeiter_innen oder filminteressierten Einzelpersonen gelangte, beschränkte sich die Filmproduktion auf die eigens entwickelte Kino-Industrie und den dazu gehörende Distributionsapparat der Kinosäle. Auch wenn der später aufkommende sogenannte Autorenfilm versuchte, dem industriellen Charakter der Filme durch subjektive Sichtweisen und Positionen ihrer Filmemacher_innen zu entgehen, bildet sich dieser Typus von Film dennoch innerhalb der industriellen Maschinerie der industriellen Kino-Produktion und ihren kapitalistischen Machtdispositiven aus. Bevor wir im Folgenden näher auf die Frage nach den sich unterscheidenden äußernden Machtdispositiven eingehen, möchte ich hier im Anschluss einen kleine Einführung in das Konzept der bürgerlichen Autobiografie vorschlagen, die uns mit einigen Merkmalen ins Herz der gegenwärtigen neokapitalistischen Produktion führt. Die technische Seite des Abschnitts verhandelt die Unterschiede zwischen geschriebener und audiovisueller Selbst-Repräsentation. 106 Georg Sesselen: Überall, wo wir nicht sind, in: TAZ. Hamburger Tageszeitung, 14/08 /2004, URL: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2004/08/14/a0191 (25.01.2013). 39 1.3 Forschung in der Literatur: Einführung in das Konzept der literarischen Autobiografie „Wir nehmen an, das Leben würde die Autobiographie hervorbringen wie eine Handlung ihre Folgen, aber können wir nicht mit gleicher Berechtigung davon ausgehen, das autobiographische Vorhaben würde seinerseits das Leben hervorbringen und bestimmen? Wird nicht alles, was der Autor einer Autobiographie tut, letztendlich von den technischen Anforderungen der Selbsterlebensbeschreibung beherrscht und daher in jeder Hinsicht von den Möglichkeiten seines Mediums bestimmt? “107 In dem vorherigen Kapitel habe ich mit Hilfe des polarisierenden Vergleichs von der Hustenburg und dem Zauberberg dargestellt, von welcher sozialen Position aus autobiografische Arbeiten verfasst wurden. An dieser Stelle möchte ich näher auf das Konzept der sogenannten bürgerlichen literarischen Autobiografie eingehen, die, wie wir bereits feststellen konnten, eine primär individualistische Haltung einnimmt. Nach Angaben des Historikers Georg Misch taucht der Begriff Autobiografie zum ersten Mal gegen Ende des 18. Jahrhunderts im englischen Sprachraum auf. Misch bezieht sich wörtlich auf seine Bedeutung, in der er ihn als eine Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto) definiert.108 Die Wortzusammensetzung spiegelt die technische Wortbildung in den Geisteswissenschaften der damaligen Zeit wieder, die aus der Verbindung von griechischen Begriffen bestand, die den Gegenständen der wissenschaftlichen Untersuchung ihren Namen gab. Um das sozialpolitische Interesse an dem Thema der eigenen Lebensbeschreibung hervorzuheben, schlägt Petra Frerichs vor, einen begrifflichen Unterschied zwischen bürgerlicher Autobiografie und proletarischer Selbstdarstellung vorzunehmen, wie ich es selbst in den vorherigen Kapiteln vorgeschlagen habe. Frerichs vermutet, dass dem bürgerlichen Subjekt ganz andere Mittel (Wissen) zur Verfügung stehen als dem proletarischen Subjekt. „ [...] im Unterschied zu dem allgemeinen Begriff Autobiographie geht in die Bezeichnung proletarische Selbstdarstellung oder Arbeiterautobiographie eine Vorentscheidung ein, nämlich die nach ihrem gesellschaftlich bestimmten Subjekt. Es ist nicht der Mensch, das Individuum, die Persönlichkeit, die hier ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Vermittlungsintentionen zur Darstellung bringt, sondern das Individuum, die 107 Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel [1984], in: Christoph Menke (Hg.): Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 131–146, S. 132. 108 Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie [1976], in: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 33-54, S. 38. 40 Persönlichkeit in ihrer übergreifenden sozialen Eigenschaft, Lohnarbeiter im kapitalistischen Produktionsprozess zu sein.“109 Auf die Frage, ob die Arbeiterautobiografie, so wie sie von Frerich beschrieben wird, in ihrer Form als Äußerung eines Klassen- bzw. Kollektivbewusstseins gegenwärtig noch existiert, werde ich im letzten Teil der Arbeit eingehen. „In Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiografie“ (1970) beschreibt Bernd Neumann die Autobiografin/den Autobiografen als „Kind der Zeit [...] und [...] als solches von der historischen und sozialen Lage geprägt“.110 Nach Neumann stellt die Autobiografie das Leben eines noch nicht sozialisierten Menschen dar, sie erzählt die Geschichte des Werdens, der Bildung und des Hineinwachsens in die Gesellschaft. Im Vergleich dazu würden Memoiren erst mit dem Erreichen von Identität, also mit der Übernahme von einer sozialen Rolle geschrieben. An dem Punkt, an dem Memoiren beginnen, endet die Autobiografie. Während die Autobiografie „auf das persönliche und psychische Ergehen des Individuums bezogen sei“ räumen Memoiren dem äußeren Geschehen einen größeren Platz ein.111 Neumanns Abgrenzungsversuch der Autobiografie zu anderen Gattungen und die Beschreibung von prozess- und projekthaften Subjekten wirft eine interessante Frage in Hinblick auf die momentane Arbeitssituation auf: Ähnelt die Beschreibung der prozess- und projekthaften Subjekte den Arbeits- und Lebenssituationen heute? Kann man die gegenwärtigen Arbeitssubjekte im momentanen Projekt-Denken mit den vielfältigen Weiterbildungsangeboten zur Wissensproduktion überhaupt definieren? Inwieweit wirkt sich Wissensproduktion auf die Bildung von Identität aus? Der Besuch in dem Forschungsgebiet der bürgerlichen literarischen Autobiografie ermöglicht, in ihren Merkmalen wie Eigenname, Selbstwerden, Unentscheidbarkeit von Fakt und Fiktion, wesentliche Züge des heutigen Produktionsparadigmas zu erkennen: 1. Das Verhältnis von Arbeits- und Lebenszeit: Das Arbeitssubjekt weiß, wie es selbständig Arbeits- und Lebenszeit in ein produktives Verhältnis setzen kann, und es richtet seine privaten Aktivitäten auf wirtschaftliche Verwertbarkeit hin aus. 2. Subjektivität und Kreativität: Eigenschaften wie Eigensinn, Innovationstalent und Kreativität, die der Fordismus in der Fabrik noch auszuschalten versuchte, stellen auf einmal Ressourcen dar, die das Arbeitssubjekt im Arbeitsparadigma des Postfordismus als gesellschaftliche Verpflichtung selbst erbringen muss. 3. Ich-Branding Parallel zu der Auflösung der Grenzen von Arbeits- und Freizeit und dem Einbringen von persönlichem kreativem Potential, wird das individuelle Branding, der Name (Ich-AG, Ich-Marke), sich selbst als Produkt für den Arbeitsmarkt zu 109 Petra Frerichs: Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung. Eine vergleichende Darstellung unter besonderer Berücksichtigung persönlichkeitstheoretischer und literaturwissen-schaftlich-didaktischer Fragestellungen, Frankfurt a.M.: Haag + Herchen 1980, S. 2. 110 Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiografie, Frankfurt a.M.: Athenäum 1970, S. 2. 111 Ebd., S. 25. 41 begreifen, grundlegende Vorraussetzung. In der nun folgenden Zusammenfassung des literarischen Konzepts der Autobiografie beziehe ich mich auf die Autoren Philippe Lejeune und Paul de Man, die mit ihrem Beitrag zur Debatte um den Gattungsbegriff der Autobiografie innerhalb der Literaturwissenschaft prägnante Charakteristika autobiografischer Texte herausgearbeitet haben. 1.3.1 Philipe Lejeune: Der autobiografische Pakt Jerker Spits beschreibt in seiner Dissertation „Fakt und Fiktion: Die Autobiographie im Spannungsfeld zwischen Theorie und Rezeption“, dass in der europäischen Gattungstheorie der engagierte Standpunkt von USAutobiografieforscher_innen, die ihre Arbeit als Aufklärung über die Position von Minderheiten und als Kritik am weißen Identitätskonzept verstehen, fehlt.112 Die amerikanische Auseinandersetzung mit der Autobiografie konzentriert sich auf poststrukturalistische Theorien, die von der Vorstellung ausgehen, dass jeder Mensch ein Konstrukt von Sprache und von diskursiven Machtkonstellationen ist. Bei Lejeuns Konzept des autobiografischen Paktes aus dem Jahre 1975 handelt es sich um einen gattungstheoretischen Ansatz innerhalb der, von Spits zuvor kommentierten, europäischen Autobiografieforschung. Lejeune vertritt eine positivistische Konzeption von Selbst-Repräsentation, wenn er behauptet, der „autobiographische Pakt“ würde dem Vertrag ähneln, den Historiker_innen, Geograph_innen oder Journalist _innen mit ihren Leser_innen schließen: Im Gegensatz zu allen Formen der Fiktion seien die Biografie und die Autobiografie referentielle Texte, vergleichbar der wissenschaftlichen oder historischen Rede. Sie geben vor, den Leser_innen eine Information über eine außerhalb des Textes liegende Realität mitzuteilen, die sich einer Prüfung der Verifizierbarkeit unterziehen läßt. „Ihr Ziel ist nicht die bloße Wahrscheinlichkeit, sondern die Ähnlichkeit mit dem Wahren. Nicht ‚die Wirkung des Realen‘, sondern das Abbild des Realen.“113 Obwohl, der in dieser Arbeit verwendete Repräsentationbegriff, der dem poststrukturalistischen Ansatz nahesteht, sich von Lejeunes naturwissenschaftlichem Verständnis von Repräsentation als „Abbild von Realität“ und seiner These der außertextuellen Referenz, die die „wahre Realität“ beglaubigt, absetzt, erweist sich sein formuliertes Zusammenspiel von Autor_in, Erzähler_in und Protagonist_in in der Untersuchung von gegenwärtigen Produktionsverhältnissen (Leben, Repräsentation und Arbeit) in Hinblick auf den Trend der Kommerzialisierung von autobiografischen Daten als relevant. Der Eigenname, in dem sich Produzent_in und Privatperson verbinden, und der dazugehörige Lebenslauf bilden heute einen wesentlichen Bestandteil von Selbstmarketing-Strategien und fordern Lejeunes Authentizitätsbegriff der 112 Jerker Spits 2008: Fakt und Fiktion: die Autobiographie im Spannungsfeld zwischen Theorie und Rezeption. [Dissertationsarbeit] Universität Leiden, S. 266. 113 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt [1975], in: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 214-257, S. 244. 42 „wirklichen Person“ heraus. Lejeune versuchte mit seinem Text „Klarheit“114 über die Gattungsproblematik der Autobiografie zu schaffen, ihre Nähe und Abgrenzung zu Biografien, Memoiren, Tagebuchschriften, Briefen, Geständnisschriften u.a. zu formulieren. Seine Hauptthese, die ich hier kurz ausführen werde, bezieht sich auf die Namensidentität und die Formel: Autor = Erzähler = Figur. Der Schwerpunkt seiner Analyse liegt auf dem Vertragsverhältnis, das zwischen dem/der Autor_in eines Textes und dem/der Leser_in eines Textes besteht. Indem der Autor seine multiple bzw. dreifache Identität, die des Autors, des Erzählers und der Figur, als eine einzige bestätigt, verwirklicht sich der autobiographische Pakt: „Die Autobiographie (Erzählung, die das Leben des Autors schildert) setzt voraus, dass zwischen dem Autor (wie er namentlich auf dem Umschlag steht), dem Erzähler und dem Protagonisten der Erzählung Namensidentität besteht.“115 In der schriftlichen Rede beglaubigt die Unterschrift den/die Sprecher_in, und so würde demnach in gedruckten Texten jede Äußerung von der Person getragen, die für gewöhnlich mit dem Namen als Autor auf dem Umschlag eines Buches steht. In dem Namen sieht Lejeune die ganze Existenz des sogenannten Autoren enthalten. Er nennt dies die unzweifelhaft außertextuelle Markierung, die auf eine tatsächliche Person verweist, die man als Leser_in glaubt, für den Text verantwortlich machen zu können. Es sei der Verweis auf eine tatsächlich existierende Person. Diejenigen Texte, in denen der/die Autor_in, autobiografische, also in denen er_sie selbst-referentielle Andeutungen macht, beziehungsweise der/die Leser_in nur vermuteten können, dass zwischen der fiktiven Romanfigur und dem Leben des Autoren/der Autorin ein reeller Zusammenhang besteht, klassifiziert Lejeune als autobiographische Romane. „ [Als autobiographischen Roman] bezeichne ich alle fiktionalen Texte, in denen der Leser aufgrund von Ähnlichkeiten, die er zu erraten glaubt, Grund zur Annahme hat, dass eine Identität zwischen Autor und Protagonist besteht, während der Autor jedoch beschlossen hat, diese Identität zu leugnen oder zumindest nicht zu behaupten.“116 Für Lejeune geht es bei der Überprüfung des Konzeptes von Autobiografie im Wesentlichen um die Echtheit einer Erzählung versus der imitierten Echtheit in einem Roman. Autobiografien mit der außertextuellen Referenz sollen den/die Leser_in von realen Fakten überzeugen. Sofern sich keine Person für den als autobiografisch auftretenden Text verantwortlich zeigt, wird der autobiografische Text durch die Anonymität seines Hervorbringers einer Fiktion zum Verwechseln ähnlich. Der Identitätsvertrag wird ausschließlich durch die Unterzeichnung des Eigennamen des Autoren/der Autorin bestätigt. 114 115 Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 214. Ebd., S. 228. 116 Ebd., S. 229. 43 Die Namensidentität werde, so Lejeune, durch zwei Arten hergestellt: im Titel oder zu beginn eines Textes, der sich konkret auf die eigene Lebensgeschichte bezieht, oder als zweite Möglichkeit wäre es der Name selbst, den sich der Autor/die Autorin gibt und der identisch mit seiner/ihrer Person ist. Verbindliche Formel für Lejeunes Referenzpakt ist: Ich, der Unterzeichnende, ich schwöre, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. An Lejeunes Pakt der Namensidentität mache ich zwei wesentliche Kritikpunkte fest: - Die außertextuelle Referenz wird als authentischer Realitätsverweis behandelt und bleibt als sozialpolitische Konstruktion unhinterfragt. Der Begriff Realität wird nicht weiter problematisiert. - Die Figur des Lesers wird als ein „mit Polizeigewalt versehener Richter“117 konzipiert, der die Authentizität der Unterschrift des Autoren bewertet und die vertragliche Übereinkunft nach Verletzung oder Erfüllung der Regeln in Bezug auf die außertextuelle Referenz prüft. 1.3.2 Paul de Man: Autobiografie als Maskenspiel Erst die poststrukturalistischen Denker_innen begannen damit, die klassische Vorstellung von einer authentischen und autonomen Autor_innenposition und ihr Ausdrucksmittel die Sprache selbst zu analisieren. Zu ihnen gehörte der belgisch-amerikanische Literaturtheoretiker Paul de Man und sein Verständnis von Autobiografie als rhetorische Figur oder Jacques Derridas Ansatz eines niemals endenden Prozesses der Signifikation, in dem das Subjekt erst im Bedeutungsvorgang selbst mit entsteht. De Man versteht sprachlich vermittelte (Selbst) Wirklichkeit in seinem Aufsatz „Autobiographie als Maskenspiel“ von 1979 als keine Gattung oder Textsorte, sondern als eine Lese- oder Verstehensfigur, die in allen Textsorten auftritt.118 Er beschreibt, dass sich die Autobiografie als ungeeignetes Objekt für eine gattungs-theoretische Diskussion erweist, da jeder autobiografischer Text ein Einzelfall zu sein scheint, der sich nicht ausschließlich auf eine Gattung bezieht. Vielmehr könnte man jeden Einzelfall benachbarten Gattungen zuordnen. Aus dseiner Annahme, dass Autobiografie eine in allen Textsorten vorkommende Verstehensfigur sei, folgert er auch ihr verschwinden: „Wenn wir aber [...] behaupten wollen, alle Texte seien autobiographisch, dann müssen wir aufgrund desselben Merkmals auch sagen, kein Text sei autobiographisch.“119 Im Gegensatz zu Lejeunes Prinzip der Hervorbringung von Identität sieht de Man in der Autobiographie ein Spiel von Masken, das von der theoretischen Figur der Prosopopöie120 bestimmt wird. Der Begriff Prosopopöie kommt von dem 117 Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel [1984], in: Christoph Menke (Hg.): Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 131–146, S.135. 118 Vgl. Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel, S.134. 119 Ebd., S.134. 120 Vgl. „Prosopopöie (griech., lat. Personificatio), poetische Figur, wodurch abstrakten Begriffen oder leblosen Dingen und Naturerscheinungen Eigenschaften, Tätigkeit und Sprache beigelegt 44 griechischen prosopon poin, das so viel heißt wie „eine Maske oder ein Gesicht geben“. In dem Wechselspiel von Gesicht und Maske würde sich, so de Man, die Trope der Prosopopöie der Autobiografie als Prinzip der Defiguration einschreiben. In autobiografischen Texten ginge es um Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Desfiguration. Die Prosopopöie wäre demnach als der Prozess zu bezeichnen, in dem sich die (Autoren-) Figur, anhand rethorischer Mittel selbst formt bzw. figuriert. „Denn es ist [...] die Prosopopöie, mit der sich das sprechende Individuum figurativ ein Gesicht und eine (maskierte) Identität verleiht.“121 Eine autobiografische Dimension offenbart sich beispielsweise auch, so Paul de Man, in den Texten von William Wordsworth, die als Merkmal eine obsessive Auseinandersetzung mit Verkrüppelung, Ertrunkenen, blinden Bettlern und vom Tod gezeichnete Kinder auszeichnet. Jene Bilder können als Sinnbilder verstanden werden um das eigene, dichterische Ich des Autoren zu beschreiben. „Die Frage, die sich [...] in den Vordergrund drängt ist, ob es sich bei autobiographischen Texten nicht grundsätzlich um eine Illusion der Referenz handelt? [...] so dass das Referenzobjekt überhaupt kein klares und einfaches Bezugsobjekt ist, sondern in die Nähe einer Fiktion rückt, die damit ihrerseits ein gewisses Maß an referentieller Produktivität erlangt.“122 In diesem Zusammenhang untersuchte der von de Man zitierte französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette (1972)123 die Beziehung zwischen Referenzobjekt und Fiktion und begründete die Relation zwischen Fiktionalem und Faktualem in der Literaturwissenschaft erzähltheoretisch. Sich auf Genette beziehend stellt de Man fest: Die Unterscheidung zwischen Fiktion und Autobiografie ist keine Frage von Entweder-Oder, sondern unentscheidbar.124 „Der Fiktionstext führt zu keiner außertextuellen Realität, denn alle seine (ständig) bei der Realität gemachten [...] Anleihen verwandeln sich in Elemente der Fiktion, wie bei Napoleon in ‚Krieg und Frieden‘ oder Rouen in ‚Madame Bovary‘.“125 werden, wie sie nur der menschlichen Individualität zukommen.“ In: Autorenkollektiv: Meyers Konversationslexikon, Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1885-1892. 121 Anna Babka 2003: Paul de Man, Autobiography as De-facement [kommentiert], Universität Innsbruck: Produktive Differenzen. Forum für Differenz- und Genderforschung 2003, URL: http://differenzen.univie.ac.at/bibliografie_literatursuche.php?sp=163 (02.09.2013). 122 Paul de Man, Autobiographie als Maskenspiel, S. 133. 123 Genette bezieht sich unter anderem auf Serge Doubrovskys Erfindung des Begriffs der „Autofiktion“ (Selbst-Fiktion, Ego-Fiktion). Vgl. Gérard Genette: Figures III, Paris: le Seuil 1972, S. 50. 124 Paul de Man, Autobiographie als Maskenspiel Maskenspiel, S. 133. 125 Gerád Genette: Fiktion und Diktion, München: Wilhelm Fink 1991, S. 37. 45 „ [...] der Fiktionsdiskurs ist ein Patchwork, ein mehr oder weniger homogenisiertes Amalgam von heterokliten, zumeist der Realität entnommenen Elementen.“126 Um das permante Wechselspiel zwischen Fiktion und Realität zu veranschaulichen führt De Man die Methapher der Drehtür ein. Aber auch gerade in der Verwendung dieser Metapher bestätigt er, meiner Meinung nach, dass sich der Moment der wechselseitigen Reflexion auf keine ursprünglich geschichtlich ereignende Situation beziehen soll, sondern sich eher auf eine sprachliche Struktur bezieht, die den Prozess repräsentiert. 126 Ebd., S. 60. 46 1.4 Der Selbstfilm: Autobiografie und Film Die Art und Weise, wie ein Feld als Gattung abgesteckt wird und bestimmte Merkmale als verbindliche und übertragbare Regeln manifestiert, erzeugt zum einen „Klarheit“127 , in diesem Fall über das Konzept der literarischen Autobiografie, und zum anderen grenzt es Möglichkeiten aus, was Autobiografie noch alles sein könnte. Zu den Grenzziehungen bei Gattungen schreibt Jacques Derrida: „Sobald man das Wort ‚Gattung‘ vernimmt, sobald es erscheint, sobald man versucht es zu denken, zeichnet sich eine Grenze ab. Und wenn sich eine Grenze herausbildet, dann lassen Norm und Verbot nicht auf sich warten: ‚man muss‘, ‚man darf nicht‘ - das sagt ‚Gattung‘, das Wort ‚Gattung‘, die Figur, die Stimme oder das Gesetz der Gattung.“128 Hier sei nur ein Grenzverlauf, die literarische Gattung der Autobiografie betreffend, skizziert: gemeinschaftliche bzw. kollaborative Autobiografien haben innerhalb der Autobiografie-Forschung kaum Beachtung gefunden, da sie sich auf einen einzelnen Autoren/eine einzelne Autorin konzentriert. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges beispielsweise, der oft als Vorläufer der Postmoderne bezeichnet wird, fertigte einen großen Teil seines Werkes, nachdem er 1956 erblindete, durch Diktat an. Christina Halasz schlägt diesbezüglich das Konzept der kollaborativen Autobiografie vor, um zu verdeutlichen, dass der Text mit Hilfe einer anderen Person entstanden ist. „Dass `An Autobiographical Essay´ nicht von Borges selbst geschrieben wurde, sondern von ihm diktiert wurde, spielt auch eine wichtige Rolle in Bezug auf die nicht vorhandene Introspektion. Die direkte physische Anwesenheit einer anderen Person, ein Ohr, das alles Gesagte zur Kenntnis nimmt, kann hemmend wirken, im Gegensatz zu einem weißen Blatt, das, bildlich ausgedrückt, alles aufnimmt ohne sich ein Urteil bilden zu können.“129 Damit würde die außertextuelle Markierung Lejeunes, die direkt auf die Autor_in verweist, hinfällig, da die, das Diktat aufnehmende Person, die eng mit der Autor_in verbunden ist, in der Beweisführung nicht in Erscheinung tritt. Ich würde aber von einen wichtigen partizipatorischen Beitrag dieser Person in der Textproduktion ausgehen (bspw. nicht vorhandene Introspektion oder hemmende Funktion), auch wenn ihr aufgrund der Dominanz der Schriftstellerpersönlichkeit keine Anerkennung oder Bedeutung zukommt. Zum Ende dieser Arbeit komme ich auf kollektive Selbst-Repräsentationen zu 127 128 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 214. Jacques Derrida: Das Gesetz der Gattung [1980], in: Jacques Derrida: Gestade. Aus dem Französischen von Monika Buchgeister/Hans-Walter Schmidt, Wien: Passagen 1994, 247-283. S. 248. 129 Christina Halasz: Der autobiographische Diskurs in Jorge Luis Borges ‚Autobiographical Essay‘, München: GRIN Verlag 2008, S. 15. 47 sprechen, die meinem Verständnis nach mit einem autobiografischen Ansatz in Verbindung gesetzt werden können, da die Produzent_innen Teile ihres Lebens für eine größere Öffentlichkeit selbst sichtbar und lesbar machen. An dieser Stelle sollen, ausgehend von den Merkmalen der literarischen Autobiografie, die Besonderheiten des Mediums Film hervorgehoben werden und die literarische, schlussendlich, um eine audiovisuelle und kollaborative Autobiografie erweitert werden. Lejeune und de Man gehen von zwei unvereinbaren Ansätzen selbstdokumentierter Wirklichkeit aus: Lejeune, bei dem es in der literarischen Autobiografie immer um den zu erbringenden Wahrheitsbeweis der außertextuellen Realität geht (der durch die Unterschrift und den Namen des Autoren beglaubigt wird) und de Man, der die Unentscheidbarkeit von Fakt und Fiktion in autobiografischen Texten (die Illusion der Referenz) manifestiert. Eine vergleichbar polarisierende Situation treffen wir beim Film an, nämlich bei der Beantwortung der Frage, ob und wie dokumentarische Formen Wirklichkeit abbilden können. Auf der einen Seite gibt es, so formuliert es Hito Steyerl, die Realisten, die, angefangen mit dem Filmtheoretiker Andre Bázin, das fotografische Bild an sich als objektiv und wahr befinden, und auf der anderen Seite positionieren sich die Konstruktivisten, die von einer konstruiert dokumentierten Realität ausgehen, einer Produktion von Fakten, die Wahrheit produziert und die gleichzeitig die ideologische Ausrichtung der Wahrheitsproduktion mitliefert.130 Christine Noll Brinkmann und Elisabeth Bruss, die sich mit dem Versuch der „Übertragbarkeit“ des literarischen autobiografischen Gattungsbegriffes auf Film, überwiegend auf Lejeune beziehend, beschäftigt haben, gehen von der Einteilung in objektive und subjektive Film-Aufnahme aus. Das objektive Verfahren wird mit seinem (ideologischen) Technologieapparat, der Einstellung und Motivation, nicht als ein Objekt hinterfragt, das Machtrelationen verkörpert, sondern scheint bei beiden Autorinnen eine rational objektive Aufnahmeinstitution darzustellen, vergleichbar mit der Definition der Realisten bei Steyerl. Bruss unterscheidet sogenannte „truth-telling“131 -Filme (Aufzeichnung von aktuellen Ereignissen und eher der naturwissenschaftlichen, also objektiven Methode folgend) von inszenierten Filmen (inszenierte Repräsentation von aktuellen Ereignissen, die auf Drehbüchern basiert, als auch die Anwendung von Schnitt und Effekten in der Postproduktion).132 Für Bruss findet die Beurteilung der Wahrhaftigkeit in „truth-telling“- Filmen nach Regeln der Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit statt, während inszenierte Filme mit Darstellungs- und Repräsentationsformen operieren. Sie geht davon aus, dass Film eine neue Variable einführt, die die Selbstbiograf_innen von Texten vor dem Film noch nicht kannten: nämlich die Wahl zwischen „Inszenierung der Wahrheit“ und die der „direkten Aufnahme“. 130 Vgl. Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien: Turia + Kant 2008, S. 11. 131 Elisabeth Bruss: Eye for I: Making and Unmaking Autobiography in Film, S. 302. 132 Vgl. ebd. 48 Wie wenig haltbar die Argumentation für eine „direkte“ bzw. „objektive“ und daraus schließend „wahrere“ Aufnahme als eine inszenierte ist, zeigt Gertrud Koch, indem sie verdeutlicht, dass ein noch so „realistisch“ oder „objektiv“ erscheinendes Bild von einer Reihe von Entscheidungen und Positionierungen seiner Produzent_innen abhängt. „Einstellung (englisch: shot) bezeichnet ein kontinuierlich belichtetes und ungeschnittenes Stück Film, das aus einer seiner Länge entsprechenden Abfolge von Einzelbildern besteht. Das Maß einer Einstellung ist die Laufzeit der Kamera. Bevor diese abgefahren wird, wird sie eingerichtet, eingestellt, das heißt ihre Optik, von der die Größe des Bildausschnittes abhängt (Detail-, Groß-, Nah-, Total-, Panoramaeinstellung etc.) wird als entsprechende Linse präpariert, ihr Standpunkt bestimmt (Augenhöhe, Aufsicht, Untersicht etc.) und ihre Bewegung (Schwenk, Fahrt etc.) ermöglicht (Schulter, Schiene, Kran, Dolly etc.). Zur Einrichtung einer Einstellung gehört auch das Setzen von Licht, möglicherweise die Einrichtung für Tonaufnahmen etc., die Platzierung von Akteuren etc. Die Einstellung umfasst also bereits jede Menge intentionaler Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, aus der Technizität der Aufnahmeapparatur und der Physikalität der Objektwelt ein drittes, das filmische Bild zu konstruieren. Die technische Einstellung ist eine intentionale Einstellung, Ergebnis einer Kette von Detailentscheidungen: Die Einstellung ist die Einstellung. Die Einstellung von etwas und die Einstellung zu etwas.“133 Auch das sogenannte subjektive Bild, wie zum Beispiel die Verwendung einer Handkamera, ist noch kein Garant für die „Wahrhaftigkeit“ einer Aufnahme. Ganze Spielfilme wurden mit Handkamera (bspw. die „Dogma 95“- Filme) oder aus der Perspektive des subjektiven Blickes ihrer Protagonist_innen gefilmt (wie der Spielfilmklassiker aus Hollywood „The Lady in the Lake“ von Robert Montgomery, 1947, oder „David Holzman's Diary“ von Jim McBride, 1967). Zu dem Aufnahmeverfahren in den Dogma 95- Filmen vermerkt Georg Seeßlen kritisch: „Die Verweigerung der Ästhetik wird zur Ästhetik der Verweigerung. [...] Diese verwackelten Kameras sind bei irgend jemand oder bei irgend etwas anderem, nicht aber bei einem filmischen Ich und auch nicht, das ist beinahe wichtiger, bei einem filmischen Du. Das filmische Subjekt ist in die Aufnahmemaschine geschlüpft, die sich wahrhaft sadistisch und 133 Gertrud Koch: Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 9. 49 verantwortungslos gibt.“134 Die unter dem Dogma-95-Manifest entstandenen Filme verwenden die subjektive Kamera als effektreiche Methode, um eine möglichst authentische Zuschauer_innenperspektive in dem Filmbild herzustellen, die die Zuschauer_innen als leibhaftige Zeug_innen in die Aufnahmesituation katapultiert. Insofern ist die subjektive Aufnahme als kreative Methode, die Authentizität potenziert, ebenso als Produkt zu verstehen, wie aufwendige 3D-Animationen aus dem Special-Effekt-Studio. „Denn dieses Kino [...] ist ja kein Protest von unten, nicht eine Neuauflage einer Punk-Ästhetik jener, die von den ästhetischen Produktionsmitteln aus dem einen oder anderen Grund ausgeschlossen sind, sondern ein Marktprodukt aus der Mitte der bescheidenen europäischen Produktion selbst.“135 Weder die objektive noch die subjektive Kamera-Aufnahme erbringt also den von Lejeune gewünschten Realitätsbeweis. Vielmehr muss Lejeunes Realitätsverständnis grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die de Mansche Linie, die die Unentscheidbarkeit zwischen Fakt und Fiktion als Maskenspiel in der literarischen Autobiografie beschreibt, öffnet den Gattungs- als auch den Genrebegriff und lässt sie möglicherweise mit dem konstruktivistischen Verständnis des dokumentarischen Bildes in Beziehung setzen. „ [...] die Konstruktivisten [treiben] ihre Skepsis so weit, dass sie die Abbildbarkeit von Realität schlechthin bezweifeln und zwischen Wahrheit und Falschheit keinen grundsätzlichen Unterschied mehr wahrnehmen.“136 Den de Manschen Ansatz rücke ich tendenziell in die Nähe des Essay-Filmes, da dieser mit Unentscheidbarkeiten, Vielstimmigkeiten, Offenheiten und gegen eine gattungsdefinitorische Festschreibung operiert (vgl. hierzu das Kapitel „Filmessay, als intellektuelle Autobiografie“, S.114)137 . Die von Lejeune vorgeschlagene Beweisführung, dass es den Autoren als „wirkliche Person“ außerhalb des autobiografischen Textes gibt, ist im Film nur dann einlösbar, wenn dieser von einem „unabhängig produzierenden Einzelgänger, der alle filmischen Funktionen im Alleingang bewältigt“138 produziert wird. Film, der aber gerade am Anfang seiner Entwicklungsgeschichte aufgrund der noch aufwendigen technischen Apparatur nach einer Produktionsgruppe verlangte, steht im Gegensatz zu der Textproduktion eines Schriftstellers/einer Schriftstellerin, 134 Georg Seeßlen: DOGMA oder Warum es notwendig wurde, die Krise des Erzählens im Film mit einem post-postmodernen Wirklichkeits-Remix zu begegnen, in: Jana Hallberg/Alexander Wewerka (Hg.): Dogma 95. Zwischen Kontrolle und Chaos, Berlin: Alexander 2001, S. 327- 339, S. 331. 135 Ebd., S.329 136 Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld, S.11. 137 138 Christine Noll Brinckmann: Ichfilm und Ichroman, S. 89. 50 denn „ein eigenes Zimmer“ oder „ein Zimmer für sich allein“139 gelten als Grundvoraussetzung für die autobiografische bzw. literarische Produktion von Texten.140 Insofern gilt es, bei audiovisueller Autobiografie bzw. autobiografischem Film auch nach dem gemeinschaftlichen Produktionsraum zu fragen und die darin vollbrachten Tätigkeiten, Kollaborationen und Praktiken anzuerkennen. Ein weiterer Aspekt des klassischen Autobiografiekonzeptes ist, dass eine autobiographische Handlung persönlicher Ausdruck und zugleich Beschreibung sein muss.141 Bei der Filmaufnahme ist die Gleichzeitigkeit von subjektiver Kameraführung und Aufzeichnung der sich selbst filmenden Autobiograf_in nicht möglich.142 Der/die filmende/r Autobiograf_in muss sich also zwischen der Kameraperspektive, die die Wahrnehmungs- und Denkweise wiedergibt (Position hinter der Kamera) oder die, die eigene Person im Bild wiedergibt (Position vor der Kamera) entscheiden. Bruss schließt daraus, dass jeder Versuch, einen autobiografischen Film zu machen, entweder in einem biografischen (der Film über eine Person, die im Bild ist) oder expressionistischen Film (Wahrnehmung- und Denkweise des Filmenden) münde.143 1.4.1 Barbara Hammers autobiografische Fiktion „Tender Fictions“ Das Durchkreuzen verschiedener Genres (u.a. Autobiografie und Fiktion) nimmt die Filmemacherin Barbara Hammer in ihrem Film „Tender Fictions“144 zum Anlass, um mit und gegen den literarischen Genre- und Gattungsdiskurs der Autobiografie zu experimentieren. Sie lehnt gattungs- und genredefinierende Merkmale als eingrenzend ab und führt uns vor, was Autobiografie außerhalb des abgesteckten Feldes noch sein kann. Die Filmemacherin kommentiert „Tender Fictions“: 139 Vgl. gleichnamiger Buchtitel von Virginia Woolfs Essay Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein [1929]. Aus dem Englischen von Renate Gerhardt, Frankfurt a. M.: Fischer 1999. 140 Vgl. hierzu auch Paula Sibilia: La intimidad como espectáculo, Buenos Aires: Fondo de Cultura Económica 2008, S. 82 und Almut Finck: Autobiografisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, Berlin: Erich Schmidt 1999, S. 109. 141 Vgl. „[…] the autobiographical act must be at once expressive and descriptive; the two are not mutually exclusive in language where truth is acknowledged to be a construction (an assertion that the speaker makes) rather than a reflection.“ Zitiert aus: Elisabeth Bruss: Eye for I: Making and Unmaking Autobiography in Film, S. 308. 142 Die Aufnahme vor dem Spiegel und die Closed-Circuit-Installation stellen Ausnahmen der filmischen Selbstabbildung dar: Im Spiegel kann sich die filmende Person mit Kamera aufzeichnen, und in der Closed-Circuit Installation wird die sich selbst filmende Person simultan wiedergegeben, wenn die Kamera gleichzeitig an ein Wiedergabegerät angeschlossen ist. 143 Vgl. Elisabeth Bruss: Eye for I: Making and Unmaking Autobiography in Film, Zitat: „All of the extant attempts at autobiographical film seem to run afoul of the same problems and end by becoming indistinguishable from biography, on the one hand, or expressionist cinema, on the other hand.“ S. 297. 144 Barbara Hammer: Tender Fictions, [DVD] USA: Barbara Hammer Editions 1995. Der Film-Titel „Tender Fictions“ ist ein Verweis auf Gertrude Steins autobiographische Aufzeichnungen: Tender Buttons. Zarte knöpft. Gegenstände – Futter – Räume. Aus dem Amerikanischen von Barbara Köhler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. 51 „The film challenges the traditional modes of personal history telling using a wide variety of tactics to destabilize the hegemonic narrative that implies truth, not fiction.“145 In „Tender Fictions“ zeichnet Hammer ihren eigenen Werdegang von einem Mädchen, einer jung verheiraten Frau zu einer lesbisch-feministischen Aktivistin und Filmemacherin nach, die eben dieses zum Thema ihres Filmes macht. Hammer setzt sich kritisch mit der Repräsentation von Frau und Familie in der USamerikanischen Gesellschaft auseinander und schafft neue Repräsentationsformen für ein lesbisches Kino. Den theoretischen Schriften zur literarischen Autobiografie die auf dem Wahrheitsbeleg beharren, begegnet sie kritisch und experimentiert mit Uneindeutigkeiten hinsichtlich des Wahrheitsgehalts von Information. Unabhängig von der Autobiografie-Forschung stellen geschriebene Autobiografien einen wesentlichen Bezugspunkt in Hammers Leben dar. „I invented myself as an artist by reading autobiographies. Autobiographies by famous artists, poets, painters. Little did I know or think that these could be fictive accounts. [...] None of these books that became my guide `how to be an artist´ where written by or about lesbians.“146 Gleich zu Beginn des Films sehen wir Hammer auf dem Stern der Schauspielerin Shirley Temple am Hollywood Boulevard einen Stepptanz vorführen. Die SteppPerformance von Hammer verweist auf ihre Mutter, für die Shirley Temple ein weibliches Vorbild darstellte. Sie schickte ihre Tochter zum Stepptanz-Unterricht, um später bei Filmcastings vorsprechen zu können. Immer wieder tauchen in Hammers Film Performances vor der Kamera auf, wie zum Beispiel die Sequenz, in der sie mit einem Schweizer Klappmesser vorspielt, eine Bank in Marokko auszurauben, oder ihr Tanz am Internationalen Frauentag um einen Schäfer herum. In verschiedenen Szenen sehen wir die Filmemacherin, wie sie sich in Spiegeln oder spiegelnden Oberflächen abfilmt. Sie bewegt sich vor den Spiegeln, spielt mit Unschärfen der Kamera und dem Bildrand, dessen Oberflächen ihre Arme und Beine verschwinden lassen. Neben Aufnahmen an ihrem Schneide- bzw. Montagetisch zeugen diese Spiegel-Szenen von Barbara Hammers Arbeit als Autobiografin und Filmemacherin. Sie zeigt uns auch Film-Bilder von dem AFL/CIO-Streik am San FranciscoCollege, der 1968 von der Black Panther Party organisiert wurde, dem ersten Frauen-Musikfestival in San Diego 1965 und dem Take-Back-The-Night-March in San Francisco 1979, alles Stationen in ihrem Leben, die sie mit der Kamera festgehalten hat und die wichtige Orte der eigenen Politisierung darstellen. Hammer montiert in ihrem Film heterogenes Material, darunter Archiv-Bilder, Fotos, Zeitungsausschnitte, Tagebuchaufzeichnungen, subjektive Kameraeinstellungen und unterschiedliche Aufnahmeformate (8mm, Video, 145 Barbara Hammer: Hammer! Making Movies Out of Sex and Life, New York: The Feminist Press at CUNY 2010, S. 242. 146 Barbara Hammer: Tender Fictions, [DVD] USA: Barbara Hammer Editions 1995, TC 1:05. 52 Fernsehaufzeichnungen). Die sich in der Filmmontage widersprechenden Bildinhalte (Gegenüberstellung von Idealbildern aus dem US-amerikanischen Familienleben der 50er Jahre und die Aufnahmen von Hammers sich liebenden Freundinnen) werden durch die erzählende Stimme der Filmmacherin als Voice-Over miteinander in Verbindung gesetzt und bilden auf diese Weise eine Geschichte, die zum Einen die vorherrschende Repräsentation von Gemeinschaft vorführt und zum Anderen eine andere Form von Gemeinschaft und Liebesleben anbietet. Das Einsetzen der sogenannten Stimme aus dem Off und des Voice-Overs ist in der audiovisuellen Autobiografie ein sehr oft verwendetes Verfahren, um die eigene Geschichte zu erzählen.147 In der frühen Filmwissenschaft wurde in den Stimm-Kommentaren eine Kontaminierung der Filmbilder gesehen. Zitat des Dokumentarfilmers Paul Rotha: „[...] Immediately a voice begins to speak in a cinema, the sound apparatus takes precedence over the camera, thereby doing violence to natural instincts.“148 Fünfzig Jahre später manifestiert einer der Pioniere des Direct Cinema, Roberto Drew, eine ähnlich ablehnende Haltung in Bezug auf die erzählende Stimme im Film: „Narration is what you do when you fail.“149 Stella Bruzzi kritisiert in „New Documentary: A Critical Introduction“ die Stimme als manipulierende und von außen führende Gottesmacht, die sich auf das Reproduzieren von patriarchischen Strukturen, Dominanz und Allwissenheit konzentriere.150 Auch wenn Barbara Hammer in „Tender Fiction“ mit ihrer eigenen Stimme die Geschichte „führt“ und das Material in einen Erzählfluss bringt, so ist diese Stimme vielstimming und nicht allmächtig, sondern gebrochen und widersprüchlich. Immer dann, wenn Hammers Stimme Theoretiker_innen zitiert, ist ihre Stimme durch einen Filter verändert, erscheint männlich oder verzerrt. Zusätzlich springt die Stimme zwischen dem Ich-Erzählen und der selben Stimme die von einem „ihr“ erzählt. Punktuell tauchen auch Stimmen von Bekannten der Filmemacherin, die als Zeugen sprechen, auf. „Ganz automatisch fasst man die kommentierende Stimme als Sprachrohr der Filmemacher auf, und dabei spielt es keine Rolle, ob der Text in der ersten Person oder unpersönlich formuliert ist.“151 Das Voice-Over-Verfahren wird in dieser Arbeit als Möglichkeit verstanden, eine Stimme zu bilden, die sonst nicht gehört wird, um ein bestimmtes Unbehagen der Produzent_innen, das sich möglicherweise nicht nur im visuellen Bereich abspielt, 147 Die Stimme aus dem Off (off= außerhalb) bezeichnet eine Stimme einer Sprecher_in oder einer Kommentator_in, der/die am Aufnahme-Ort gegenwärtig ist, aber im Bild nicht sichtbar. Dazu im Vergleich ist die Voice-Over-Stimme später in der Nachbearbeitung hinzugefügt. Sie begleitet die visuellen Bilder. 148 Paul Rotha: The Film Till Now: A Survey of Worl Cinema [1930], London: Vision Press 1963, S. 406. 149 Stella Bruzzi: New Documentary: A Critical Introduction, Oxford: Routledge-Chapman & Hall 2000, S. 42. 150 Vgl. ebd. . 151 Christine Noll Brinckmann: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration, S. 101. 53 zu veräußern. Kaja Silverman, die in „Accustic Mirror the Female Voice in Psychoanalysis and Cinema“152 die Bedeutung von Stimme im Film (voice over) als Vergegenwärtigungs- und (De) -Konstruktionsentwurf eines Subjektes beschreibt, vergleicht die Stimme im Film mit dem suchenden Licht einer Taschenlampe: „The voice in question functions almost like a searchlight suddenly turned upon the character`s thoughts, it makes public what is ostensibly inaudible, transforming the private into the public.“153 Zusätzlich zu der eigenen Stimme tauchen in Barbara Hammers Film auch immer wieder dokumentarische Aufnahmen ihrer eigenen, handschriftlich verfassten Tage- und Skizzenbücher auf. Mit der Abfilmung der persönlichen Schriften und Skizzen verdoppelt sich die autobiografische Handlung (Schreiben von autobiografischem Text und filmische Aufzeichnung) und verweist auf eine vor dem Film stattgefundene Protokollierung und Beschreibung des Alltags und Lebens durch die Filmemacherin. Elisabeth Bruss, die befürchtet, dass eine ganze Gattung aussterben könnte wenn Schreiben durch audiovisuelle Technologien, Aufnahme- und Montagetechnologien ersetzt würde154 , übersieht die Möglichkeit der Bezug- und Wiederaufnahme der Medien und Genres untereinander. In dem Kapitel über das Postmediale werde ich auf den theoretischen Paradigmenwechsel von der Medienspezifik hin zu interdisziplinären Arbeitsweisen näher eingehen. Um das abgesteckte Feld der AutobiografieForschung zu erweitern, wurde hier mit der ausschnitthaften Bezugnahme auf den Film „Tender Fictions“ die Interdisziplinarität gewissermaßen schon vorweggenommen. Die Vermischung des Aufnahme-Materials ist neben den anderen, zuvor erwähnten Aspekten (das alleinige Hervorbringen von Autobiografie, Gleichzeitigkeit von Ausdruck und Beschreibung) eines der wesentlichen Gründe, warum „Tender Fictions“ mit Lejeunes Verständnis von Autobiografie keine Autobiografie sein würde: zu viele Filmeinstellungen stammen nicht aus der Hand der Autobiografin. Aber genau hier lässt sich möglicherweise ein weiteres Merkmal von kollaborativer Autobiografie festmachen, nämlich in der Verwendung von heterogenem Material, der Vielheit von Stimmen155 und den unterschiedlichen Perspektiven bzw. Einstellungen, die nicht von der Produzentin selbst stammen. All dies sind Komponenten, die den autobiografischen Film von Barbara Hammer mit-bilden.156 152 Kaja Silverman: The Acoustic Mirror: The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Indiana: Indiana University Press 1988, S. 43. 153 Ebd., S. 53. 154 „ […] the autobiographical act as we have known it for the past four hundred years could indeed become more and more recondite, and eventually extinct.“ Zitat aus Elisabeth Bruss: Eye for I: Making and Unmaking Autobiography in Film, S. 296. 155 In „Tender Fictions“ zitiert Barbara Hammer die feministische Autorin und Aktivistin Mab Segrest und hebt auf die Weise, unabhängig von anderen Stimmen, die sie sprechen lässt, die Bezugnahme auf ein plurales Ich hervor: „The lesbian`s definition of herself is part of the larger movement by all oppressed people to define ourselves.“ Barbara Hammer: Tender Fictions, [DVD] USA: Barbara Hammer Editions 1995, TC 40:55. 156 Barbara Hammer beschreibt die Schwierigkeit, mit unterschiedlichen Feldern und heterogenem 54 1.5 Zum Repräsentationsverständnis in dieser Arbeit In den seltensten Fällen wird uns die Re-präsentierende so explizit vorgeführt wie in Albertina Carris Film „Los Rubios“ (Die Blonden), in der die Schauspielerin direkt in die Kamera spricht: „Ich heiße Analía Couceyro, ich bin Schauspielerin, und in diesem Film repräsentiere ich Albertina Carri.“157 Für das Filmsetting bedeutet das: Analía Couceyro re-präsentiert Albertina Carri und Carri steht als Filmemacherin hinter der Kamera und gibt Regieanweisungen. Zu ihrem Film werde ich näher im zweiten Abschnitt eingehen. An dieser Stelle soll der Begriff „repräsentieren“ näher erläutert werden, da er, wie im kurz erwähnten Beispiel von Carri, auf unterschiedlichen Ebenen operiert. Im Deutschen hat Repräsentation drei Bedeutungsfelder: Darstellung, Vorstellung und Stellvertretung. Auch im Spanischen wird in allen drei Bereichen das Wort „representación“ benutzt, jedoch erst der Kontext erklärt die Zuweisung zum Bedeutungsfeld. Der Begriff Repräsentation kommt ursprünglich von dem lateinischen repraesentare (vergegenwärtigen) und bedeutet etwas Abwesendes anwesend machen, also zu re-präsentieren. Diese Definition ist für alle drei Bedeutungsfelder gültig. Stuart Hall unterscheidet drei theoretische Ansätze, um Repräsentation als Vergegenwärtigung zu erklären. „ [...] we will be drawing a distinction between three different accounts or theories: the reflective, the intentional and the constructionist approaches to representation.“158 Der reflektive Ansatz entspricht der abbildenden (mimetischen) Theorie und legt die Bedeutung in das Objekt selbst. Sprache dient als eine Art Spiegel, indem sie die materielle Welt abbildet. Es gibt eine direkte Beziehung zwischen den Zeichen und Dingen. Diese wird durch sprachliche Nachahmung vollzogen. „In the reflective approach meaning is thought to lie in the object, person, idea or event in the real world, and language functions like a mirror, to reflect the true meaning as it already exists in the Material zu experimentieren. Sie verdeutlicht dies an Hand eines geteilten Publikums (dem lesbischen Film-Publikum und dem Kunstfilm-Publikum) und der Frage nach Anerkennung ihrer Arbeit: „A lesbian audience wanted to see reality cinema, they didn’t want to see manipulation of the film frame, or of a new kind of style that they hadn’t seen before, all they wanted was give us a lesbian story told in the old traditional, to me, heterosexual way. So, I could never be a complete success, I think, in either community […] I think the lesbian audiences still prefer a heterosexual script, with lesbian characters. And I think an avant garde cinema audience prefers not to be disturbed with a lesbian aesthetic.“ Hammers Kommentar zeigt, wie bestimmte Lebensformen und Gruppen, ähnlich wie Gattungen, jeweils ab- und ausgrenzende Wahrnehmungsregeln kultivieren. Zitat aus Anna Promey-Fallot: Interview with Barbara Hammer, New York: Women’s Activism and Oral History Project Smith College 2009, URL: http://www.smith.edu/libraries/libs/ssc/activist/activists-narrators.html#Hammer (16.06.2013). 157 Albertina Carri: Los Rubios, [DVD], Argentinien: Apparatus Productions 2003, TC 07:25. 158 Stuart Hall: Representation cultural representations and signifying practices, New York: Sage Publications 1997, S. 15. 55 world.“159 Dazu im Gegensatz reduziert sich der intentionale Ansatz auf die Intention des/der Autoren_in. „It holds that it is the speaker, the author, who imposes his or her unique meaning on the world through language. Words mean what the author intends they should mean. This is the intentional approach.“160 Die Kritik an dem intentionalen Ansatz ist, dass Sprache ein soziales System ist und auf gemeinsamen Konventionen und Codes beruht. Demnach können die subjektiven Gedanken nicht alleinige Quelle der Bedeutung von Sprache sein. Der dritte theoretische Ansatz von Repräsentation bezieht sich auf die konstruktivistische Richtung, die Repräsentation als etwas Prozesshaftes beschreibt. „The third approach recognizes this public, social character of language. It acknowledges that neither things in themselves nor the individual users of language can fix meaning in language. Things don't mean: we construct meaning, using representational systems concepts and signs.“161 In diesem Ansatz wird Bedeutung erst durch die Verwendung repräsentativer Systeme wie z.B. Konzepte und Zeichen konstruiert. Ein Objekt symbolisiert oder repräsentiert ein Konzept. Dieses Konzept operiert innerhalb der Sprache als Zeichen. Die Beziehungen der materiellen, konzeptuellen und bezeichnenden Welt werden durch kulturelle und linguistische Codes beherrscht. Diese gegenseitige komplexe Beziehung produziert die Bedeutung. Der französische Semiologe Ferdinand de Saussure lieferte den entscheidenden Gedanken für einen konstruktivistischen Ansatz, indem er formuliert, dass das Zeichen als kleinste Einheit jeder Sprache aus dem Doppel von significant (Signifikant/Bezeichnung) und signifié (Signifikat/Vorstellung) besteht. Die Bedeutung des Zeichens entsteht in der interagierenden, sich immer wieder neu, durch historisch und kulturelle Einflüsse, verändernde zeicheninterne Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat. „In diesem Sinne ist die Bedeutung eines Zeichens niemals singulär oder eindeutig, und auch nicht endgültig zu fixieren.“162 „Sprache ist produktiv, insofern sie das Objekt formt, indem sie ihm eine - sozio-historische, machtgesättigte - Bedeutung verleiht.“163 159 160 Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. 161 Ebd., S. 25. 162 Antke Engel: Wider die Eindeutigkeit: Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt a. M.: Campus 2002, S. 138-139. 163 Ebd., S. 140. 56 Die Bedeutung eines Zeichens ist weder nur durch einen Referenten bestimmt, noch hat das Zeichen an sich eine Bedeutung. Es ist differenziell konstituiert, indem sich der Signifikant als auch der Signifikat durch Unterschiede in ihrer Sorte auszeichnen, als auch in der Differenz bezüglich der Relation von Darstellungsform und Vorstellungsbild. Saussure konzentrierte sich auf eine zeicheninterne Dynamik und lässt dabei die Beziehung von Zeichen und Referent unbeachtet. Stuart Hall schlägt vor, Saussures Vorgehensweise der differenziellen Relation, die Bedeutung bildet, auf das Verhältnis von Referenzialität und Zeichen zu übertragen, um dieses ebenfalls als ein dynamisches Verhältnis zu denken, das sich auf keinen einzelnen originären Referenten bezieht. „Repräsentation bildet [...] nicht ab, sondern produziert Bedeutung, indem es auf sie referiert und sie in diesem Referieren konstruiert. Gleich welcher Art die Referenz ist, als Referenz ist sie Teil eines Prozesses der Bedeutungsproduktion.“164 Die strukturalistische Sprachtheorie ist auch für die Analyse visueller Zeichen, u.a. Foto, Film, Subjektwerdung und Praktiken der Alltagskultur bedeutsam. Fotografie und Film werden nicht mehr unter einem abbildend-expressiven Aspekt, einer konkreten Bedeutung, untersucht, sondern als komplexe Produkte von diversen Sprachen die entlang unterschiedlicher, möglicherweise auch widersprüchlicher Diskurse operieren. Sich auf Roland Barthes semiotische Theorie der Fotografie beziehend, betont Stuart Hall die Wichtigkeit der Analyse der visuellen Zeichen. Es würde nicht ausreichen, dass Bedeutung produziert wird, sondern man muss herausarbeiten, wie die Bedeutung produziert wird. Hall benennt nicht nur den Prozess, sondern auch die Produkte, Praktiken und Technologien der Bedeutungsproduktion, Produktionsund Rezeptionsapparate, Kommunikations- und Distributionsmittel, sowie ökonomische Bedingungen als Teile des Repräsentationsprozesses. 1.5.1 Wer spricht für wen? In Gayatari Spivaks berühmtem Text von 1985 „Can the Subaltern Speak?“ nimmt die Autorin ebenfalls den Begriff Repräsentation unter die Lupe, da ihr die Verwendung des Stellvertreter_innenformats von Repräsentation, des „Für-DieAnderen-Sprechen“ von Deleuze und Foucault über die Funktion der Intellektuellen unzureichend erscheint. „Zwei Bedeutungen werden hier miteinander vermischt: Repräsentation als ‚sprechen für‘, wie in der Politik, und Repräsentation als ‚Re-präsentation‘, als ‚Darstellung‘ bzw. ‚Vorstellung‘, wie in der Kunst oder Philosophie. Da Theorie auch nur ‚Aktion‘ ist, repräsentiert der Theoretiker [...] nicht die unterdrückte Gruppe. Das Subjekt wird in der Tat auch nicht als ein repräsentierendes Bewusstsein gesehen (eines, das die 164 Ebd., S. 140. 57 Wirklichkeit adäquat vorstellt).“165 Repräsentation hat drei Bereiche, argumentiert Mark Terkessidis in seinem Text „Vertretung, Darstellung, Vorstellung. Der Kampf der MigrantInnen um Repräsentation“. Zunächst würde der Begriff ersteinmal nichts anderes bedeuten als, dass etwas durch etwas anderes ersetzt wird, eine Stellvertreterstelle einnehme. Die politische Dimension von Repräsentation als Vertretung entwickelte sich, so der Autor, in der Moderne, in der ein absoluter Herrscher das ganze Volk in seiner eigenen Person vertrat. Erst zu einem späteren Zeitpunkt vertrat sich das Volk durch gewählte Abgeordnete im Parlament,-selbst. Ein weiterer Aspekt von Repräsentation, sei die Darstellung. Vom Staat ausgehend würde, so Terkessidis, die kulturelle Angleichung eines Volkes vorgenommen. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgte auf die Einführung der Volksherrschaft auch gleich ein Prozess der staatlich betriebenen kulturellen Homogenisierung. Die kulturelle Vereinheitlichung der Bevölkerung sollte dabei die Garantie für einen gewissen Konsens bieten. In diesem Prozess ging es um die umfassende Verkörperung des Volkes in einheitlicher Schriftsprache, Traditionen, Medien, Bauten, Fahnen, Münzen usw...166 Insofern muss der Repräsentationsbegriff, um für diese Arbeit produktiv zu werden, also auch verschiedene Relationen von sozio-historischer und kultureller Vereinheitlichung und Homogenisierung hinterfragen und de-konstruieren. Denn erst wenn ein Unbehagen sich diffus abzeichnet oder eine marginale Gruppe ins Sichtfeld der politischen Agitation rückt, kann es im besten Fall dazu kommen, dass sich die soziale Wirklichkeit verändert. Wobei Sichtbarkeit und Zur-Sprachekommen eben noch kein Garant dafür sind, gehört oder gesehen zu werden. Mit Spivaks Worten sollte also nicht nur gefragt werden: Can the subaltern speak? Sondern die Frage muss, wie Hito Steyerl betont, erweitert werden: „But even if he or she has been talking on for centuries - why didn't anybody listen?“167 Mit ihrer Frage problematisiert Steyerl, dass kulturelle Sichtbarmachung von verschiedenen Subjektpositionen nicht unbedingt zu einer verbesserten politischen Vertretung führt – sondern ganz im Gegenteil: möglicherweise wird die Produktion von Differenz zu einem wesentlichen Motor des fortschreitenden Kapitalismus. So entstünde „ein wahres Panoptikum verschiedenster Ego-Modelle, die sich weitgehend harmonisch in die Produktionsweisen eines neuen, Differenz verwertenden Kapitalismus einpassten.“168 165 Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Englischen von Alexander Jokowicz/Stefan Nowotny. Wien: Turia + Kant 2008, S. 29. 166 Vgl. Mark Terkessidis: Vertretung, Darstellung, Vorstellung. Der Kampf der MigrantInnen um Repräsentation, in: EIPCP, 10/2000, URL: http://eipcp.net/transversal/0101/terkessidis/de, (26.01.2013). 167 Hito Steyerl: Can the Subaltern speak German? Postkoloniale Kritik, in: Republicart, 05/2002, URL: http://www.republicart.net/disc/hybridresistance/steyerl01_de.htm (20.06.2013). 168 Hito Steyerl, Die Gegenwart der Subalternen, in: EIPCP, 09/12/2007, URL: http://translate.eipcp.net/strands/03/steyerl-strands02en?lid=steyerl-strands02de#redir, 58 Auf die „Vielzahl der konsumierbaren Differenzen“169 und die Möglichkeit ihrer Politisierung werde ich im letzten Teil dieser Arbeit mit der Frage: Bilden die gegenwärtigen sozialen Unbehagen neue Allianzen des Gemeinschaftlichen? näher eingehen. Die noch folgenden Beispiele in dieser Arbeit werden sich auf Expert_innen beziehen, die nebst ihrer Arbeit als Filmemacher_innen, Theoretiker_innen oder Künstler_innen ebenfalls als Betroffene für sich selbst und eine Gruppe sprechen. Sie fallen nicht unbedingt in die von Spivak bezeichnete Kategorie der Subalternen, da sie zumeist aus einem akademischen bzw. bürgerlichen Zusammenhang kommen. Allerdings lassen sich unter dem Begriff des sogenannten Prekariats im Zusammenhang mit den Veränderungen in der kapitalistischen Produktion und den postfordistischen Arbeitsbedingungen neue Subalterne Gruppen definieren170. Mit Antke Engels Beschreibung von Repräsentation verstehe ich autobiografische Arbeiten als sozial-kommunikatives Medium für Selbst-Repräsentationen, dessen Praxis ein Eingreifen in die eigene oder gemeinschaftliche Lebensform darstellt. „Repräsentation als Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion schafft den theoretischen Rahmen, um ein Konzept der `Repräsentation als Intervention´zu entwickeln.“171 Das erste Kapitel begann mit zwei Beispielen, in denen die Künstler_innen, Marie Bashkirtseff und Gustave Courbet für sich selbst, als Betroffene sprachen und ihnen ebenfalls die Repräsentations- und Distributionsmittel nicht nur zur Verfügung standen, sondern sie auch akademische Expert_innen der Medien waren, die sie einsetzten. Im Unterschied dazu bezieht sich das spezielle Wissen von Arbeiter_innen, die Arbeiterautobiografien schrieben, auf den Produktionsablauf in der Fabrik und auf die sich daraus ergebenden Erfahrungen von Ungerechtigkeit, Ungleichheit bzw. Misere. Ihr Wissen bezieht sich aber in den wenigsten Fällen auf Stil oder Form des literarischen autobiografischen Schreibens. Genauso wenig wie ich Expertin für Stil- und Formfragen innerhalb der Literaturforschung bin, genauso wenig möchte ich über die „Kunstfertigkeit“ des Schreibstils von bürgerlichen und proletarischen Selbst-Beschreibungen richten. Mich interessiert vielmehr die sozialpolitische Funktion als Interventionsform dieser Texte für eine bestimmte Gruppe von Personen. Es lassen sich relativ einfach Verbindungslinien von Arbeiter_innenautobiografien zu künstlerischen Arbeiten innerhalb des Ausstellungs- und Betriebssystems Kunst skizzieren. Nehmen wir das Beispiel des „redenden Gewandes“, das der Arbeiter Moritz (26.01.2013) Ebd. 170 Vgl. Robert Castel, Klaus Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt am Main / New York: Campus 2009. 171 Antke Engel: Wider die Eindeutigkeit Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, S. 126. 169 59 Bromme172 in seiner Autobiografie beschreibt. Wir können dem Objekt, das Bromme „sprechen“ lässt nicht nur künstlerische Arbeiten173 mit der gleichen „Praxis“ des Ausdrucks zuordnen, sondern auch einen ideologischen Stil. Das Beispiel des „redenden Gewandes“ oder des „sprechenden Objektes“ führt uns direkt zu dem Faktografen Sergei Tretjakow und seinen Text von 1927 „Biografie des Dinges“: „Es schien mir eine Zeitlang, als ob ein Ding, das man während seiner Reise durch die Hände der Menschen und ihre Beziehungen verfolgt, mehr über eine Epoche erzählen könne als ein psychologischer Roman. So entstand der Gedanke, von Menschen zu erzählen, indem man von den Dingen erzählt, deren sie sich bedienen.“174 „Die kompositionelle Struktur der ‚Biographie des Dings‘ läßt sich mit einem Fließband vergleichen, auf dem das Rohprodukt entlang gleitet. Durch menschliche Bemühungen verwandelt es sich in ein nützliches Produkt. Die ‚Biographie des Dings‘ ist bestens geeignet, menschliches Material aufzunehmen. Die Menschen stoßen auf Querbahnen des Fließbands zu dem Ding. Die individuell spezifischen Momente der Menschen entfallen in der ‚Biographie des Dings‘, persönlicher Kummer und Epilepsien sind nicht spürbar, dafür treten etlichen Sorgen und Nöte der betreffenden Gruppen und soziale Neurosen deutlich hervor.“175 Das Konzept von Tretjakow und den Faktografen, die Tat, das Objekt und die Handlung als narratives Element in einen kollektiven biografischen Vordergrund zu rücken,176 gründete auf einer politischen Entscheidung und verfolgte den Zweck, 172 Zitat Moritz Th. W. Bromme: „Wie viele Flüche in die Stoffe von den Lippen meiner Frau mit eingenäht worden sind, ist nicht zu zählen. Wenn aber die Roben bei Herzog in Berlin oder auf Ballfesten und in Gesellschaften reden könnten, ihre Trägerinnen würden sie vor Entsetzen ausziehen müssen.“ Moritz Th. W. Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, S. 365. 173 Das fertige Kunstobjekt „erzählt“ zielgerichtet von autobiografischen Daten seiner Produzent_in oder von dem Prozess der eigenen Entstehung. Zwei Beispiele aus dem Kunstfeld: 1995 stellt die britische Künstlerin Tracy Emmin ihr besticktes Zelt mit dem Titel “Everyone I Have Ever Slept With 1963–1995” oder auch “The Tent" betitelt aus.⁠ (Das Zelt erzählt von autobiografischen Daten seiner Produzentin) 1961 stellt der Künstler Robert Morris eine Holzbox mit dem Titel “Box With the Sound Of Its Own Making” aus. Innerhalb der Box ist ein für die Kunstbetrachter_innen nicht sichtbarer Kassettenrekorder versteckt, der die Töne der Holzbearbeitung, also die Töne der Produktion des Objektes wiedergibt. (Das Objekt spricht von seiner Produktion) Auch das AIDS Memorial Quillt von ACT- UP 1987 lässt sich mit dem „sprechenden Textil“ in Verbindung setzen. Das Quillt wurde im öffentlichen Raum installiert und selten im Kunstbetrieb rezipiert. 174 Sergej Tretjakov: Die Tasche [1933], in: Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze. Reportagen. Porträts. Aus dem Russischen von K.A. Eberle, Hamburg: Rowohlt 1972, S. 86-93, S. 86. 175 Sergej Tretjakow: Biographie des Dings [1927], in: Sergej Tretjakow: Gesichter der Avantgarde. Porträt, Essays, Briefe. Aus dem Russischen von Fritz Mierau, Berlin/Weimar: Aufbau 1985, S. 102106, S. 105. 176 Dieses Vorgehen, die Wirklichkeit abzubilden mündete in der sogenannten Expressionismusdebatte. Einer der Wortführer war der marxistische Literaturtheoretiker Georg Lukács, der das 60 sich von der Psychologisierung der großen bürgerlichen Heldengeschichten, die die Weltgeschichte dominieren, zu distanzieren. Devine Fore, der über die biographischen Vorgehensweisen der Faktografen forscht zitiert in seinem Text„ ‚Gegen den lebendigen Menschen‘. Experimentelle sowjetische Biographik der 1920er Jahre“177 den deutschen Übersetzer von Tretjakows Arbeit „Biographie des Dings“, der kein anderer war als Bertholt Brecht. „[Der] tiefere Sinn des Prozesses besteht [...] darin, kein Ding ohne Beziehung zum anderen zu lassen, sondern alle zu verknüpfen, wie er auch alle Menschen (in Form von Waren) allen Menschen ausliefert, es ist eben der Prozess der Kommunikation schlechthin.“178 Brecht, so Fore, würde an dieser Stelle bereits „die Interdependenz, die Ununterscheidbarkeit von Netzwerken zirkulierender Gegenstände und Netzwerken menschlicher Kommunikation“179 definieren. Hier werden also genau die zwei Spären zusammengefügt, die herkömmlicherweise getrennt betrachtet wurden, zum einen die Relations- bzw. die Kommunikationssphäre und zum anderen die Produktionssphäre in der Montagehalle. Wer spricht also? „ [...] displace the subject from a privileged position in relation to knowledge and meaning. The same is true of Foucault's discursive approach. It is discourse, not the subjects who speak it, which produces knowledge. Subjects may produce particular texts, but they are operating within the limits of the episteme, the discursive formation, the regime of truth, of a particular period and culture. Konzept der Faktografen ablehnte und die „schöpferische Methode“ des sogenannten Reportagenromans kritisierte, da sie schlussendlich nur ein „Formexperiment“ darstelle, um mit der eigenen bürgerlichen Klasse zu brechen, sich aber auf die Weise noch lange nicht an das Proletariat anschließe. Lukács wirft den Faktografen, sich auf Ernst Ottwalts Buch „Denn Sie Wissen Was Sie Tun“ beziehend, vor, den beschriebenen Menschen und sein Leben zu objektivieren. Er führt das in seinem Text Reportage oder Gestaltung? Kritische Bemerkungen anläßlich eines Romans von Ottwalt aus. In: Georg Lukács: Soziologische Texte, Literatursoziologie, München: Luchterhand 1968, S.122-143, S. 122. In der Expressionismusdebatte findet Georg Lukács Kritik um 1937/1938 eine öffentliche Austragung, die in der Moskauer Emigrantenzeitschrift Das Wort publiziert wurde. Die Debatte drehte sich in erster Line um die Frage, wie sich anhand von Sprache Wirklichkeit ausdrücken lässt, insbesondere in der Literatur. Vgl. Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. 177 Devin Fore: ‚Gegen den lebendigen Menschen‘: Experimentelle sowjetische Biographik der 1920er Jahre, in: Bernhard Fetz (Hg.): Geschichte und Theorie der Biographie, Berlin: De Gruyter 2009, S. 353- 385. 178 Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment, in: Siegfried Unseld (Hg.): Das Dreigroschenbuch: Texte, Materialien, Dokumente, Frankfurt a. M.: Unseld 1973, S. 117175, S. 140. 179 Devin Fore: ‚Gegen den lebendigen Menschen‘: Experimentelle sowjetische Biographik der 1920er Jahre, S. 368. 61 Indeed, this is one of Foucault's most radical propositions: the `subject´ is produced within discourse. This subject of discourse cannot be outside discourse, because it must be subjected to discourse.“180 Übernehmen wir Stuart Halls Interpretation eines in Diskurse eingebetteten Subjekts und Brechts Verständnis von den Netzwerken, so müssen wir die Diskurse, die Wissen produzieren und die Wahrheitsregime etablieren, analisieren, um herauszufinden, wie das sprechende Subjekt konstituiert ist. Der argentinische dekoloniale181 Theoretiker Walter Mignolo schlägt vor, das Wissen produzierende Subjekt zu untersuchen und Kants vier fundamentale Fragen: was kann ich wissen?, was sollte ich tun?, was kann ich hoffen?, was ist Menschsein? um eine dekoloniale Perspektive zu erweitern. Auf die Weise würde Hegels euro-zentristischer universitärer Autor_innenstandpunkt182 kritisch dekonstruiert. Mignolos Erweiterung von Kants Fragen sieht wie folgt aus: „1. Wer ist das erkennende Subjekt, und was ist sein/ihr materieller Apparat der Äußerung? 2. Welche Art von Wissen/Verständnis engagiert er/sie bei der Erzeugung und warum? 3. Wer profitiert oder hat Vorteil von solchem oder solchem Wissen und Verständnis? 4.Welche Institutionen (Universitäten, Medien, Stiftungen, Unternehmen) unterstützten und fördern solches oder solches Wissen und Verständnis? “183 Mignolos Fragen können in Beziehung zu Benjamins Frage „Wie steht ein Werk in den Produktionsverhältnissen?“184 gesetzt werden, da sie ebenfalls unmittelbar den 180 181 Stuart Hall: Representation cultural representations and signifying practices, S. 55. Die dekoloniale Theorie ist in den neunziger Jahren in den Lateinamerikanischen Anden entstanden und steht in Differenz zur Postkolonialen Theorie. Der dekoloniale Autor Walter Mignolo geht von einer sogenannten „dunklen Seite“ der Moderne aus, die der Kolonisation. Er schlägt ein transversales und dekoloniales Denken vor, dass das vorherrschende und eurozentrierte Wissen in Frage stellt bzw. durch die Lektüre von anderen bspw. latainamerikanischen Autor_innen ergänzt. Vgl. Walter D. Mignolo: The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options, London: Duke University Press 2011. 182 Vgl. Tom Waibel: Ursachenmetaphysik. Von den Wahrheiten der Anderen, in: EIPCP, 05/2008, URL: http://eipcp.net/transversal/0408/waibel/de. 183 Walter D. Mignolo: The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options, S. 188 [Übersetzung A.S.]. 184 Originalzitat von Walter Benjamin:„Anstatt nämlich zu fragen: wie steht ein Werk zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen? Diese Frage zielt unmittelbar auf die Funktion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit hat. Sie zielt mit anderen Worten unmittelbar auf die schriftstellerische Technik der Werke. Mit dem Begriff der Technik habe ich denjenigen Begriff genannt, der die literarischen Produkte einer unmittelbaren gesellschaftlichen, damit einer materialistischen Analyse zugänglich macht. Zugleich stellt der Begriff der Technik den dialektischen Ansatzpunkt dar, von dem aus der unfruchtbare Gegensatz von Form und Inhalt zu überwinden ist.“ Walter Benjamin: Der Autor als Produzent [1934], in: Gesammelte Schriften, Bd. II .2: Aufsätze – Essays – Vorträge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 683-701, S. 685. 62 Herstellungs- und Distributionsprozessen einbeziehen und darauf abzielen, den Produktionsapparat zu verändern. Benjamin, der seine Frage im Unterschied zu der Frage „Wie steht ein Werk zu den Produktionsverhältnissen der Epoche?“185 entwickelt, die eher auf eine Tendenz der (politischen) Besinnung der Produzent_innen verweist, spricht damit einen grundlegenden Unterschied zwischen zwei Positionen der künstlerischen Produktion an, die politisches Wissen transportieren: Tendenz und verkörperte Kritik. Mignolo analysiert, ähnlich wie Benjamin, mit welchen Intentionen und von welcher Position aus Produzent_innen Inhalte bzw. Wissen fabrizieren, ob es ihnen im Hallschen Verständnis der „reflective representation“, nur darum geht zu beschreiben bzw. abzubilden oder ob Repräsentation ein Netzwerk konstruiert, das soziale Transformation und tiefgreifende Veränderungen innerhalb der Produktionsorganisation initiiert. Sehr aktuell ist, wie wir im Verlauf der Arbeit hinsichtlich der Institutionalisierung und Integration von Kritik sehen werden, die Frage nach der Organisationsform: Propagiert Kritik nur einen Inhalt (stellt sie nur dar?) oder versucht sie auch den Produktionsapparat zu verändern? „Es gehört zu den entscheidenden Vorgängen der letzten zehn Jahre in Deutschland, dass ein beträchtlicher Teil seiner produktiven Köpfe unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse gesinnungsmäßig eine revolutionäre Entwicklung durchgemacht hat, ohne gleichzeitig imstande zu sein, seine eigene Arbeit, ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, ihre Technik wirklich revolutionär zu durchdenken.“ 186 Dem stellt Walter Benjamin das Konzept des „operativen Schriftstellers“ von Tretjakow gegenüber, das ihm argumentativ als Beispiel dient die Umstrukturierung des Produktionsapparats zu formulieren. „Sergej Tretjakov unterscheidet den operierenden Schriftsteller vom informierenden. Seine Mission ist nicht zu berichten, sondern zu kämpfen; nicht den Zuschauer zu spielen, sondern aktiv einzugreifen..“187 Es dürfe, so Benjamin, nicht nur darum gehen das Bewusstsein der Arbeiter_innen zu verändern sondern es müsse die politische, ökonomische und institutionelle Produktionsordnung der Wahrheit umgestaltet werden. Inhalte, die nur politische Tendenz transportieren, sind demnach gegenrevolutionär, da der Produktionsapparat, die Dinge die er hervorbringt, unverändert bleiben und die etablierten Verhältnisse zwischen Intellektuellen und bspw. dem Proletariart bestätigt. 185 186 Ebd. Ebd., S. 689. 187 Gerald Raunig: Grosseltern der Interventionskunst, oder Intervention in die Form. Rewriting Walter Benjamin's ‚Der Autor als Produzent‘, in EIPCP, 12/2000, URL: http://eipcp.net/transversal/0601/raunig/de (26.01.2013). 63 „Schon jetzt fordern wir, dass jeder Bürger imstande sein muß, eine Zeitungsnotiz zu schreiben. Unsere Arbeiterkorrespondentenbewegung ist die Entprofessionalisierung des Journalisten. Warum kann die Arbeit am Buch nicht auch entprofessionalisiert werden? [...] Wer über interessantes Material verfügt, versteht oft nicht, die Feder zu handhaben. Wir, die Literaturprofis, müssen zu ihnen gehen als Interviewer, als literarische Sekretäre, und ihnen helfen [...].“ 188 Die Forderung Tretjakows nach Entprofessionalisierung künstlerischer Techniken meint nichts anderes, als dass diejenigen, die bisher Lieferanten und Konsumenten von Information waren, nun selbst dieses von ihnen geschaffene Material bearbeiten sollen. Material, im Sinne Tretjakows, ist alles, was sich an Konflikten, Erfolgen und Niederlagen im Alltag jedes einzelnen Menschen ereignet. Indem ein Individuum oder eine Gruppe ein Geschehen, an dem sie teilhatten, in Information für andere verwandeln, werden sie zum Journalisten in eigener Sache. Benjamin beschreibt, sich auf die Neue Sachlichkeit beziehend, das aber auch Fotografien die Miserie abbilden konsumierbar werden können wie alle anderen Produkte „immer neue Effekte zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen“189 vermögen. Unter dem Aspekt der Rentabilität bzw. der Konsumierbarkeit von abgebildeter Misere wird seine Forderung den Produktionsapparat nicht mehr nur zu beliefern, sondern ihn auch zu verändern um so dringlicher. Fast vierzig Jahre später schlägt Michel Foucault eine ähnliche Position der Intellektuellen vor: „Die Rolle des Intellektuellen besteht nicht mehr darin, sich `ein wenig an die Spitze oder ein wenig an die Seite´ aller zu stellen, um ihre stumme Wahrheit auszusprechen, sondern vielmehr darin, genau dort gegen die Formen der Macht zu kämpfen, wo er deren Objekt und Instrument zugleich ist: in der Ordnung des ‚Wissens‘, der ‚Wahrheit‘, des ‚Bewußtseins‘, der ‚Rede‘.“190 Foucault beobachtet, dass sich die Rolle des Intellektuellen ab dem 2. Weltkrieg verändert hat: von einer Haltung des universalen zum speziellen Intellektuellen. Hier nennt er als Beispiel, den Atomphysiker Robert Oppenheimer. Sein spezielles, lokales Wissen zum Thema Kernforschung innerhalb der Institution von Wissenschaft stünde im unmittelbaren Zusammenhang mit einer atomaren Bedrohung, die sich global ausbreitet und in einem universalen Diskurs steht. 188 Sergej Tretjakow [1928] zitiert in Exkurs:Tretjakows Konzept des Operativismus, in: H. Horst, W. Lohding (Hg.): Operatives Video, Berlin: Medienoperative Berlin 1977, S. 20. 189 Walter Benjamin: Der Autor als Produzent [1934], in: Gesammelte Schriften, Bd. II. 2: Aufsätze – Essays – Vorträge, Frankfurt a. M. : Suhrkamp 1991, S. 683-701, S. 688. 190 Michel Foucault/Gilles Deleuze: Die Intellektuellen und die Macht. Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze [1972], aus dem Französischen von Walter Seitter, in: Walter Seitter (Hg.): Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 106115. 64 Oppenheimers Ablehnung der praktischen Anwendung u.a. seiner Forschungsergebnisse provozierte seinen Ausschluss aus bestimmten Forschungsunternehmungen und Wissensgruppen. Foucault folgert daraus: „Dass [das] wesentliche politisches Problem für den Intellektuellen [ist] nicht die ideologischen Inhalte zu kritisieren, die mit der Wissenschaft verbunden wären, oder dafür zu sorgen, dass seine wissenschaftliche Praxis mit einer richtigen Ideologie einhergeht. Sondern zu wissen, ob es möglich ist, eine neue Politik der Wahrheit zu konstituieren. Das Problem ist nicht, das Bewusstsein der Leute oder das was sie im Kopf haben, zu verändern, sondern die politische, ökonomische und institutionelle Produktionsordnung der Wahrheit.“ 191 Benjamin, Foucault und Mignolo formulieren ihre Forderung zwar sehr unterschiedlich, befinden sich aber in unmittelbarer Nähe zueinander. Für Foucault bestimmt die Politik der Wahrheit und ihre Produktionsordnung die spezifischen und universalen Diskurse, das, was Mignolos zwei letzten Fragen entspricht: Wer profitiert oder hat Vorteil von solchem oder solchem Wissen und Verständnis? und Welche Institutionen (Universitäten, Medien, Stiftungen, Unternehmen) unterstützten und fördern solches oder solches Wissen und Verständnis? Foucaults Formulierung entspricht Untersuchung und ihren Spielregeln. dem Untersuchen der institutionellen „Es kommt nicht darauf an, die Wahrheit von jedem Machtsystem zu befreien - was ein Trugbild wäre, da die Wahrheit selbst Macht ist, - sondern die Macht der Wahrheit von den Formen einer (sozialen, ökonomischen, kulturellen) Hegemonie zu befreien, innerhalb deren sie derzeit funktioniert.“192 Während Foucault tendenziell von dem lokalen Intellektuellen, Expert_innen und Spezialist_innen im Gegensatz zum universellen Intellektuellen spricht, fordert Deleuze das Verschwinden-Müssen der Intellektuellen. Er meint damit ein Verschwinden der Namen und Kategorien, der Schriftsteller_innen und der Intellektuellen (von der Bildfläche zu verschwinden, unbekannt zu werden, die Spuren der Prominenz verwischen, von Relais und von Verkettungen).193 Auch wenn hier die Rede vom sogenannten Verschwinden der Intellektuellen ist und wir gegenwärtig sogar von einer allgemeinen Wissensproduktion im Zusammenhang mit der technologischen Kommunikations- und Informationsgesellschaft sprechen, so sind damit die sozialen Unterschiede ungleicher Besitzverhältnisse von Wissen und Zugangsmöglichkeiten zu Wissens- bzw. Kommunikationtechnologien nicht verschwunden.194 191 192 Ebd., S. 212. Ebd., S. 212. 193 Vgl. Gerald Raunig: Kunst und Revolution: Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhundert, Wien: Turia + Kant 2005, S. 121. 194 Vgl. hierzu den Begriff von „Techno-Apartheid“, in: J. Friedmann: Where we stand: a decade of 65 Dieses Kapitel schlängelte sich durch verschiedene Fragestellungen zu dem Begriff der Repräsentation. Entscheidend für den Fortlauf der Arbeit ist, dass sich der Begriff von Repräsentation auf den Bereich der sozialen (De)Konstruktion bezieht (im Gegensatz zum Bedeutungsfeld der Vorstellung oder der Intentionalen Repräsentation, die Stuart Hall mit ins Spiel bringt). Spivaks Frage, ob die Subalternen sprechen können wird bejaht und um die Frage erweitert, ob die Sprechenden denn Gehör finden, was unmittelbar den Aspekt der zu bildenden Öffentlichkeit und der sozial-kommunikativen Funktion von SelbstRepräsentation betrifft. Mit Benjamin, Tretjakow und Mignolo wurde aufgezeigt, welche Allianzen sich zwischen Intellektuellen und anderen Gruppen bilden können und welche MachtRelationen diese Verhältnisse bestimmen. Tretjakow, Foucault, Deleuze, Benjamin und auch Guattari195 haben alle gemein, dass sie die Rolle der Intellektuellen umarbeiten wollen, um Anderen, z.B. minoritären Gruppen Stimmen zu geben. Diese Stimmen, von denen sie sprechen, sind aber paradoxerweise in ihren Texten nicht präsent. 1.6 Subjektivierungsprozesse: Bildliche und sprachliche Praktiken Mittels Sprache und Bild wird das Subjekt angerufen, reflektiert, entfremdet, determiniert, unterdrückt und gleichzeitig hervorgebracht, kurz: Es durchquert sein Leben lang verschiedene Prozesse, die nie enden. Das Subjekt befindet sich in einem permanenten unabgeschlossenen Werdensprozess. Dieses Kapitel fasst Theorien über Subjektivierungsprozesse zusammen, in denen Sprache und Bild grundlegende Mittel darstellen und ist in die Abschnitte „Sprachkörper“ und „Bild-Ich“ aufgeteilt. Am Endes der beiden Abschnitte wird mit Hilfe von Felix Guattaris Text „Die Couch des Armen“196 und seinem herausgearbeiteten Unterschied zwischen dem psycho-analytischen und kinematografischen Setting in Bezug auf gesellschaftliche Modellierungsprozesse der Subjekte die Besonderheiten des Kinos vorgestellt. 1.6.1 Bild-Ich Die altgriechische Sage des Jüngling Narkisso der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt und daran zu Grunde geht, nimmt Sigmund Freud als Grundlage, um über die menschliche Selbstliebe bzw. den sogenannten Narzissmus zu sprechen. Das Subjekt sei von dem imaginären Bild gefangen und klammere sich an sein, ihm vollkommen erscheinendes Selbst, alles Außenstehende, die Anderen würden als world city research, in: P.L. Knox/P.J. Taylor (Hg.): World Cities in a World System, Cambridge: University Press 1995, S. 21-47, S. 41. 195 „Ich glaube, dass sich die Kategorie, die Kaste der Intellektuellen tatsächlich progressiv auflösen wird: immer mehr einfache Leute werden Intellektuelle werden.“ Zitat Felix Guattari, in: Franco Berardi/Paolo Bertetto/Gerhard Brodt/Félix Guattari: Wunsch und Revolution: ein Gespräch mit Franco Berardi, Paolo Bertetto. Aus dem Italienischen von Gerhardt Brodt/Mario Dämonin/Dorothea Lang/Rober Willet, Heidelberg: Das Wunderhorn 1978, S. 86. 196 Felix Guattari: Die Wunschmaschinen [1973]. Aus dem Französischen von Susanne Leeb, in: Die Couch des Armen. Die Kinotexte in der Diskussion, Berlin: b_books 2011, S. 132- 145, S. 144. 66 Rivalen empfunden, die die narzisstische Beziehung zu dem Spiegelbild stören könnten. Freuds Konzeption des Narzissmus bildete die Basis für Lacans Theorie des Spiegelstadiums als Bildner der Ichfunktion197, in der der Zusammenhang zwischen Bild- und Identitätsbildung wesentlich ist. Lacan beschreibt anhand des Spiegelstadiums den Eintritt des Menschen in die symbolische Ordnung: Ausgehend davon, dass ein Säugling in symbiotischer Beziehung zu seiner Mutter und seiner Außenwelt steht, durchläuft das Kleinkind das Spiegelstadium: Es erkennt sich beim Anblick im Spiegel als eigenständiges, von der Mutter losgelöstes Lebe-Wesen. Zum ersten Mal nimmt es seinen Körper nicht fragmentarisch, bzw. zerstückelt wahr, sondern sieht sich als vollständige Einheit, genauso wie es auch von anderen wahrgenommen wird. Das Selbst-Bild im Spiegel beschreibt Lacan als das Bild eines „Anderen“, da es sich an einem außerhalb des eigenen Körpers gelegenen Ortes befindet, der nicht länger mit dem des sehenden Subjekts identisch (Mutter) ist.198 Der Moment des Erkennens des Selbst-Bildes ist, so Lacan, also durch ein Verkennen gezeichnet, da die Selbst-Ständigkeit des Kindes rein fiktiv ist und es noch immer auf die Mutter als Ernährerin angewiesen ist. Das Selbst ist also nicht innerhalb des Subjekts angelegt, sondern entsteht außerhalb von uns, als imaginäre Einheit „im Anderen“. Das auf einem Bild basierende Ich, das im Spiegelstadium entsteht, bildet, so Lacan, eine ganze Sphäre des Psychischen aus, sie wird als das Imaginäre bezeichnet. Das Imaginäre bezieht sich auf den Blick und die Identifikation des Subjektes anhand des Bildes. „Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung. Daß ein Bild für einen solchen Phasen-Effekt prädestiniert ist, zeigt sich bereits zur Genüge in der Verwendung, die der antike Terminus Imago in der Theorie findet.“199 Die durch den Anderen hindurch bezogene Identität des Subjekts begründet sich also nicht auf einer „echten“ Wirklichkeit, sondern auf (Sprach-)Bildern, Signifikanten und einer zeitlebens imaginären und symbolischen Ordnung. Erst indem das Subjekt sprechend Anteil nimmt an dieser symbolischen Ordnung des Anderen, sich also durch Sprechakte veräußert, kann der Bereich des Imaginären überwunden werden. Der Andere taucht bei Lacan, als vermittelndes Drittes auf und durchkreuzt durch seine Anwesenheit die imaginäre Beziehung des Subjekts zu dem narzisstischen 197 Vgl. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: Norbert Haas (Hg.): Schriften I. Aus dem Französischen von Norbert Haas, Weinheim/Berlin: Quadriga 1986, S. 64. 198 Holger Reichert: Film und Kino. Die Maschinerie des Sehens. Die Suche nach dem Ort des Betrachters in der filmtheoretischen Diskussion. URL: http://www.univie.ac.at/Medienwissenschaft/reichert/dipl/Diplom05.htm 199 Ebd., S. 64. 67 Ich (moi). Durch die Gegenwart der Instanz des Dritten tritt eine unbewusste Rede hervor, wird also die Rede des Unbewussten das Selbst je zum Sprechen gebracht. Auch für seine Formulierung einer Ideologiekritik wurde für den französischen Philosophen Louis Althusser die sprachliche Anrufung des Subjekts und der von aussen kommende Hinweis auf seine Abhängigkeiten, wesentlich. Althusser definiert diesen Prozess als Interpellation, hier wird dem Subjekt mitgeteilt, das es abhängig von anderen ist und innerhalb von gesellschaftlich konstruierten Rollen agiert. Ideologie, so Althusser, liegt gerade dieser Adressierung zugrunde, besitzt also diese diskursiven Verfahrensweisen, durch die Subjekte angerufen und festgelegt werden. 200 1.6.2 Sprachkörper „ [...] das Subjekt sucht Zeichen seiner eigenen Existenz außerhalb seiner selbst- in einem Diskurs, der zugleich dominant und indifferent ist. Soziale Kategorien bezeichnen zugleich Unterordnung und Existenz.“201 Die Mutter stellt in Lacans Spiegelstadium die erste Begegnung mit dem symbolischen Anderen dar, die das Kind, für sich selbst sichtbar, in der sozialen Umwelt situiert und es in die Ordnung der Sprache einführt. Lacan formuliert, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei202 - Felix Guattari fügt dem hinzu: „Klar! Aber wodurch? Durch die Familie, durch die Schule, durch die Kaserne, durch die Fabrik, durch das Kino und in besonderen Fällen durch Psychiatrie und Psychoanalyse.“203 Durch Verbote und Einschränkungen des ödipalen Begehrens (u.a. Inzesttabu) wird das Kind auf seine Rolle in der Gesellschaft vorbereitet, denn hier dominieren soziale Vorstellungen und regiert das Gesetz des Symbolischen. Die Rolle des Vaters, der im Ödipuskonflikt als Gesetzesgeber auftritt, wird sowohl mit der Ordnung der Sprache, des Diskurses, als auch mit der der staatlichen Herrschaft und der Ökonomie in Verbindung gebracht. Das werdende Subjekt wird von dieser allgemein symbolischen Herrschaftsordnung zum einen unterworfen als auch hervorgebracht. Mit dem Begriff der Subjektivation verweist die US-amerikanische GenderTheoretikerin Judith Butler, sich auf Michel Foucault beziehend, auf eine Macht, 200 201 Ebd. Judith Butler: Psyche der Macht - Das Subjekt der Unterwerfung. Aus dem Englischen von Reiner Ansen. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2001, S. 25. 202 Jacques Lacan: Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Berlin: Quadriga 1987, S. 26 203 Felix Guattari: Die Couch der Armen [1975]. Aus dem Französischen von Hans Joachim Metzger, in: Die Couch des Armen. Die Kinotexte in der Diskussion, S.7- 27, S. 12. 68 die das Subjekt sowohl erzeugt, als auch unterwirft.204 Der Begriff Subjektivation verweise, so Butler, auf die paradoxe Form der Hervorbringung des Subjekts zum einen durch den Prozess des Werdens und zum anderen durch eine Unterwerfung des Subjekts. „[...] assujettissement bezeichnet sowohl das Werden des Subjekts wie den Prozess der Unterwerfung – die Figur der Autonomie bewohnt man nur, indem man einer Macht unterworfen wird, eine Subjektivation, die eine radikale Abhängigkeit impliziert.“205 Louis Althussers Konzept der Anrufung oder Interpellation bietet für Butler einen Anknüpfungspunkt um zu zeigen, mittels welcher Praktiken bzw. sprachlicher Mittel das geschlechtliche Subjekt erzeugt wird.206 Althusser illustriert seine Theorie der Anrufung mit der Szene eines Passanten, der von einem Polizisten angesprochen wird („He, Sie da!“): Der Ruf stellt sich als performativer Akt dar, mittels dessen das Subjekt im Rahmen der symbolischen Ordnung konstituiert wird. Darüber hinaus umfasst er die Aufforderung, eine Identität anzunehmen oder zu verwerfen (z.B. in der Anrufung mittels eines Namens „Frau“, „Jude“). Althusser bietet mit dem Konzept der Anrufung ein Erklärungsmodell für ein Subjekt, das als Konsequenz aus der Sprache entsteht. Er hinterfragt aber nicht, warum das Subjekt sich umwendet, den Anruf annimmt, die Schuldzuweisung annimmt, d.h. Komplizenschaft mit dem Gesetz, Wendung, Umwendung. Althussers Inszenierung, so Judith Butler, entwirft kein kritisches Subjekt, das sich, bevor es sich umdreht, nach dem Absender der Anrufung fragt. Er definiere, so führt es Butler aus, ein für das Gesetz anfälliges Subjekt, das durch sein komplizenhaftes Begehren des Gesetzes abhängig ist und durch das es erst Existenzberechtigung bzw. eine Identität erhält. Mit Michel Foucault wird an dieser Stelle noch ein dritter theoretischer Ansatz hinzugefügt, der uns im Fortlauf der Arbeit wiederbegegnen wird. Foucault untersucht Macht- und Wissensbeziehungen, die wesentlich zur Subjektbildung beitragen. 204 205 Judith Butler: Psyche der Macht - Das Subjekt der Unterwerfung, S. 82. Ebd., S. 81. 206 Ursprünglich galt Althussers Erklärungsmodell dem kapitalistischen Subjekt, das als Konsequenz aus der Sprache entsteht und kapitalistisch vergesellschaftet wird. In seinem 1969/70 veröffentlichten Aufsatz „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ untersucht er den Zusammenhang zwischen Reproduktion von Strukturen gesellschaftlicher Ideologie und das freiwillige Annehmen der permanent reproduzierten Struktur seitens der Betroffenen. Zitat Althusser: „Das kapitalistische Subjekt, das sich selbst als autonomes, einheitliches und freies sieht, wird letztlich beherrscht. Es missversteht sein Handeln als freien Akt, während es aber tatsächlich den Diktaten eines sozialen Gebildes untersteht.“ Zitat aus Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Aus dem Französischen von Frieder Otto Wolf. Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 1977, S. 108-106. Althusser bezeichnet die Beziehung der einzelnen Individuen zu ihren realen Lebensbedingungen als eine imaginäre, da das Subjekt durch die Ideologie zwar als freies konstituiert wird, aber tatsächlich nur insofern frei sei, da es seine Beherrschung freiwillig akzeptiert. Das heißt, die Funktionen dieser sozialen Rollen werden durch die Individuen immer falsch erkannt bzw. falsch wahrgenommen. Zentral bei der Reproduktion des Kapitalismus würde somit die Reproduktion von Subjekten, die sich selbst verkennen, bleiben. 69 „Das Subjekt wird entweder in sich selbst geteilt oder von den anderen unterschieden und getrennt. Dadurch wird es zum Objekt. Die Unterscheidung zwischen Irren und Nichtirren, Kranken und Gesunden, Kriminellen und ‚anständigen Leuten‘ ist ein Beispiel für diese Bestrebung.“207 Das Erkenntnissubjekt, das Foucault entwirft, ist wie bei Althusser auch nicht autonom oder steht außerhalb von Machtsystemen, sondern ist in sie immanent eingeschrieben. „Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht. Die Machtbeziehungen verhalten sich zu anderen Typen von Verhältnissen (ökonomischen Prozessen, Erkenntnisrelationen, sexuellen Beziehungen) nicht als etwas Äußeres, sondern sind ihnen immanent.“208 Foucault schreibt Macht keine repressive Rolle zu, sondern gibt ihr vielmehr produktive Züge. Damit verleugnet er repressive Machtbeziehungen nicht, die sich zeitweise in Strukturen und Institutionen verfestigen, sondern betont die gleichzeitig von statten gehende Produktivität von Widerständen und ihren relationalen Charakter zu eben jenen Machtdispositiven. „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch, oder vielmehr gerade deswegen, liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“209 Unter dem Begriff der Gouvernementalität fasst er unterschiedliche Regierungsbzw. Disziplinierungstechnologien (Fremd- und Selbsttechnologien) zusammen, die ein Ineinandergreifen von Subjektivierungsweisen und Herrschaftsformen beschreiben. „Der Begriff [Gouvernementalität] erlaubt es, das neoliberale Individualisierungsparadigma als ein subtiles Zusammenspiel von Selbsttechnologien, institutioneller politischer Herrschaft und ökonomischen Abhängigkeits- und Ausbeutungsrelationen zu verstehen. Charakteristisch ist, dass Subjektivität und Herrschaft sich nicht klar geschieden den Sphären des Persönlichen und des Staates zuordnen lassen.“210 Foucaults Theorie von der diskursiven Konstituiertheit des Subjekts in dem 207 Michel Foucault: Subjekt und Macht, in: Ästhetik der Existenz. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 81. 208 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen [1976], Bd.1. Aus dem Französischen von Ulrich Rolff/Walter Seither. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 94. 209 Ebd., S. 96. 210 Antke Engel: Bilder von Sexualität und Ökonomie, S. 33. 70 gesellschaftlichen Spannungsfeld von Körper, Macht und Wissen liefert verschiedenen postmodernen Theoriebildungen Argumente für eine Kritik an dialektischen oder naturalisierenden Machtkonzeptionen. Im zweiten Teil der Arbeit werden die Formen der Selbstpraktiken, die hier nur kurz angesprochen wurden, ausführlicher dargestellt. Folgend wird Felix Guattaris Kritik an der lacanschen Subjektkonstitution betrachtet: „Der ‚Anti-Ödipus‘ wollte auf die Verwüstungen hinweisen, die Ödipus, das ‚Mama-Papa‘ in der Psychoanalyse, in der Psychiatrie und selbst in der Anti-Psychiatrie, in der Literaturkritik und im allgemeinen Bild, das man sich vom Denken macht, anrichtet. Wir haben davon geträumt, Ödipus den Garaus zu machen.“211 In seinem Text „Die Couch des Armen“ vergleicht Felix Guattari unter dem Aspekt der „unbewussten Repression“ die Subjektivierungsprozesse einer psychoanalytischen Sitzung mit denen eines Kinobesuches: in beiden Situationen sieht er Maschinen am Werk, die die gesellschaftliche Libido modellieren. „Auf der analytischen Szene wie auf der Leinwand gilt, dass keine semiotische Produktion des Wunsches eine reale Nachwirkung haben darf. [...] Die Psychoanalytiker und in einem gewissen Ausmaß auch die Cineasten möchten als Wesen außerhalb von Zeit und Raum gesehen werden, als reine, neutrale, apolitische, nicht verantwortliche Schöpfer [...].“212 Für Guattari verfügen die Analytik_innen nicht über die Raster der psychoanalytischen Lektüre, genauso wenig wie die Filmemacher_innen (Industrie bzw. Hollywoodkino) Einfluss auf die Produktionsmechanismen im Kino haben. Das Unbewusste manifestiere sich allerdings im Kino auf andere Weise, als in der psychoanalytischen Sitzung: wesentlicher Unterschied, so Guattari, sei, dass das Kino der „Diktatur der Signifikanten“213 entgehe und sich nicht wie im analytischen Setting (Sprecher_in und Zuhörer_in) einfach auf ein sprachliches Diktum reduzieren lasse. Das Kino bestehe aus „a-signifikanten semiotischen 211 Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus - Kapitalismus und Schizophrenie. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke/Ronald Voullie, Berlin: Merve 1992, S. 1. „Anti-Ödipus“ ist der mit Gilles Deleuze gemeinsam entstandene Text, der sich als Kritik der Psychoanalyse von Jacques Lacan und Sigmund Freud versteht. Die Psychoanalyse erscheint hier als Instrument der Aufrechterhaltung von (unter anderem kapitalistischer) Dominanz und Repression, vor allem durch die Unterwerfung des Subjekts unter die phallische Struktur der Kultur. Dagegen entwerfen Deleuze und Guattari das Konzept der Wunschmaschine, eines maschinell gedachten Unbewussten, das, anders als in der Psychoanalyse, nicht sprachlich strukturiert ist. Das Subjekt ist demnach nicht vom negativen Mangel gekennzeichnet (wie bei Lacan), sondern vom positiven Wunsch. 212 Felix Guattari: Die Couch der Armen [1973]. Aus dem Französischen von Hans Joachim Metzger, in: Die Couch des Armen. Die Kinotexte in der Diskussion, Berlin: b_books 2011, S. 7- 22, S. 9 213 Stephan Gregory: Filmstreifen und Gensequenzen, in: Die Couch des Armen. Die Kinotexte in der Diskussion, Berlin: b_books 2011, S. 63- 77, S.72. 71 Ketten-gliedern, aus Intensitäten, aus einer Bewegung, einer Vielheit, die grundsätzlich dazu tendiert, der signifikanten Vernetzung zu entgehen und erst sekundär von der filmischen Syntagmatik modelliert zu werden, die an ihnen Genres fixiert, die auf ihnen Rollen und Verhaltensstereotypen so sich herauskristallisieren lässt, dass sie den herrschenden semantischen Feldern homogen werden.“ 214 Für Guttari funktioniert die Sprache im Kino nicht in derselben Weise wie in der Psychoanalyse, sie sei nicht Gesetzgeberin, sondern Mittel, „ein Instrument einer komplexen semiotischen Orchestrierung.“ 215 Die semiotische Orchestrierung beschreibt er als „ein dauerndes Hin- und Her von perzeptiven Codes, die übergehen zu musikalischen, konnotativen, rhetorischen, technologischen, ökonomischen soziologischen usw. [...] aber sie bilden keine signifikante ‚Substanz‘.“216 Mit A-signifikanten Bestandteilen sind Verkettungen, innere Bewegungen der visuellen Figuren, Farben, Klänge, Rhythmen, Gesichtszüge, Worte, etc. gemeint. Im Unterschied zur Sprache und Schrift gehen die Ausdrucksmittel im Kino in verschiedene Richtungen. Den französischen Kinotheoretiker Christian Metz zitierend, konkretisiert Guattari diese Richtungen: das phonische Gewebe des Ausdrucks (das auf die gesprochene Sprache verweist), das tonale, aber nicht phonische Gewebe des Ausdrucks (das auf die Instrumentalmusik verweist), das visuelle und farbige Gewebe (das auf die Malerei verweist), das visuelle aber nicht farbige Gewebe (das auf die Schwarz-Weiß-Fotografie verweist) und die Gesten bzw. die Bewegungen des menschlichen Körpers. Diese semiotischen Verknüpfungen des Kinos würden durch die Personen und die Sprache der „normalen“ Kommunikation, wie man sie in der Familie, in der Schule, oder bei der Arbeit kennt, hindurch laufen und deterriotorialisieren sämtliche Repräsentationen. Mauricio Lazzarato aktualisiert Guattaris Konzept der A-Signifikanten, indem er zusammenfasst: Guattari stellt der herrkömmlichen „Politik der Signifikation“217 eine „Politik des Ausdrucks“218 gegenüber. Zuvor wären Subjektivierungsprozesse der Arbeiter_innenbewegung durch disziplinargesellschaftliche Politiken der Signifikation und der Repräsentation bestimmt worden, in denen der Bezug zum Realen über das Bewusstsein und die Repräsentation (Parteien, Gewerkschaften) verlief. Im Unterschied dazu, würden sich A-Signifikante Semiotiken durch Zeichen direkt an die Körper anschließen (Affekte, Begehrensweisen, Emotionen und Wahrnehmungen), die aber anstatt einer Bezeichnung dann als Folge Handlungen, Reaktionen, bestimmte Einstellungen oder Haltungen auslösen. Grundlegender Unterschied von Bezeichnungen und A-Signifikanten ist also, dass die A214 215 Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. 216 Ebd., S. 16. 217 Mauricio Lazzarato: Der `semiotische Pluralismus´ und die neue Regierung der Zeichen Hommage an Félix Guattari. Aus dem Französischen von Stefan Nowotny, in: EIPCP, 06/2006, URL: http://eipcp.net/transversal/0107/lazzarato/de (27.01.2013). 218 Ebd. 72 Signifikanten nicht durch Bezeichnung, sondern Bewusstwerdungsprozesse) direkte Bewegung auslösen. durch Affekte (ohne „Der Kreislauf von Furcht, Angst oder Panik, durch die sich jene Atmosphäre und Tonalität ausbildet, in die unsere "Sicherheitsgesellschaften" getaucht sind, wird durch Zeichenmaschinen in Gang gesetzt, die sich nicht an das Bewusstsein wenden, sondern direkt an das Nervensystem, an die Affekte und Emotionen. Anstatt auf die Sprache konzentriert zu sein, sind die symbolischen Semiotiken des Körpers in sich selbst Aktivität – eine Aktivität, die über die industrielle, maschinische, nichtmenschliche Produktion von Bildern, Tönen, Reden, Intensitäten, Bewegungen, Rhythmen etc. verläuft.“219 Guattaris „Ströme und Wellen“ von Bildern, Tönen, Reden, Intensitäten können als nichtsprachlichen Teil einer diskursiven Praxis verstanden werden, die weniger mit festen Zuschreibungen, Medien oder Repräsentationen operieren, als vielmehr durch Affekte Handlungen und Bewegungen in Gang gesetzt sind, die relationale Macht, Wissens-, Unterwerfungs-, Widerstands- und Werdensprozesse verbinden. Wie sich zum Ende des 3. Teils feststellen läßt, ist das von Guattari erwähnte Ende der „Diktatur des Signifikanten“ durch die Unmittelbarkeit der Affekte und der Wünsche wesentliches Mobilisierungselement in gegenwärtigen politischen Bewegungen und stellt eine neuartige sozial-kommunikative Repräsentationsform dar, die durch bewegte individuelle Befindlichkeiten initiiert wird. Guattaris „semiotische Orchestrierung“ steht den gegenwärtigen Arbeitssubjekten nahe, von denen Franco Beradi spricht, die durch Flexibilisierung, Fragmentierung und Fraktalisation in alle Richtungen ver- und zerstreut werden.220 Guattari erhofft sich nicht sehr viel von der psychoanalytischen Praxis, die er als Versuch sieht, Personen immer noch an das Modell des Freudismus anzupassen. Für ihn ist jedes Kino politisch, denn „jedes Mal, wenn es einen Mann, eine Frau, ein Kind oder ein Tier darstellt, nimmt es Teil am Mikro-Klassenkampf, der die Reproduktion von Wunschmodellen betrifft. [...] Bei jeder Regie, jeder Sequenz, jeder Einstellung stellt sich die Wahl zwischen einer konservativen Wunschökonomie und einer revolutionären Öffnung.“ 221 Die „revolutionäre Öffnung“ wurde durch Guattari durch die Einbeziehung von asignifikanten Tendenzen erweitert, die in sprachlichen Subjektkonstruktionen bisher unberücksichtigt blieben. Die „revolutionären Öffnung“ weist auf Widerstände gegen vorherrschende Repräsentationsmodelle durch a-signifikante Ströme hin. 219 Mauricio Lazzarato: Der `semiotische Pluralismus´ und die neue Regierung der Zeichen Hommage an Félix Guattari. Aus dem Französischen von Stefan Nowotny, in: EIPCP, 06/2006, URL: http://eipcp.net/transversal/0107/lazzarato/de (27.01.2013). 220 Franco Berardi: The Soul at Work: From Alienation to Autonomy, aus dem Italienischen von Francesca Cadel/Giuseppina Mecchia, Los Angeles: Semiotexte, 2009. 221 Felix Guattari: Die Kinowunschmaschinen [1973]. Aus dem Französischen von Susanne Leeb, in: Die Couch des Armen, Die Kinotexte in der Diskussion, S. 131-145, S. 144. 73 Sie bildet hier nun auch den Übergang zum nächsten Abschnitt, in dem es um Kritik geht, in der die eigene Ausgangslage mitgedacht und danach gefragt wird, wie diese Kritik „verkörpert“ wird. 1.7 Kritik verkörpern: Was ist Kritik? Im vorherigen Kapitel ging es um die sogenannte Subjektbildung und darum, dass in der Subjektformation verschiedene Kräfte und Machtbeziehungen am Werke sind. Hierzu stellt sich im Anschluss die Frage: Wie machen sich diese Machtbeziehungen bemerkbar und wann formen sie das werdende Subjekt?: „Wer kann ich in einer Welt werden, in der die Bedeutungen und Grenzen des Subjektseins für mich schon festgelegt sind? Welche Normen schränken mich ein, wenn ich zu fragen beginne, wer ich werden kann? Und was passiert, wenn ich etwas zu werden beginne, für das es im vorgegebenen System der Wahrheit keinen Platz gibt?“222 In diesem Abschnitt wird Kritik als Praxis vorgestellt,223 die zusammen mit Repräsentationstaktiken und Subjektivierungsprozessen Überlegungen nachgeht, die das Umarbeiten von sozialer Wirklichkeit bewirken. „ [...] die Hauptaufgabe der Kritik [besteht] nicht darin zu bewerten, ob ihre Gegenstände - gesellschaftliche Bedingungen, Praktiken, Wissensformen, Macht und Diskurs - gut oder schlecht, hoch oder niedrig geschätzt sind; vielmehr soll die Kritik das System der Bewertung selbst herausarbeiten.“224 In dem Sinne lässt sich auch das folgende Zitat verstehen, in dem Ricardo Piglia anstatt „System der Bewertung“ den Begriff Autobiografie verwendet, der die ideologische, kulturelle oder historische Position, die Methode bzw. die Lebenssituation der Kritiker_in betont. „ In Bezug auf Kritik, denke ich, ist sie eine der modernen Formen der Autobiografie. Jemand schreibt sein Leben, wenn er/sie über seine/ihre Lektüre berichtet. [...] Der Kritiker ist derjenige, der sein Leben im Inneren der Texte rekonstruiert, die er liest. Die Kritik ist eine postfreudianische Form der Autobiografie. Eine ideologische, theoretische, politische und kulturelle Autobiografie. Und ich sage Autobiografie, weil alle Kritik von einem ganz bestimmten Ort aus geschrieben wird, einer sehr konkreten 222 Judith Butler: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. Aus dem Englischen von Jürgen Brenner, in: EIPCP, 05/2001, URL: http://eipcp.net/transversal/0806/butler/de (27.01.2013). 223 Judith Butler beschreibt, dass Praxis abhängig ist von den Wissensmöglichkeiten des Subjekts, vom Horizont der Wissenseffekte, in dem es operiert. Die kritische Praxis hat ihren Ursprung in keiner angeborenen Freiheit sondern Zitat Judith Butler: „[…] wird vielmehr im Schmelztiegel eines bestimmten Austauschs zwischen einer Reihe (schon vorhandener) Regeln oder Vorschriften und einer Stilisierung von Akten geformt, die diese schon vorhandenen Regeln und Vorschriften erweitert und reformuliert. Diese Stilisierung des Selbst in Beziehung zu den Regeln gilt als eine ‚Praxis‘.“ In: Ebd. 224 Judith Butler: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend, EIPCP, 05/2001. 74 Position. Das Subjekt, das kritisiert, ist in der Regel maskiert durch die Methode (manchmal ist das Subjekt die Methode) aber immer anwesend rekonstruiert es seine Geschichte und seinen Ort, das ist die beste Art, Kritik zu lesen.“225 Ein befreundeter Historiker antwortet auf meinen Versuch, ihm zu erklären, wie ich Kritik und Autobiografisches in dieser Arbeit zusammendenke, dass das zuvor erwähnte Zitat von Ricardo Piglia, auch wenn es von einem noch so klugen Kopfe kommt, nicht überzeugen würde. Autobiografie würde mit dem Standpunkt des/der Autor_in verwechselt. Autobiographie sei ein Genre, in dem das eigene Leben in eine Erzählung gebracht wird, die in seiner Form einer Kette von Ereignissen ähnelt. Der Standpunkt sei die subjektive Position, von der aus man eine Sache angehe, betrachten würde, und diese Position ist selbstverständlich immer von dem eigenen Leben mitbestimmt. Als Kritiker_in schreibe er/sie sich in seine/ihre Beschreibung von etwas mit seinem/ihrem eigenen Leben mit ein, „aber er/sie schreibe nicht die Geschichte seines/ihres Lebens.“226 Der letzte Satz meines Bekannten verdeutlicht ein allgemeines Verständnis von Autobiografie, das im Unterschied zu dem Verstehen des Autobiografischen in dieser Arbeit steht: es geht nämlich genau um diesen Standpunkt des/der Produzent_in. Wer oder was spricht (auch) noch mit, ohne dass explizit über das Leben des/der Autor_in gesprochen wird? Unter autobiografisch verstehe ich nicht die Geschichte des Lebens sondern autobiografische Fragmente, Splitter und vor allem Prozesse, die den Platz der Kritiker_in nicht an einem individuellen Standpunkt (Schreibtisch, Bibliothek), sondern an einem sozio-historischen und gemeinschaftlichen Ort sehen. Selbstverständlich schreibt er/sie die Kritik lebend! Marta Malo de Molinas fasst das wie folgt zusammen: „Nein, mein(e) Herr(en): Das Denken durchzieht immer den Körper, und daher handelt es sich stets um ein situiertes, involviertes Denken, das von einer Seite her Aufstellung nimmt. Die Frage ist also, von welcher Seite her nehmen wir Aufstellung? Oder was dasselbe ist, mit wem denken wir? Mit den Arbeitskämpfen, den Dynamiken der Konfliktualität und der sozialen Kooperation, den Frauen, den Verrückten, den Kindern, den lokalen Gemeinschaften, den unterdrückten Gruppen, den selbst-organisierten Initiativen [...].“227 Von welchem sozialen Raum aus und warum wird kritisiert? Hinter welchem vielleicht auch methodischen, ideologischen, oder einfach überlebensnotwendigen Konzept versteckt sich das schreibende oder auch filmende Subjekt, das kritisiert? Die Kritik spricht davon. Was bringt uns das Aufdröseln oder das Zutagelegen der autobiografischen 225 226 Ricardo Piglia: Crítica y ficción, Barcelona: Anagrama 2001, S. 13, [Übersetzung A. S.]. Aus meiner E-Mail Korrespondenz mit Olaf Berg, Barcelona-Hamburg 2011. 227 Marta Malo de Molina: Gemeinbegriffe, Teil 1: ArbeiterInnenbefragung und ArbeiterInnenMituntersuchung, Selbsterfahrung, EIPCP, 04/2004. 75 Schichten, die in Kritik stecken? Die Frage muss, um für diese Arbeit von Nutzen zu sein, anders formuliert werden: „Wie lässt sich Kritik verkörpern?“228 Mit „die Kritik zu verkörpern“ wirft die katalanische Philosophin und Aktivistin Marina Garcés die Frage auf, wie das Leben selbst derart subvertiert werden kann, dass die Welt nicht mehr die gleiche ist. Mit dem kleinen Wort derart (indem das Wort art, die Kunst steckt)229 verweist sie auf Foucaults vielfach zitiertes Zitat: „Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird - daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?“230 Ich möchte auf die Frage mit Mauricio Lazzaratos Aktualisierung von Guattaris Begriff der A-Signifikanten im Subjektivierungsprozess des vorherigen Kapitel antworten, denn dort konnten wir feststellen, dass die gegenwärtigen Unterwerfungsmechanismen bzw. Subjektivierungsprozesse direkt an den Körpern (Affekte, Begehrensweisen, Emotionen und Wahrnehmungen) ansetzen und wir nicht mehr von einem Subjekt ausgehen, dass sich durch Ausdruck und Bewusstseinsbildung, als sich selbsterkennendes Subjekt, befreien muss. Entsprechend folgert Garcés, dass sich auch Kritik anders artikulieren muss. „Das Problem der Kritik ist heute folglich kein Problem des Bewusstseins, sondern ein Problem des Körpers: Die Kritik richtet sich nicht an ein Bewusstsein der Welt gegenüber, sondern an einen Körper, der in und mit der Welt ist.“231 Als größte Herausforderung der Kritik nennt Garcés den Kampf gegen die Privatisierung der Existenz. In einer globalisierten Welt würden nicht nur die Güter und die Erde, sondern auch die Existenz selbst privatisiert und diese Privatisierung der Existenz veranlasst, dass jeder/jede seine ganz persönlichen Feinde hat. „Die Kampffronten lassen sich kaum mit anderen teilen. Sie dringen in jede Zelle unseres täglichen Elends ein, das genau darum elend ist, weil jede/r mit dem eigenen Elend als Individuum oder mit dem eigenen kleinen Ghetto allein ist.“232 228 Die Frage ist aus dem Text von Marina Garcés abgeleitet, Marina Garcés: Die Kritik verkörpern Einige Thesen. Einige Beispiele. Aus dem Spanischen von Birgit Mennel, in: EIPCP, 06/2004, URL: http://eipcp.net/transversal/0806/garces/de (27.01.2013). 229 Der Begriff „art“ oder „Kunst“ steht in Beziehung zum griechischen Wort techne und Foucault nennt die Kritik in seinem Vortrag nicht nur eine „Kunst“ und eine „Tugend“, sondern auch eine „Technik“. Gerald Raunig führt aus, dass das keine Erfindung Foucaults sei, sondern eine Tradition, die zurückreicht auf die ersten Verwendungen des Begriffs „Kritik“. Bei Platon tauche der Begriff zuerst im Politikos als kritiké techne, die Kunst, das Handwerk des Unterscheidens auf. In: Gerald Raunig: Was ist Kritik? Aussetzung und Neuzusammensetzung in textuellen und sozialen Maschinen, in: EIPCP, 04/2008, URL: http://eipcp.net/transversal/0808/raunig/de/print (27.01.2013). 230 Vgl. Michel Foucault: Was ist Kritik. Foucault untersucht in seinem Vortrag von 1978 „Was ist Kritik?“ wogegen oder gegen wen sich Kritik richtet. Er erörtert dies mit der Beschreibung der drei sogenannten Regierungskünste in der zivilen Gesellschaft: 1.) Ideologie, Religion, politisches System, 2.) dem Rechtsystem und 3.) der Wahrheitsproduktion. Ebd., S. 14. 231 Marina Garcés: Die Kritik verkörpern Einige Thesen. Einige Beispiele, EIPCP, 06/2004. 232 Ebd. 76 Wenn Garcés von Kritik verkörpern spricht, meint sie damit, aus der eigenen Erfahrung heraus, sich gemeinsam in Bewegung zu setzten, auch wenn das noch so unmöglich und aussichtslos erscheint. „Die Frage nach dem Wir zu stellen verlangt, vom einzigen auszugehen, was wir haben – von unserer eigenen Erfahrung. Die Frage nach dem Gemeinschaftlichen verlangt heute den Mut, in die eigene Welterfahrung einzutauchen, auch wenn diese kahl und ohne Versprechen ist. Darauf beruht die Verkörperung der Kritik.“233 Garcés geht von den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen aus, in denen es schwierig ist, den Feind oder auch den Verursacher eines Unbehagens zu lokalisieren, da er verschleiert, privatisiert bzw. als Teil des eigenen konstituierenden Selbst eine sich permanent wandelnde Form annimmt. Die Grenzen verschwimmen, und allzu oft lokalisiert sich die „Dialektik von Herr und Knecht“ sogar in ein und derselben Person – und wird damit in ihr aufgehoben: d.h. verwahrt und unkenntlich gemacht. Die Trennungslinie zwischen Freund und Feind, die für Carl Schmitt (1927) das Wesen des Politischen ausmachte, lässt sich nicht mehr ziehen. Wir sind zugleich unsere eigenen Freunde und Feinde – und kämpfen, so wie wir kämpfen, darum in erster Linie gegen uns selbst. Widerstand zersplittert und richtet sich, gewendet als Ambivalenz, Selbstzweifel und Angst, zunehmend nach innen.234 In den folgenden Arbeitsbesprechungen wird es um Kritiken gehen, in denen die Produzent_innen selbst Teil eines System sind, das sie kritisieren. Sie sind selbst ihre Forschungssubjekte. Man könnte solche Projekte plakativ als Betroffenheitsfilme abstempeln, oder sie aber, und darauf zielt die Untersuchung ab, als künstlerische Praxis verstehen, die in Bildpolitiken, Wahrheits- Macht- und Wissensdiskursen mitmischt, um diesen Job (im wahrsten Sinne des Wortes!) nicht Anderen zu überlassen. „ [Es geht] um eine Praktik, sich seine eigene Geschichte zu machen: gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren [de faire comme par fiction], die von der Frage nach den Beziehungen zwischen den Rationalitätsstrukturen des wahren Diskurses und den daran geknüpften Unterwerfungsmechanismen durchzogen ist.“235 Meine These ist, dass die „Rationalitätsstrukturen des wahren Diskurses“, die bei Foucault befragt werden müssen, um „sich eine eigene Geschichte zu machen,“ bei 233 234 Ebd. Anil K. Jain: Ankerpunkte des Widerstands, die Geschichte des Unbehagens, in: Homepage des Autoren Anil K. Jain, 2006, URL:http://www.power-xs.net/jain/pub/ankerpunkte.pdf (27.01.2013) 235 Michel Foucault: Was ist Kritik, S. 26. 77 Rancière der „herrschenden Fiktion“236 bzw. der „konsensuellen Fiktion“237 entsprechen, die sich (als „geleugnete Fiktion“)238 für die wahre Geschichte ausgibt. Rancière geht davon aus, dass es keine Wirklichkeit an sich gäbe, sondern nur Gestaltungen eben dieser: „Das Reale ist immer ein Gegenstand von Fiktion, das heißt eine Konstruktion des Raumes, wo sich das Sichtbare, das Sagbare und das Machbare miteinander verknüpfen. Die herrschende Fiktion, die konsensuelle Fiktion leugnet ihre fiktionale Eigenschaft und gibt sich als Wirkliches selbst aus und zieht eine einfache Trennlinie zwischen dem Bereich dieses Wirklichen und dem der Repräsentationen und Erscheinungen, der Meinungen und der Utopien.“239 Er spricht davon, dass die künstlerische Fiktion und die politische Aktion das Wirkliche aushöhlen, es spalten und vervielfältigen. Demzufolge sei die Arbeit von Politik, neue Subjekte zu erfinden und neue Gegenstände und eine neue Wahrnehmung des gemeinsam Gegebenen einzuführen, das sei „auch eine Arbeit der Fiktion.“240 „ [...] das Verhältnis der Kunst zur Politik [ist] nicht ein Übergang von der Fiktion zum Wirklichen, sondern ein Verhältnis zwischen zwei Arten, Fiktionen zu produzieren.“241 Die Praktiken der Kunst tragen dazu bei, so Rancière, eine neue Landschaft des Sichtbaren, des Sagbaren und des Machbaren zu zeichnen; bei Foucault geht es darum, sich eine eigene Geschichte zu machen (die ebenfalls eine Fiktion darstellt). Butler entwickelt, sich auf Foucault beziehend, die These, dass Kritik über bloßes Beurteilen, Verurteilen und Urteilen einer Sache hinausgeht. Da sich im Kritisieren eine neue Praxis eröffne, die die (kritisierte) Sache zu transformieren beginnt. Das Urteil wird suspendiert, Kritik sei „eine Praxis, die das Urteil aussetzt“.242 Kritik habe also eine doppelte Funktion: Suspension und Neuerfindung. „Die Kritik [ist] die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“243 Die beiden Begriffe Entunterwerfung (Foucault) und Ent-Identifizierung (Rancière) weisen ebenfalls eine Nähe zu einander auf. Als Prozess der „Ent236 237 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 92. Ebd. 238 Ebd. 239 Ebd. 240 Ebd. 241 Ebd. 242 Judith Butler: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend, EIPCP, 05/2001. 243 Michel Foucault: Was ist Kritik?, S. 15. 78 Identifizierung“ bezeichnet Rancìere die Emanzipation die durch den Bruch mit der konsensuellen Ordnung (konsensuelles Gewebe) entsteht, indem die Arbeiter_innen Tätigkeiten nachgehen, die ihnen nach den Regeln der bestehenden Ordnung nicht zustehen. In dem Moment beginnen sie die eigene Identität zu erweitern bzw. umzuarbeiten. „In seiner ursprünglichen Bedeutung heißt „kritisch“ das, was die Trennung, die Unterscheidung betrifft. Kritik ist die Kunst, die die Trennlinien verschiebt, die in das konsensuelle Gewebe des Realen eine Trennung einführt, und die das konsensuelle Feld des Gegebenen gestalten, durcheinander bringen [...].“244 Wie bereits angemerkt, ist die Schwierigkeit von Kritik heute, dass sie das Subjekt in sich selbst spaltet, da die Trennlinie durch das Selbst hindurch läuft, demzufolge Kritik verkörpert. Ergänzend zum Exkurs der Subjektbildung im vorherigen Abschnitt, wurde in diesem Abschnitt die Möglichkeit der kritischen Erkenntnis über die subjektkonstituierenden Relationen verhandelt: „Ein Subjekt entsteht in Beziehung auf eine etablierte Ordnung der Wahrheit, aber es kann auch einen bestimmten Blickwinkel auf diese etablierte Ordnung einnehmen, um rückwirkend seinen eigenen ontologischen Grund zu suspendieren“245. Bezeichnenderweise wollte Foucault seinen Vortrag „Was ist Kritik?“ eigentlich „Was ist Aufklärung?“ betiteln. Für Foucault ist der Widerstand gegen Autorität ein Kennzeichen der Aufklärung. „Um gegenüber einer als absolut auftretenden Autorität kritisch zu sein, bedarf es einer kritischen Praxis, die durch und durch selbsttransformativ ist.“246 Wie werden nun aber Repräsentation, Subjektivierungsprozesse und Kritik mit dem Begriff des Unbehagens (Malestar) zusammengebracht? Zu Anfang dieser Arbeit wurde Unbehagen als „unsicheres Terrain“247, als „ein unsicherer Ort“, der „sich einstellt wenn Bezugsrahmen verschwinden“ dargestellt. Das Wort „unsicher“ würde ich durch „prekär“ ersetzen, denn es ist, so scheint mir, zu sehr von Absichern und Sicherheitstechnologien bestimmt, die ein „unsicheres Terrain“ erschließen und „sichern“ sollen. Auch würde ich der Beschreibung von Unbehagen das Vereinzelt-Sein hinzufügen, denn oftmals wird Unbehagen erst einmal als etwas erlebt, das einen von Anderen trennt und mit dem Gefühl „fehl am Platz zu sein“ einhergeht. Unbehagen formuliert sich erst in dem Moment, in dem es mitgeteilt bzw. mit anderen geteilt wird. Dabei stellt das Hinterfragen der eigenen Sprecher_innenposition und damit die Untersuchung des eigenen Verwachsen-Seins und das 244 245 Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, S. 92. Judith Butler: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend, EIPCP, 05/2001. 246 Ebd. 247 Mareike Teigeler: Unbehagen als Widerstand. Fluchtlinien der Kontrollgesellschaft bei Helmuth Plessner und Gilles Deleuze, S. 264. 79 Werden in kulturellen, theoretischen und sozio-historischen Diskursen einen wesentlichen Bestandteil dar, Unbehagen durch Kritik an bestimmten Verhältnissen „dingfest“ zu machen bzw. zu verorten. An dieser Stelle operieren Repräsentationsformen, Subjektivierungsprozesse und Kritik. Aber wie spricht Unbehagen zu uns, wenn die alten Muster, etwa die des historischen Materialismus, zur Identifizierung der Kräfte der Unterdrückung nicht länger greifen? „Das System arbeitet für und gegen unser Unbehagen. Es schafft uns Unbehagen. Aber es schließt uns ebenso ein und behagt uns, versucht unser Unbehagen abzulenken und zu zerstreuen, in Zerstreuungen. Es droht auch. Aber in erster Linie bewirkt es, daß unser Unbehagen diffus und unklar bleibt, daß es keine Richtung nehmen kann – um zu tatsächlichem Widerstand zu werden.“248 Mit „Kritik verkörpern“, um noch einmal auf den Titel dieses Kapitels zurück zukommen, ist also eine Praxis gemeint, sich den prekarisierten Orten auszusetzen, insbesondere wenn sie sich nach innen und gegen einen selbst richten, um sie ins Gemeinschaftliche zu übertragen. 248 Anil K. Jain: Ankerpunkte des Widerstands, die Geschichte des Unbehagens, in: Homepage des Autoren Anil K. Jain, 2006, URL:http://www.power-xs.net/jain/pub/ankerpunkte.pdf (27.01.2013) 80 2. Das Private ist politisch: Das Unbehagen als Frau im öffentlichen Leben nicht vorhanden zu sein Kurzer Exkurs: die deutsche Frauenbewegung Es gibt verschiedene historische Koordinaten, um die Entstehung der bundesdeutschen Frauenbewegung zeitlich zu verorten. Hier finden drei Erwähnung, die im Filmbeispiel „Der subjektive Faktor“ von Helke Sander249 eine Rolle spielen. Als Reaktion auf die große Koalition, der bislang opponierenden Parteien von CDU/CSU und SPD bildete sich die sogenannte „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) und kurze Zeit danach die Student_innenbewegung, deren Organisation der sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) war. Die SDS relevanten Themen bezogen sich nicht nur auf Angelegenheiten im Hochschulbetrieb sondern konzentrierten sich allgemein auf politische Themen im Wirtschafts- und Gesellschaftsbereich der Bundesrepublik Deutschland. Der Vietnamkrieg und die US-amerikanische Interventionspolitik 1967 mobilisierten nicht nur in den USA sondern auch in Deutschland Student_innen insbesondere in der alliierten Stadt Westberlin („deren Studentenschaft wie über eine verborgene Nabelschnur mit der Protestbewegung in den USA verbunden war“)250 . Die Berichterstattung der Springerpresse über die Proteste wurde zu einem wesentlichen Kritikpunkt der Student_innen. Relativ bald erkannten Frauen, dass sich in der organisierten Student_innenbewegung der Widerspruch zwischen den Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung und der Art und Weise wie diese von den männlichen Kollegen organisiert wurde, auftat. Es geschah also nicht zufällig, dass sich die Frauen während der Proteste und der Aktivitäten zu Vietnam zusammenfanden. Die Beschäftigung mit den Unterdrückungsmechanismem und dem Kolonialismus brachte Interpretationsmuster hervor, mit denen sie auch die eigene Situation besser verstehen konnten, die Unbehagen bereitete: „die männlichen Kommilitonen [gingen] zu Demonstrationen, Vorträgen und diskutierten untereinander, entwarfen Flugblätter usw. und diktierten den Frauen ausführende Arbeiten [...] Frauen durften die Flugblätter abtippen, Kaffee kochen und die Kinder während der öffentlichen Aktionen betreuen. Auf den Versammlungen kamen sie kaum zu Wort, oder ihre Äußerungen wurden milde belächelt, zumindest blieben sie ohne Wirkungen.“251 Theoretische Grundlagen für die allgemeine Student_innenbewegung bildeten die Lektüren von Autoren der Frankfurter Schule, Karl Marx, Friedrich Engels, Wilhelm Reich, Herbert Marcuse, Lenin, Mao etc. . In dieser Zeit wurde in der theoretischen Auseinandersetzung über das Konzept der proletarischen und bürgerlichen Öffentlichkeit die miserable Situation der Frauen komplett ignoriert (obwohl Autoren wie Oscar Negt und Alexander Kluge 249 250 Helke Sander: Der subjektive Faktor [DVD] Deutschland: Neue Visionen Film 1980/81. Ulrich Enzensberger: Warum brennst du, Konsument?, in: TAZ. Hamburger Tageszeitung, 25/09/2004, URL: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2004/09/25/a0315 (22.07.2013). 251 Rosemarie Nave-Herz: Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Hannover: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung 1997, S. 39. 81 ausdrücklich auf die Exklusion der Frauen in der Öffentlichen Sphäre hinwiesen),252 bis diese selbst anfingen, sich zu organisieren und ihre Erfahrungen als Randgruppe politisch selbst zu vertreten. Konkret ging es um die Forderung nach Eigenständigkeit (z.B. gefördert durch Kinderbetreuung) und Selbstverantwortung, der Beteiligung von Frauen im politischen und gesellschaftlichen Leben, die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und um den Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen 218 BGB. In der Selbst-Vertretung des weiblichen Unbehagens verwendete insbesondere der „Sozialistische Frauenbund Westberlin“, der zuvor „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“ hieß, marxistisches Vokabular, das vom proletarischen Klassenkampf auf die Situation der Frau angewendet und auf diese umgearbeitet wurde. „Die klassenmäßige Aufteilung der Familie mit dem Mann als Bourgeois und der Frau als Prolet - Herr und Knecht impliziert die objektive Funktion der Männer als Klassenfeind. Die Verleugnung des Führerprinzips im SDS ist blanker Hohn, weil jeder verheiratete oder im festen Verhältnis lebende SDSler Führer und damit gleichzeitig Ausbeuter einer Familie oder familienähnlichen Gruppe ist. Die Begriffe Klasse, Klassenfeind, Ausbeuter sind Hilfskonstruktionen, die den Frauen dazu dienen, sich auf den Begriff zu bringen, das heißt, ein Maß an geschlechtsspezifischer Solidarisierung zu erreichen, das erlaubt, die sinnliche Erfahrung dieser patriarchalischen Gesellschaft im politischen Kampf gegen diese zu wenden.“253 Demnach ging es nicht um die „Politisierung“ des Privatlebens, sondern es wurde die Aufhebung der bürgerlichen Trennung von Privatleben und gesellschaftlichem Leben gefordert: es sollte darum gehen, die Unterdrückung im Privatleben nicht als private Angelegenheit zu begreifen, sondern als politisch ökonomisch bedingt. In dieser Auseinandersetzung mit der Funktion von Frauen innerhalb der studentisch politischen Organisation begannen sich Frauengruppen zu bilden, die Praxisformen entwickelten, um die ihnen bisher zugeschriebene Rolle zu hinterfragen und auf die allgemein politische Agenda zu setzen. 2.1 Die feministische Praxis der Selbstbeschreibung Die als neuer Subjektivismus bezeichnete Phase Anfang der siebziger Jahre umschreibt unter anderem die auf Selbst-Beobachtung, Selbst-Erforschung und Selbst-Darstellung beruhende Verständigungsliteratur und die kommunikationsfördernde Funktion autobiografischer Texte innerhalb von Frauen252 Oscar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, Zitat: „An den vorherrschenden Interpretationen des Begriffs Öffentlichkeit fällt auf, dass Öffentlichkeit eine Vielzahl von Erscheinungen zusammenzufassen sucht, die zwei wichtigsten Lebensbereiche aber ausgrenzt: den gesamten industriellen Apparat des Betriebes und die Sozialisation in der Familie.“ S. 7. 253 Andrea Trumann: Feministische Theorie: Frauenbewegung und weibliche Subjektkonstitution im Spätkapitalismus, Stuttgart: Schmetterling 2002, S. 39. 82 Selbsterfahrungs-Gruppen. Oftmals lagen diesen Texten Erfahrungen aus den sogenannten „Consciousness-raising“ Gruppen zugrunde. „Analyzing our experience in our personal lives and in the movement, reading about the experience of other people's struggles, and connecting these through consciousness-raising will keep us on the track, moving as fast as possible toward women's liberation.“254 Die nordamerikanische Feministin Sarachild beharrt mit Nachdruck darauf, dass Selbsterfahrung keine „Methode“, sondern eine „kritische Waffe“ darstellt, um soziale Veränderungen anzugehen. Autorinnen wie Luce Irigaray, Hélène Cixous und Julia Kristeva bestätigten in ihren Theorien, dass sich selbst im Text zum Ausdruck zu bringen eine Möglichkeit beinhaltet, Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Leben neu zu erproben. Das Konzept von „writing the body“255 verweist in Bezug auf die psychoanalytische Theorie auf eine präödipale Phase, die sich vor dem Eintritt in das Gesetz des Vaters verortet, in der das Subjekt in die männliche Symbolik und Sprache eingeführt wird. Diese Theorien veranlassten zwischen den siebziger und achtziger Jahren eine ganz Reihe von Untersuchungen über die Erforschung von weiblicher Identität und Subjektivität. Zu dieser Zeit experimentierten Frauen mit verschiedenen Modi des autobiografischen Ausdrucks als Form von gegenkultureller Praxis und riefen mit dem Motto das Private ist politisch zu einer Produktion der Gegenöffentlichkeit auf, um die etablierten Repräsentations- und Partizipationsformen von Frauen innerhalb der Gesellschaft zu verändern. „Film facilitated the creation of a public sphere for female expression and for the extension of autobiographical dialogue to wide audiences. The production of public space is precisely the effect many filmmakers sought.“256 „Through film [women] hoped to iniciate a widespread grassroot process of consciuosness-raising. Personal histories were the private stories turned outward, positioning the female `I´ in a recognizable social network.“257 Frigga Haug beschreibt, dass das Anhäufen von Unterdrückungs- bzw. Gewaltgeschichten zwar das Selbstbewusstsein der Beteiligten stärkte, jedoch nach kurzer Dauer mutlos machte und viele Selbsterfahrungsgruppen nach einiger Zeit wieder 254 Kathie Sarachild: Consciousness-Raising: A Radical Weapon, in: Feminist Revolution, New York: Random House 1978, S. 144–150. 255 Vgl. u.a. Autor_innen Ann Jones Rosalind: Writing the Body: Toward an Understanding of l'ecriture feminine, in: Robyn R. Warhol/Diane Price Herndel (Hg.): Feminisms: An Anthology of Literary Theory and Criticism, New Jersey: Rutgers UP. 1991, S. 357-369. 256 Barbara Kosta: Recasting Autobiograpby. Women's Counterfictions in Contemporary German. Literature and Film, London: Cornell University Press 1994, S. 26. 257 Ebd., S. 26. 83 auseinanderbrachen. Haug konkretisierte in den siebziger Jahren mit dem von ihr ausgearbeiteten Konzept der Erinnerungsarbeit den Versuch, „das eigene Leben gemeinsam mit Anderen zu besichtigen“, um herauszufinden, was darin im Einzelnen geschieht. Das Projekt der Erinnerungsarbeit unterscheidet sich von den Selbsterfahrungsgruppen durch die Theoretisierung und Durcharbeitung von Erfahrungen. Die Geschichten, Alltagsskizzen und Erlebnisse der Einzelnen wurden aufgezeichnet, um sie dann kollektiv zu bearbeiten. Die Betonung des Konzeptes liegt auf Erinnerung und Arbeit mit dem Ziel, gewissermaßen „Expertinnen unseres Alltags zu“258 werden. „Statt den Alltag bewusstlos hinzunehmen, holen wir ihn noch einmal hervor, um die Punkte zu finden, an denen wir uns wehren können. Zugleich ist unser Schreiben ‚kulturzerstörerisch‘, denn die herrschende Kultur entmachtet uns doppelt. Moral, Sinngebung, Lebensweise sind uns zweifach fremd: sie sind aus der Kultur der Herrschenden und darin noch aus der von Männern. Sprache und Denkweisen, Gefühle und Haltungen beziehen sich auf Frauen als Unterworfene. Wenn wir anfangen zu schreiben, müssen wir in diesem Sinne ‚Kultur‘ zerstören.“259 Ein wesentlicher Aspekt des Vorgehens von Erinnerungsarbeit ist, sich als Protagonistin und nicht als Opfer von sozio-historischen Prozessen wahrzunehmen. „`Historisch leben´ meint, dass wir uns selber nicht als Natur und unhinterfragbare Gegebenheit akzeptieren, sondern als geworden und veränderbar.“260 Das Befragen von Macht- ,Wissens- und Wahrheitsrelationen wird als Umarbeitung der eigenen Geschichte praktiziert. Dabei werden die Selbsttechnologien, von denen Foucault spricht, ebenso durchleuchtet wie die institutionellen Macht- und Kontrolltechnologien. „Wir fragen danach, wie die einzelnen die Verhältnisse leben. Wir suchen nach der Art und Weise, in der die Menschen, indem sie sich in die gesellschaftlichen Strukturen hinein bauen, diese selber immer wieder reproduzieren.261 [...] Dabei untersuchen wir die Strukturen, die Verhältnisse, in denen Frauen leben, und wie sie sie ergreifen. Uns interessiert die individuelle Vergesellschaftung von Frauen. Dies wird gemeinhin als weibliche Sozialisation bezeichnet. Dieser Begriff drückt sich um die Aktivität der einzelnen bei ihrer 258 259 Frigga Haug: Erinnerungsarbeit, Hamburg: Argument 2001, S. 51. Ebd., S. 49. 260 Ebd., S. 64. 261 Ebd., S. 58. 84 Formierung. Da wir gegen das Erdulden krankmachender Verhältnisse sind und für die Veränderung, das tätige Eingreifen, liegt unser Hauptaugenmerk auf dem Prozess, in dem sich die Einzelnen selber in die Verhältnisse einbauen. Ziel ist das Ringen um Selbstbestimmung und Glücksfähigkeit gegen Fremdbestimmung und Unglück.“262 Einen wichtigen Hinweis gibt Haug hinsichtlich der Rolle von Repräsentation und Subjektivierung bei dem Vorgehen von Erinnerungsarbeit: „Die Bilder zu hinterfragen, den Stoff, aus dem wir uns machten, bewusst zu machen, destabilisiert nicht nur, sondern erlaubt zugleich, ein tragfähiges Gewebe herzustellen.“263 Hier verwendet Haug den Begriff des Stoffes und Gewebes, der uns in dem vorherigen Abschnitt schon bei Jacques Rancière als „konsensuelle Ordnung“ (bzw. als „konsensuelles Gewebe“) begegnete, der herangezogen werden muss, um die relationale Verstrickung umzuarbeiten („Ent-Identifizierung“). „Um uns in dieser Welt als bewusst Handelnde zu begeben brauchen wir einen großen Schuss an Respektlosigkeit gegen allerlei Normen und Werte, gegen den herkömmlichen Gebrauch von Sprache, gegen Themen und Arbeitsteilungen, gegen Verhalten und Denken. [...] Überall suchen wir nach den Spuren, in denen wir uns unterwarfen oder umgekehrt widerständig lebten und machen unsere Erinnerungen zum Beweis vorher formulierter Theorie. [...] Wir entziffern die Einzelheiten als Schriftzeichen über Zusammenhänge.“264 Die von Haug angesprochene Respektlosigkeit gegen Normen und Werte steht Foucaults Verständnis von Ungehorsam nahe, der sich als Widerstand gegen Autorität richtet. Sandra Frieden findet allerdings frauenemanzipatorisch gebildete Subjektpositionen genau an diesem Punkt problematisch: Anstatt sich auf ein zersplittertes, fragmentiertes postmodernes Subjekt zu beziehen, würde beim Experimentieren mit eigenen Alltagsgeschichten und autobiografischen Texten ein autonomes ganzheitliches Frauensubjekt geschaffen, das als geschlossene Autorität, einer Gesellschaft gegenübersteht, sozusagen eine Gegen-Autorität bildet. „Feministische Kritiker_innen, wie sehr sie sich auch den politischen Anliegen der Frauenbewegung verbunden fühlen, konnten nicht umhin, im gängigen Modell autobiographischer Zeugnisse auf die illusorische Einheit hinzuweisen, innerhalb derer das Selbst ein gesellschaftliches und linguistisches Konstrukt ist. Sie sehen eine komplexere Subjektivität, welche die Bedingungen und Widersprüche sowohl ihres Daseins als auch ihrer Verknüpfung mit der Narrativität in Frage stellt.“ 262 263 Ebd., S. 47. Ebd., S. 62. 264 Ebd., S. 64. 85 Der Rückgriff auf die Subjektivität in emanzipatorischer Absicht konterkariert u. U. seinen Zweck: Die Illusion der Ganzheit in den gängigen Autobiographien stützt die gesellschaftlichen Normen eher als sie zu stürzen. 265 Denn vom Standpunkt der Postmoderne aus wird „subjectivity as a force of resistance“266 als eine naive, anachronistische Annahme verworfen, da sie immer noch dem Versuch unterliegen würde, ein ganzheitliches autonomes Autor_innenSubjekt zu entwerfen, das von einer vortextuellen Wirklichkeit ausgeht und gegebene Strukturen eher verfestigt anstatt sie zu verändern. Nach Sandra Frieden müsste eine emanzipatorische Strategie im poststrukturalistischen Sinne die Problematisierung des Begriffs eines ungeteilten Selbst angemessen berücksichtigen und einarbeiten. „Das ‚Sich-Selbst-Erzählen‘ ist in der Tat zwiespältig, als Begriff wie als Methode, als Projektion eines ungeteilten Selbst wie durch die Formen des konventionellen Erzählens. Dieses Dilemma rückt die strukturellen und funktionalen Probleme für den Einsatz autobiographischer Modi als gegenkulturelle Praxis in den Vordergrund. Indem sie das Konzept eines ungeteilten Selbst festigt, und zwar sowohl durch ihren Inhalt als auch dadurch, dass sie eine Kommunikation von Modellen innerhalb der bestehenden öffentlichen Sphäre betreibt, hat die Autobiographie den Zwecken der herrschenden Gesellschaftsordnung gedient.“ 267 Die postmoderne, narrative Mit-Teilung eigener Erfahrung sieht sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, als ein zersplittertes, fragmentiertes, vielstimmiges und zugleich privatisiertes Subjekt zu handeln ohne dabei in eine ungesicherte Sprecher_innen-Position zu geraten, da es sich gespalten und prekär präsentiert. 2.2 Zwei Beispiele aus dem Kunstfeld Wenn ich hier den Begriff Kunstfeld verwende, so beziehe ich mich auf die oftmals getrennt wahrgenomme Sphäre der Kunst (auch Betriebssystem Kunst, Gegenwartskunst oder Kunstmarkt genannt), beispielsweise in Abrgenzung zu einer allgemeinen Produktionssphäre oder den sozialen Kämpfen. Bourdieu hat diese Sphären als Felder definiert.268 Für ihn bildet die Kunst, ein soziales Feld, dessen Autonomie als auch seine Abhängigkeiten von anderen sozialen Feldern (insbesondere Ökonomie und der Politik) eine besondere gesellschaftliche Bedeutung hat. Er hebt zum einen die Besonderheiten des 265 Sandra Frieden: Um Gottes Willen, bloss das nicht!’ Autobiographie, Gegenöffentlichkeit, und der kritische Frauenfilm, in J.M. Fischer, K. Prümm, H. Scheuer (Hg.): Erkundungen: Beiträge zu einem erweiterten Literaturbegriff. GöttingenVandenhoeck & Ruprecht, 1987. S.328 266 Gertrud Koch: Ex-Changing the Gaze: Re-Visioning Feminist Film Theory, in: New German Critique 34, London: Duke Univerity Press 1985, S. 139-153, S. 151. 267 Ebd., S. 329. 268 Zum Verständnis des Begriffes Kunstfeld: Vgl. Pierre Bourdieu: Aber wer hat denn die ,Schöpfer' geschaffen?, in: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 197-211. 86 künstlerischen Feldes hervor, dass mit schwer kalkulierbaren und teils widerspenstigen Logiken operiert und sich ersteinmal nicht nach marktkompatiblen Formeln richtet. Boudieu kann, und das ist der entscheidende Punkt, aber dann anhand seiner Analysen doch belegen, dass sich das Kunstfeld immer wieder in Abhängigkeit von vorrherschenden Diskursen und Werten befindet. 2.2.1 Die Performance „Waiting“ von der Künstlerin Faith Wilding Das erste Beispiel aus dem Kunstfeld bezeichne ich als „das Unbehagen über die normalisierte Entwicklungsgeschichte der Frau“. „Waiting for my breasts to develop Waiting to wear a bra Waiting to menstruate Waiting to read forbidden books Waiting to stop being clumsy Waiting to have a good figure Waiting for my first date Waiting to have a boyfriend Waiting to go to a party, to be asked to dance, to dance close Waiting to be beautiful Waiting for the secret Waiting for life to begin Waiting [...] “269 Der Textausschnitt stammt aus der Performance „Waiting“ von der Künstlerin Faith Wilding, die sie 1972 im Rahmen des Projektes Womanhouse dort aufführte. „Waiting“ basiert auf persönlichen Erzählungen anderer Frauen aus feministischen Consciousness-Raising Gruppen und wurde von der Künstlerin in monotoner Stimme vorgetragen: sie saß auf einem Stuhl und bewegte sich autistisch von vorne nach hinten, die Hände im Schoß. Die Performance wurde als Künstler_innenvideo aufgezeichnet und dokumentiert die Situation. „‚Waiting‘ came out of a feminist process and context of collaboration, and a feminist art politics which was trying to break down all manner of art world hierarchies and the notion of individual genius. On the other hand, I find myself being sought out as the creator and performer of ‚Waiting‘. Long ago I hit on the tactic of permitting ‚Waiting‘ to be performed by anyone who wants to perform it.“270 Faith Wilding kombiniert in „Waiting“ die eigene Geschichte mit Geschichten anderer Frauen und thematisiert auf die Art und Weise das Gemeinschaftliche von individueller Alltagserfahrung, die als vorprogrammierte bzw. vorbestimmte 269 Faith Wilding: Waiting, Performance im Womanhouse, California Institute of the Arts (CalArts) 1972. Der gesamte Text von Waiting ist auf der Homepage der Künstlerin, URL: http://faithwilding.refugia.net/waiting.html (27.01.2013). 270 Brett Stalbaum interviewt Faith Wilding: Substantial Disturbance, in: Switch, New Media Journal, V27, URL: http://switch.sjsu.edu/v7n1/brett.html (27.01.2013). 87 Lebenslinie erlebt wurde. Damit sich das sogenannte „Gemeinschaftliche“ reproduzieren kann, erlaubt Wilding die Vervielfältigung der Performance, gewissermaßen als Vorreiterin der Copyleft-Lizenzen, die im Kunstbetrieb in den meisten Fällen durch Urheberrecht reglementiert und verboten sind.271 2.2.2 Das Video „In Domination and the Everyday“ von Martha Rosler Als „das Unbehagen über die verschiedenen Macht-Beziehungen, die den Alltag durchkreuzen“ bezeichne ich das zweite Beispiel. In „In Domination and the Everyday“ von 1978272 stellt die US-amerikanische Künstlerin Martha Rosler anhand einer vielschichtigen audiovisuellen Collage die Komplexität ihres Alltags, von repräsentativer Rollenaufteilung und das Durchlaufen von Herrschaftsstrukturen im Kleinen (Familie, Mutter, Sohn, Künstlerin) als auch im Großen (Kunstbetrieb, amerikanisches und chilenisches Volk, chilenischer Diktator) vor. Macht ist „nicht etwas, was man erwirbt oder teilt, was man bewahrt oder verliert; [...] Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“.273 So rollte Foucault die Frage nach Macht und Herrschaft von Seiten der Macht her auf, und so lässt sich beschreiben, wie sie sich bereits durch die kleinsten Gemeinschaftkonstellationen (in Roslers Video Mutter, Kind, Radio und Fotografien) zieht. Roslers Video besteht aus Werbefotografien, Zeitungsfotos und Bildern aus dem Familienalbum der Künstlerin, darüber ist im unteren Bildteil ein Lauftext gelegt (Fragmente aus Texten der Frankfurter Schule der siebziger Jahre). Der Sound besteht aus dem Gespräch zwischen Mutter und Sohn vor dem ins Bett-GehenRitual des Sohnes, währenddessen läuft eine Radiosendung mit dem Gespräch eines Kunst-Galeristen, der über die Sechziger-Jahre-Kunstszene redet, in der es um den Kunstmarktbetrieb, künstlerische Tendenzen und Erfolg geht. Das erste Bild zeigt den chilenischen Diktator Agosto Pinochet, dazu ist im Lauftext zu lesen: „What I want to tell you about him right now is that he represents naked force [...] represents the raw fact of domination, repression, torture, starvation and death.“274 Der Ton des Videos besteht aus der Konversation zwischen Mutter und Sohn. Der Sohn ruft seine Mutter „Come here“, die Mutter fragt „What do you want? [...] “. Martha Rosler verdeutlicht mit der befehlenden Stimme ihres Sohnes eine der Ebenen, in denen sich Herrschaft parallel und transversal durch den Alltag zieht. Das Lachen in die Kamera der Familienbilder ähnelt dem Lachen der Gesichter aus der Werbung: Wer ahmt welchen Lebensstil von wem nach? Ahmt die Familie die Bilder aus der Werbung nach oder die Werbung die Familie? 271 Die Videoaufzeichnung der Performance befindet sich nicht in frei verfügbaren Sichtungsdispositiven. Ausschnitte der Performance sind auf der DVD von Laura Cottingham: Not For Sale: Feminismus und Kunst in den USA der Siebziger Jahre, New York: 1998, einsehbar. 272 Martha Rosler: Domination and the Everyday, USA: 1978, URL: http://www.ubu.com/film/rosler_domination.html (27.01.2013). 273 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, S. 94. 274 Am 16. Dez. 1977 verurteilt die UNO-Vollversammlung Chiles Regierung wegen fortgesetzter Verletzung der Menschenrechte. Vgl. URL: http://www.amnesty-chile.de/chronologie.html (27.01.2013). 88 Die kleinen Machtkämpfe zwischen Mutter und Sohn vor dem Schlafengehen zeigen die private Ebene von Herrschafts- und Überzeugungsversuchen. Die Fotografie von Pinochet als Repräsentant von purer Gewalt und Herrschaft über die Chilenen eröffnet die politische Dimension in einer Diktatur. Martha Rosler positioniert sich nicht außerhalb ihrer Repräsentationskritik. Die private Tonspur mit dem Gespräch ihres Kindes und die Bilder aus ihrem Leben verdeutlichen dies noch einmal - sie nimmt sich nicht aus, sondern steht innerhalb der verschiedenen Herrschaftsdiskurse. Möchte man Marthas Roslers Arbeit mit den Merkmalen des klassischen Autobiografieverständnisses untersuchen, stößt man auf einige Schwierigkeiten. Nur die Zusatzinformationen zu dem Video zeugen davon, dass die Stimme der Mutter, die Stimme der Künstlerin selbst ist und man kann so von einer dokumentarischen Selbstaufnahme von 32.10 Minuten aus dem Alltag von Martha Rosler ausgehen. Dass es sich bei den Fotos um Aufnahmen aus dem Familienalbum der Künstlerin handelt, wird nur für die aufmerksamen Zuschauer_innen ersichtlich, die Martha Rosler bereits aus anderen Videoperformances (u.a. „Semiotics of a kitchen“, 1975), in denen sie selbst als Performerin auftritt, kennen. Die familiäre Situation mit Mutter und Sohn lässt sich im Abspann bei der Namensnennung aus „In Cooperation mit Josh Neufeld Rosler“ schließen und bestätigt auf die Weise die Identität von Autorin, Protagonistin und Erzählerin durch die Namen. Selbst, wenn man nicht weiß, dass es sich in der Arbeit um die Künstlerin handelt erschließt sich das Video als komplexe Schichtung von unterschiedlichen Erzählsträngen: u.a. die einer privaten familiären Situation, die Darstellung eines Diktators und Werbeaufnahmen, eine Mikro- und Makroebene, in denen es um Dominanz und Unterdrückung geht, die sich merkwürdig spiegeln und durchkreuzen. 2.3 Politisierung des Lebens: Der Film „Der subjektive Faktor“ von Helke Sander „An often heard- angrily waged attack on the film begins with the words: for me it was all completely different. Exactly. Thats my point of departure.“275 Helke Sanders politischer Ausgangspunkt für den Film „Der subjektive Faktor“276 ist, dass jede/r die Geschichte der bundesdeutschen Frauenbewegung anders erzählen würde, und sie bezieht sich damit auf die Umsetzung ihrer ganz persönlichen Sicht und Partizipation in der zweiten Welle der bundesdeutschen Frauenbewegung. Genaugenommen ist der Film eine Nacherzählung und nimmt nicht mehr unmittelbar an den transformativen Veränderungen in der Gesellschaft teil, sondern nähert sich mit einem Abstand von ungefähr 10 Jahren reflektiv dem Austragungsort. Der Film „Der subjektive Faktor“ ist auf zwei unterschiedlichen Ebenen von Interesse in dieser Arbeit: zum Einen lassen sich an ihm die filmischen 275 Richard McCormick: Politics of the Self: Postmodernism and German Literature and Film, Princeton: Princeton University Press 1991, S. 208. 276 Helke Sander: Der subjektive Faktor, [DVD], Deutschland: Neue Visionen Film 1980/81. 89 Möglichkeiten des autobiografischen Ausdrucks untersuchen und zum Anderen handelt es sich bei dem Inhalt des Filmes um ein historisches Beispiel, das von der Forderung nach der Politisierung des Privaten handelt und der das Konzept der „Kritik des Alltagslebens“277 von Henri Lefebvre in aktualisierter Form aufgreift. Der Film zeigt die sich entwickelnde Politisierung der Protagonistin, die durch verschiedene Momente in ihrem Alltag dem prekärisierten Ort des Unbehagens begegnet und Ankerpunkte des Widerstands setzt. Bis in die 1970er Jahre war das erste Ausbildungsziel für junge Frauen die Vorbereitung auf den Beruf als Mutter, Ehe- und Hausfrau. In den 1960er Jahren vollzog sich ein langsamer Wandel und die Berufsausbildungsmöglichkeiten für Frauen erweiterten sich. Jedoch ignorierte die sogenannte Öffentlichkeit die zusätzlichen Belastungen von Frauen, die neben dem Beruf oder einem Studium auch noch die Arbeit der Kindererziehung und die Organisation des Haushalts übernahmen. Folgender Ausschnitt aus der Rede der Filmemacherin Helke Sander aus dem Jahre 1968 verdeutlicht dies: „Die Trennung zwischen Privatleben und gesellschaftlichem Leben warf die Frau immer wieder zurück in den individuell auszutragenden Konflikt ihrer Isolation. Sie wurde für das Privatleben, für die Familie erzogen, die ihrerseits von Produktionsbedingungen abhängig ist, die wir bekämpfen. Die Rollenerziehung, das anerzogene Minderwertigkeitsgefühl, der Widerspruch zwischen ihren eigenen Erwartungen und den Ansprüchen der Gesellschaft erzeugen das ständige schlechte Gewissen, den an sie gestellten Forderungen nicht gerecht zu werden, bzw. zwischen Alternativen wählen zu müssen, die in jedem Fall einen Verzicht auf vitale Bedürfnisse bedeuten.“278 Helke Sander gehörte zu den Gründerinnen des, im vorherigen Kapitel bereits erwähnten, Berliner „Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“ und ihre Rede 1968 auf der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in Frankfurt am Main wird oftmals als Initialzündung der bundesdeutschen Frauenbewegung bezeichnet. Ausgehend von den Fragen: Wie war der Beginn der neuen Frauenbewegung? Wie liefen die Diskussionen? Was wäre geschehen, hätten bestimmte Personen nicht oder anders gehandelt? Welchen Einfluss hat die oder der Einzelne auf die Zeitereignisse? Wie wirkt sich ihr Tun auf die Allgemeinheit aus? rekonstruiert Helke Sander aus der Perspektive der achtziger Jahre in ihrem Film einen Ausschnitt der Aufbruchsgeschichte der Frauenbewegung, deren Teil sie war. 277 278 Henri Lefebvre: Das Alltagsleben in der modernen Welt [1970], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972. O.A.: Rede von Helke Sander (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen) auf der 23. Delegiertenkonferenz des ‚Sozialistischen Deutschen Studentenbundes‘ (SDS) im September 1968 in Frankfurt/Main, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL:http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/KontinuitaetUndWandel_redeSanderZurNeuenFrauen bewegung/index.html (27.01.2013). 90 2.3.1 Filmische Methoden in „Der subjektive Faktor“ Helke Sander verwendet in dem Film (Realisationsjahr 1980) zwei Verfahren, um den Abschnitt ihres Lebens von 1967-1970 zu erzählen: zum einen wird sie selbst von einer Schauspielerin verkörpert, die die Szenen aus ihrem Leben nachspielt, und zum anderen wurden Dokumentaraufnahmen aus der Zeit der Studenten- und Frauenbewegung in die Handlung eingebaut. Die Einstellung von der Kamera in „Der subjektive Faktor“ verfolgt nicht die Identifizierung der Zuschauer_innen mit den handelnden Personen, so wie es André Bazin definieren würde, sondern lässt sich eher als Identifizierung mit dem Zuschauer/der Zuschauerin beschreiben: die Kamera ist Zuschauer_in. Als Zuschauer_in ist die Kamera in allen Szenen Zeuge und registriert die Lebenszusammenhänge der Filmpersonen. „ [...] the camera is somehow becoming personified, this is because the camera in Sanders film (operated by Martin Schäfer) does seem to take on a life of its own right. The camera carries on an investigation that does not completely coincide with the fictional narrative it records. The film is not merely the reenactment but an investigation of memory.“279 Der Film beginnt mit einer Kamerafahrt innerhalb eines Wohnlofts280 in Berlin der achtziger Jahre. Bevor die Kamera sich auf die Protagonistin konzentriert gleitet sie an ihr vorbei: dieses Vorbeigleiten oder Verbleiben der Kamera am Ort einer vergangenen Handlung, ohne die Schauspieler_innen, wird auf den gesamten Film angewendet. Die Schauspielerin Angelika Rommel spielt Anni, die Helke Sander nachempfunden ist. In der ersten Szene begrüßt Anni ihren jugendlichen Sohn, der zwei Bücher mitgebracht hat. Das eine Buch handelt von den Student_innenbewegungen um 1968281 und das andere Buch von der Ökologiebewegung im Wendland.282 Damit markiert der Anfang des Filmes, als Rahmen (der gleichzeitig auf das Realisierungsjahr des Filmes verweist) zwei Generationen von politischer Auseinandersetzung, nämlich die der Studenten- und Frauenbewegung und die der späteren Ökologie- und Antikernkraftbewegung, die in der Parteigründung der Grünen mündete. Anni blättert in dem Buch über die Student_innenbewegung und schaut sich die Fotografie eines Flugblatt-Happenings an. Das Bild bewegt sich und die Fotografie geht über in einen dokumentarischen Filmausschnitt: junge Personen tragen einen Sarg, aus ihm entsteigt ein Mann mit weißem Hemd bekleidet und wirft Flugblätter 279 Richard McCormick: Politics of the Self: Postmodernism and German Literature and Film, Princeton: Princeton University Press, S. 222. 280 Der Ort, eine umfunktionierte Fabrik-Etage, könnte bereits ein Indiz dafür sein, dass die Erfahrung verknüpfter Arbeits- und Lebensräume ihren Ursprung in den frühen Künstler_innen-Milieus hat und später durch die Autonomiebestrebungen der siebziger Jahre als Lebensstil in Mode kommt. 281 Michael Ruetz: Ihr müsst diesen Typen nur ins Gesicht sehen - APO Berlin 1966-1969, Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 1980. 282 Günter Zint/Caroline Fetscher: Republik Freies Wendland. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 1980. 91 in die Menschenmenge.283 Der Dokumentarfilmausschnitt markiert das Jahr 1968, jenes Jahr, in dem Helke Sander in eine Berliner Wohngemeinschaft284 einzieht und stellt den Beginn der Rückblende innerhalb des Filmes dar. „Es war mehr die Not als ein Wunsch“285, so Sander, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen, da Makler zu jener Zeit nicht an alleinstehende und berufstätige Frauen mit Kind vermieteten. In der neuen Lebensgemeinschaft WG lernt Anni/Sander die theoretischen Debatten und die politischen Aktivitäten der Student_innenbewegung kennen und „dort spielte sich dann mehr oder weniger das ab, was ich meine Politisierung nenne.“286 Je mehr Anni/Sander an dem politischen Leben ihrer Mitbewohner_innen und der Student_innenvereinigung SDS teilnimmt, desto klarer wird ihr, dass sie mit ihren Problemen als alleinerziehende Mutter in den Gesprächen keine Zuhörer_innen findet - zu sehr konzentriert sich der allgemeine politische Diskurs auf die Produktion von Öffentlichkeit gegen die autoritäre Hochschulpolitik, den Vietnamkrieg und die bundesdeutsche Springerpresse. In einzelnen Szenen wird Annis Unbehagen markiert: es sind Szenen, in denen Frauen bei den SDS Gruppentreffen zwar zu Wort kommen (oder des Wortes beschnitten werden), aber nicht ernst genommen werden, Momente mit den männlichen Mitbewohnern in der WG, in denen die Diskrepanz zwischen politischem Wissen, theoretischem Sozialismus und sozialer Praxis des Zusammenlebens hervortritt oder Beziehungsmomente zwischen Anni und ihren männlichen Freunden. Die Kamera registriert diese Momente unkommentiert, duldet scheinbar wie die Protagonistin das Unbehagen, des „Fehl-Am-PlatzeSeins“. 2.3.2 Szenen von Unbehagen in „Der subjektive Faktor“: - Das Unbehagen, Unwissende zu sein: Anni hechtet Luc, dem klugen, marxistischen SDS-ler hinterher. Aus Unwissenheit 283 Das Filmdokument ist in Sanders Film nicht datiert oder betitelt: Es handelt sich aber um das Flugblatthappening vom 9. August 1967, in dem Dieter Kunzelmann (Kommune 1) in einem weißen Leinenhemd in einem Sarg stand und Flugblätter in die Menge der Trauergäste des Staatsbegräbnis von Paul Löbe am John F. Kennedy-Platz warf. Dabei rief er „Freiheit für Fritz Teufel“ in die Trauergemeinde. Teufel war am 2. Juni 1967 während der Demonstration vor der Oper gegen den Staatsbesuch des iranischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi festgenommen worden und in Haft. Andreas Baader, Hans Magnus Enzensberger, Rainer Langhans und Peter Urbach trugen während des Happenings den Sarg mit der Aufschrift „SENAT“ auf dem Rathausvorplatz. Die Informationen werden in Sanders Film nicht genannt und appellieren gewissermaßen an ein generationsbedingtes kollektives historisches (Bild)-Gedächtnis. 284 In der Wohngemeinschaft trafen sich Maoisten, KPD/Ml-ler_innen, eine Frauengruppe, Filmprojektgruppen, Schülerladengruppen, Heimkinder, angehende RAFler_innen etc., zu den Mitbewohner_innen und Besuchern der WG gehörten Thomas Mitscherlich, Jan Raspe, Marianne Herzog, Ulrike Meinhof, u.a. . 285 Iris Gusner/Helke Sander: Fantasie und Arbeit: Biografische Zwiesprache, Marburg: Schüren 2009, S. 111. 286 Ebd., S. 111. 92 verwechselt sie den Namen des Philosophen Herbert Marcuse mit Dr. Marbuse.287 In einer anderen Szene tippt sie fleißig die Texte für Luc ab und ordnet seine Unterlagen - schluckt aber dann, nachdem Luc ihr Arbeitszimmer verlassen hat, Beruhigungspillen.288 - Das Unbehagen, das entsteht, als die männlichen Genossen mit Misstrauen Annis feministischer Mission begegnen: Anni stellt der SDS-Gruppe für Öffentlichkeitsarbeit ihren Beitrag für den allgemeinen Rundbrief vor. Bevor dieser zögernd akzeptiert wird, überprüfen die SDS-ler, ob sie denn auch ihren Mitgliedsbeitrag gezahlt hat, um ein mögliches Ablehnungsargument für den Artikel zu finden.289 - Das Unbehagen darüber, dass Annis Kritik an der Konstruktion der Rolle von Frau in der Springerpresse nicht zum allgemeinen Kritikdiskurs gegen die Springerpresse gehört. Anni versucht, das Thema in einem Vorbereitungstreffen der SDS für einen wichtigen Kongress einzubringen und wird abgelehnt. Die Gruppe schickt sie in die Küche zu einer Frau, die sich auch mit solchen (Frauen-) Themen beschäftigt.290 „It is in the kitchen that Anni and Annemarie begin their efforts at uniting and empowering the women for whom the kitchen had symbolized powerlessness and isolation, it is where they plan their intervention in the public discourse from which they have been excluded.“291 Dazu schreibt Peter W. Jansen treffend, dass „Der subjektive Faktor“ ein Film ist, „der mit jedem Bild davon handelt, wie das Bild der Frauen vom Bild der Frau entsteht. Es ist ein Film, der zur Bildwerdung beiträgt [...].“292 Jansen meint damit, dass die feministische Kritik von der vorherrschenden Repräsentation der Frau ausgegangen ist und Sanders Filmbild davon handelt wie jene Repräsentation innerhalb des Filmes durch die entstehende feministische Bewegung umgearbeitet wird und als Ziel eine andere Repräsentation hat (Prozess der Werdung). 2.3.3 Repräsentation, Subjektivierungsprozesse und Kritik An dieser Stelle werden drei Szenen näher betrachtet, um das Zusammenspiel von Repräsentation, Subjektivierungsprozessen und Kritik zu untersuchen, das dem Verständnis von politischer Selbst-Repräsentation in dieser Arbeit entspricht. Eine der Hauptthesen von Sanders Film ist, dass sich die bundesdeutsche Student_innenbewegung durch die Kritik an der massenmedialen Berichterstattung über den Vietnamkrieg und die Student_innenproteste gebildet hat: 287 288 Helke Sander: Der subjektive Faktor, TC 24:37. Ebd., TC 17:28. 289 Ebd., TC 22:31. 290 Ebd., TC 37:16. 291 Richard McCormick: Politics of the Self: Postmodernism and German Literature and Film, S. 210. 292 Peter W. Jansen, in: Vorwärts, Bonn, 30/07/1981, Vgl. Quellenangabe auf URL: http://www.helke-sander.de/filme/der-subjektive-faktor/ (27.01.2013). 93 2.3.3.1 Subjektives Framing Anni/Sander wird in einer Szene gezeigt, in der sie Pressefotografien aus dem Kriegsgebiet von Vietnam umgestaltet, vergrößert, andere Ausschnitte wählt und mit eigenem Text versieht.293 An dieser Stelle geht es ganz konkret um das Umschreiben von Information aus den bis dato existierenden Kommunikationsmedien. Auch der Filmemacher Harun Farocki interveniert in seinen Filmen „Inschrift des Krieges“294 und „Schnittstelle“295 in einen vorgegeben Bild-Inhalt und formt mit den eigenen Händen einen neuen Rahmen. Damit verdeutlicht er als Filmemacher bzw. Bild-Produzent den filmischen Bildraum und bestimmt das thematische framing. „Die körperlich inszenierte Präsenz des Autors macht für den Zuschauer kenntlich, dass es nur um individuelle, persönliche Deutungen und Interpretationen gehen kann, die an die Möglichkeiten und Grenzen der Subjektivität des Autors gebunden sind, Erfahrungen, die gewissermaßen außerhalb des Bildes abspielen und Resultat der Recherchen des Autors sind.“296 In Sanders Film wird von Anni eine Komposition an die Wand projiziert, die die Presse-Fotografie eines US-Soldaten im Vietnamkrieg mit der Fotografie einer weißen Kleinfamilie zusammenmontiert. Diese Bildkombination ähnelt der Montage aus der Bildserie „Bringing the war home“ (1967-1972) von der New Yorker Künstlerin und Aktivistin Martha Rosler, die zuvor bereits mit ihrer Videoarbeit „Domination of everyday life“ vorgestellt wurde, in der sie Herrschafts- und Repräsentationsformen auf unterschiedlichen Ebenen durchlaufen lässt. Bei Sanders Film handelt es sich um keine direkte Intervention der Filmemacherin in das Filmmaterial, sondern um eine inszenierte Nachstellung von der Bildkritik zur Zeit des Vietnamkrieges. Sander führt in der Nachstellung anhand der Protagonistin Anni die Bild-Praktiken vor, mit denen sie selbst vor 10 Jahren experimentierte, um den konsensuellen Wiedergabemodus des Vietnamkrieges umzukodieren. Die Szene, in der Anni verschiedene Pressefotografien auf dem OverheadProjektor komponiert, wird von Luc, ihrem Freund, als Zuschauer begleitet. Er verfolgt zustimmend Annis/Sanders projizierte Bild-Montagen. Es ließe sich an dieser Stelle die These aufstellen, dass Annis Auseinandersetzung mit Vietnam von ihm, als den schon lange engagierten SDS-Aktivisten, stammt. Diesen Eindruck, dass Anni sich am männlichen Vokabular abarbeitet, entsteht auch hinsichtlich der marxistischen Formulierung der Frauen als Klasse bei ihrem Vortrag in Frankfurt. Auch wenn wir mit dieser These auf eine doppelte ideologische Konstruktion von 293 294 Helke Sander: Der subjektive Faktor, TC 11:13. Harun Farocki: Bilder der Welt und Inschrift des Krieges, Frankreich/Deutschland: Musée Moderne d'art de Villeneuve d' Ascq/Harun Farocki Filmproduktion 1989, TC 11:06. 295 Harun Farocki: Schnittstelle/Section, Deutschland, Harun Farocki Filmproduktion 1995, TC 11:10. 296 F.T. Meyer: Filme über sich selbst, Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film, Bielfeld: Transcript 2005, S. 174. 94 Wirklichkeit treffen, der wir bereits mit Bezug auf Monique Wittig begegnet sind, die von der Schwierigkeit des immer schon „entfremdeten“ weiblichen Ichs schrieb, bleibt relevant, dass Anni durch das Verändern des „framings“ ein Bewusstsein für die Herstellung von politischer Öffentlichkeit entwickelt und für andere „Themen“ nutzbar macht. Im Zusammenhang mit den sogenannten Selbstpraktiken spricht Michel Foucault von dem Durchschneiden symbolischer Systeme eben durch ihren Gebrauch: „Es reicht [...] nicht, zu sagen, dass das Subjekt in einem symbolischen System gebildet wird. Das Subjekt bildet sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und historisch analysierbaren Praktiken. Es gibt eine Technologie der Selbstkonstitution, die symbolische Systeme durchschneidet, während sie sie gebraucht.“ 297 2.3.3.2 Montage: Ideologische Konstruktion des Frauenbildes Als Gegen-Bild zu dem Rollenbild der Frau als sorgende Hausfrau begann in den 68-igern das Bild der Frau als Guerillera mit Kind und Maschinengewehr zu zirkulieren. Anni, selbst Mutter eines Sohnes, ahmt telefonierend, vor dem Plakat die Haltung einer vietnamesischen Frau mit Kind und Gewehr im Arm, nach. Das Bild auf dem Plakat war Vorbild vieler Frauen in den Anfängen der internationalen Frauenbewegung, da es auf weibliche Stärke, in der Doppelfunktion als Mutter und Revolutionärin verweist und davon zeugte, dass in den Befreiungsbewegungen des Südens, Gleichberechtigung nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch gelebt wurde. Dieses klischeehafte Bild tauchte, in anderer Form, noch einmal in den siebziger Jahren mit der Abbildung einer nicaraguanischen sandinistischen GuerillaKämpferin auf: auch sie trug ein Baby auf dem Arm und ein Maschinengewehr auf dem Rücken. Das Bild erzeugt ein starkes Frauenbild, das zugleich ein Verkennen ist, da weder die vietnamesische Frau noch die nicaraguanische Frau298 die Situation der Frauen in den sogenannten westlichen Industriestaaten wiederspiegeln. Aus heutiger Sicht kann diese konstruierte Stärke der Frau, betont durch das Maschinengewehr, auch als Doppelbelastung bzw. Dreifachbelastung (Versorgungsarbeit, Lohnarbeit und politische Arbeit) interpretiert werden. 297 Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Aus dem Französischen von Claus Rath/Ulrich Raulff . Bodenheim: Athenaeum 1989, S. 289. 298 Die Frau, die auf der Fotografie abgebildet ist, erinnert den Moment der Foto-Aufnahme nicht einmal mehr. Sie hat Probleme, sich auf dem Foto wiederzuerkennen. Diese Szenen stammen aus einer kurzen Reisedokumentation, die der Filmemacher Jean Baptiste Huber 2002 für den deutschfranzösischen Kultursender ARTE aufgenommen hat. Wie wenig von dem Erfolg der revolutionären Aufbruchstimmung der sandinistischen Bewegung Ende der siebziger Jahre übriggeblieben ist, zeigt die am 26.10.2006 verabschiedete Gesetzesänderung im nicaraguanischen Parlament, in der die sandinistische Partei FSLN mit 28 Stimmen das Abtreibungsverbot durchsetzte und auf die Weise erneut vehement das, während der Revolution durchgesetzt, Entscheidungsrecht der Frauen einschränkte 95 Obwohl das Bild, so scheint es, zwei gegensätzliche, zweigeschlechtliche Attribute (Gewehr und Baby) in einer Person vereint, bietet es eine relativ vereinfachte Form der Identifikation an, sozusagen als ein Schlag-Bild, um den im ersten Weltkrieg von Aby Warburg (in Anlehnung an den gängigen Begriff des Schlagwortes) geprägten Begriff, aufzugreifen. „Die Sprache des Schlagbilds zeichnet sich letztlich durch eine Logik der Vereindeutigung aus: durch Frontalität, Direktheit, Komplexitätsreduktion, Intensivierung und Pathetisierung. `Schlagend wird es durch die weitgehende Reduktion von Komplexität oder Vielschichtigkeit, respektive von unkontrollierbaren Konnotationen´.“299 Auch die zuvor erwähnte Bildmontage Annis mit den US-amerikanischen Soldaten und der weißen Kleinfamilie bedient sich dieser Logik der Vereindeutigung: Militär und Familie werden im Bildraum in Beziehung zueinander gesetzt und appellieren auf die Weise an die Betrachter_innen des Bildes: „Der Krieg betrifft auch uns!“, „Wir sind Teil davon“, etc. „ [Es] geht darum, eine Welt hinter einer anderen Welt sichtbar zu machen: der weit entfernte Konflikt soll hinter dem Komfort des [...] homes aufscheinen [...]. “300 „Die kritische Anordnung zielt [...] auf einen Doppeleffekt ab: auf eine Bewusstwerdung der versteckten Wirklichkeit und auf ein Schuldgefühl gegenüber der verleugneten Wirklichkeit.“301 Rancière spricht in dem Zusammenhang von zwei Arten der Montage: die dialektische und die symbolische Montage. „ [...] Die dialektische Montage [will] durch den Schock der Unterschiede das Geheimnis einer heterogenen Ordnung aufzeigen, [...].“302 Das entspräche dem Beispiel von Annis Fotomontage, während die Definition der symbolischen Montage auf das Plakat der Guerrillera Frau mit den zwei Attributen, Gewehr und Baby, zutrifft: „Die symbolische Montage versucht [...], eine Familarität zwischen den fremden Elementen zu inszenieren, eine zufällige Analogie, die von einer grundlegenden Beziehung der gegenseitigen Zugehörigkeit zeugt, von einer gemeinsamen Welt, 299 Oliver Marchart/Marion Hamm: Prekäre Bilder. Bilder des Prekären. Anmerkungen zur Bildproduktion post-identitärer sozialer Bewegungen, in: Beate Fricke/Markus Klammer/Stefan Neuner (Hg.): Bilder und Gemeinschaften. Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie), München: Wilhelm Fink 2011, S. 376-397, S. 378. 300 Jacques Rancière: Politik der Bilder, Zürich: Diaphanes 2005, S. 69. 301 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 38. 302 Ebd., S.70. 96 in der die heterogenen Elemente demselben wesentlichen Gewebe angehören und somit immer unter Verdacht stehen, sich miteinander in der Brüderlichkeit einer neuen Metapher zu verbinden.“303 „ [...] Die symbolistische Art der Montage [versammelt] verschiedene Elemente in der Form des Mysteriums. [...] Das Mysterium ist eine kleine Theatermaschine, die Analogien fabriziert und die es ermöglicht, die Gedanken des Dichters in den Füssen der Tänzerin, den Falten seiner Stola, dem Entfalten eines Fächers, dem hellen Schein eines Beleuchters oder der unerwarteten Bewegung eines aufgerichteten Bärens wiederzuerkennen.“304 „Die Maschine des Mysteriums ist eine Maschine, die das Gemeinsame produziert. Sie stellt keine Welten einander gegenüber, sondern inszeniert auf die überraschendste Art und Weise eine gegenseitige Zusammengehörigkeit.“305 In Sanders Film sehen wir zwar nicht Anni als Frau mit Gewehr, aber ihre Schreibmaschine donnert in mehreren Filmeinstellungen wie eine Maschinengewehrsalve und nimmt auf diese Weise Bezug zu der Abbildung der Frau mit Kind und Maschinengewehr. Annis theoretisches Intervenieren und ihr gesprochener feministischer Vortrag auf der Konferenz in Frankfurt können als Kampf-Praxis interpretiert werden und stehen ebenfalls in Analogie zu dem Bild der Guerrillera. Tatsächlich führt uns Sander sogar noch ihre offensichtliche Ablehnung des real bewaffneten Kampfes vor: in der Szene, in der Annis Sohn die versteckten Molotowcocktails des Mitbewohners entdeckt, der mit der Gruppe RAF kollaboriert. Beide Arten der Montage, die symbolistische und die dialektische, stellen ausschnitthaft Verbindungen her, die Ende der sechziger Jahre als subversive Praxis Wirkung zeigten. Heutzutage hat die Schockwirkung nachgelassen und die Analogie zur sozialen Wirklichkeit der bewaffneten Frau hat ihre Realisierung im weiblichen Wehrdienst gefunden.306 „Jene Vorgehensweisen, die die heterogenen Elemente miteinander verbunden und damit den dialektischen Schock hervorgerufen haben, rufen nun das genaue Gegenteil hervor: sie produzieren die große homogene Decke des Mysteriums, auf der die Schocks von gestern sich in ihr Gegenteil verwandeln und zu 303 304 Ebd., S.70. Ebd., S.71. 305 Ebd., S.71. 306 Für Deutschland, in dem das Bild der Guerillera als Bestätigung von einer fortgeschrittenen Gleichstellung zum Mann wahrgenommen wurde, entschied der Europäische Gerichtshof am 11. Januar 2000, dass deutsche Rechtsvorschriften, die Frauen vollständig vom Dienst mit der Waffe ausschließen, gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Gleichheit von Männern und Frauen verstoße. Seit 2001 üben Frauen neben Männern in Deutschland den Dienst an der Waffe aus. 97 den Manifestierungen der verschmolzenen Ko-Präsenz werden.“307 Die Szenen, in denen Anni die Fotomontagen an die Wand projiziert und auch die Szene mit der Nachahmung, stellen kleine intime Innenansichten aus ihrem Leben dar. Entscheidend ist, dass die Texte, die auf der Schreibmaschine entstehen und die Fotomontagen später, an einen anderen Ort, zum Einsatz kommen: ihr intimes Experimentieren trifft in der Mittwochsgruppe auf eine Gemeinschaft von Frauen, die an Layouts und Texten für eine feministische Zeitung basteln. Die Frauen trafen sich, um zu lesen, Zeitungen und Filme zu machen und zu diskutieren. Damit durchbrachen sie das Zeitregime, das nicht in den damals alltäglichen Arbeitstag von Frauen passte. Statt sich also mit der Existenz als Frau, Mutter oder Hausfrau zu identifizieren, bestünde nach Rancière ihre Emanzipation darin, sich die für diese Existenz nicht vorgesehenen Tätigkeiten Anderer anzueignen (und damit deren Privileg zu enteignen). Für Rancière ist die Flucht aus dem tagtäglichen Arbeiterleben in die nächtliche Intellektuellenexistenz zugleich eine Aneignung des eigenen Lebens. „Politik ereignet sich, wenn die, die nicht die Zeit haben, sich die Zeit nehmen“308, die notwendig ist, um als Bewohner_innen eines gemeinsamen Raumes aufzutreten, und um zu beweisen, dass ihr Mund sehr wohl eine Sprache erzeugt, die das Gemeinsame ausspricht und nicht nur eine Stimme, die den Schmerz signalisiert. Rancière vertritt grundsätzlich eine These die anti-identitär ist, d.h. die die Identifikation (mit einer Gruppe oder einem sozialen Status) ablehnt: es ginge nicht darum Teil einer Klasse zu sein, also beispielsweise die Identifikation mit dem Proletariat (Klassenbewusstsein), sondern es ginge darum, dem Arbeiterdasein zu entkommen. Er schreibt zwar größtenteils über die Arbeiterklasse, aber wir können seine Beschreibung von den sich emanzipierenden Arbeitern in Analogie zu den sich organisierenden Frauengruppen in den siebziger Jahren setzen. Dieser gemeinsame Raum, der in der Frauengruppe entsteht, läßt sich auch in Beziehung zu Hannah Arendts Begriff des Erscheinungsraumes denken. Arendt setzt voraus, dass politisches Handeln einen Erscheinungsraum erfordert. „Dies räumliche Zwischen ist der Erscheinungsraum im weitesten Sinne, der Raum, der dadurch entsteht, daß Menschen voreinander erscheinen, und in dem sie nicht nur vorhanden sind wie andere belebten oder leblosen Dinge, sondern ausdrücklich in Erscheinung treten.“309 „Menschlich und politisch gesprochen, sind Wirklichkeit und Erscheinung dasselbe, und ein Leben, das sich außerhalb des Raumes, in dem allein es in Erscheinung treten kann, vollzieht, ermangelt nicht des Lebensgefühls, wohl aber des Wirklichkeitsgefühls, das dem Menschen nur dort entsteht, wo die 307 308 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 76. Jens Kastner: Die Aufteilung des Gemeinsamen, in: Graswurzelrevolution Nr. 332, 2008, S. 15-16. URL: http://www.jenspetzkastner.de/ranciere.html (27.01.2012). 309 Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 1967, S. 249. 98 Wirklichkeit der Welt durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist, in der ein und dieselbe Welt in den verschiedensten Perspektiven erscheint.“310 „Ein Erscheinungsraum entsteht, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen [...].“311 Dieser Raum, der sich zwischen der öffentlichen und privaten Sphäre ansiedelt, konstruiert eine neue Form der Öffentlichkeit, die beide anderen Sphären umarbeitet. 2.3.3.3 Filmische Selbst-Repräsentation In „Der Subjektive Faktor“ tauchen zwei Formen von Selbst-Repräsentation auf: die Selbst-Vertretung der Frauen - verkörpert durch die Protagonistin Anni - und die Selbst-Repräsentation der Filmemacherin, die sich zum einen nachspielen lässt und zum anderen selbst ins Bild tritt. Sie ist durch ihre kommentierende Stimme aus dem Off in dem Film präsent und steht in der Schlüsselszene, der Rede auf der SDS-Delegiertenkonferenz in Frankfurt 1968, in der Projektion ihres eigenen dokumentarischen Filmbildes. Sander bestimmt gewissermaßen mit ihrem Körper den Bildausschnitt, das framing wie es zuvor die Hände an anderer Stelle taten und verdeutlicht damit ihre ganz eigene Perspektive auf die Geschichte. Diesmal ist es eine direkte Intervention in das Sichtfeld der Filmprojektion. Die körperliche Präsenz von Helke Sander in der Projektion markiert das Produktionsjahr des Filmes (1980), während das projizierte Dokument aus dem Jahr 1968 stammt. Sander verknüpft auf diese Weise in dem Setting zwei unterschiedliche Epochen und ist wie Rich formuliert „in a dialog with memory and history, and she does not pretend that she plays no role in this interaction.“312 Trotz der scheinbaren Interaktion zwischen Gegenwart und Vergangenheit gibt es zwischen den beiden Protagonistinnen (Anni und Sander) keinen unmittelbaren Kontakt, sie existieren in zwei Parallelwelten, ohne sich zu berühren oder ihre Kompliz_innenschaft in der Funktion als Filmemacherin und Schauspielerin aufzudecken. In der bereits erwähnten Gruppenszene der Frauen stehen sich am Filmset das, in seinen Aufgaben hierarchisch angeordnete, Filmproduktionsteam313 und die in ihren Rollen experimentierende Frauengruppe polarisierend gegenüber. Damit, so meine ich, wird noch einmal verdeutlicht, das es sich zwar um die Geschichte über eine politisch-kollektive Bewegung handelt, diese aber von einer einzigen Person, die innerhalb des Produktionsteams des Filmes an der Spitze steht, erzählt wird. Es 310 311 Ebd., S. 250. Ebd., S. 251. 312 B. Ruby Rich: She Says, He Says: The Power of the Narrator in Modernist Film Politics. (‚PartTime Work of a Domestic Slave‘, The All-Around Reduced Personaltiy – Redupers), in: Discourse, Nr. 6, 1983, S. 31- 46. 313 Die Produktion des Films wurde in herkömmlicher Verfahrensweise bzw. Rollenaufteilung produziert. Der Produktionsapparat bestand aus einem Team von Expert_innen, die für die Umsetzung der Drehbuchidee (Helke Sander) sorgten. 99 geht nicht darum, eine kollektive Geschichte der Bewegung zu realisieren, in der der kinematografische Produktionsmodus zeitgleich umgemodelt wird. Die Kamera begleitet die Ereignisse registrierend, ohne sich mit einer konkreten Sichtweise der Schauspieler_innen zu identifizieren. Dadurch bleiben die Zuschauer_innen außerhalb der Handlung als Beobachter_innen, und die Geschichte der Frauenbewegung aus Sanders Sicht bleibt ohne Versuch, die Beobachter_innen mit einzubeziehen oder Verbindungslinien in die Gegenwart zu legen. Dieser Eindruck der Abgeschlossenheit wird durch die Rückenaufnahme von Sanders Rede unterstützt, die sich an ein Publikum richtet, das nicht aus den Filmzuschauer_innen besteht. Die dokumentarischen Aufnahmen, das Eintreten der Filmemacherin (insgesamt erscheint Sander zweimal) in das Filmbild und die Requisiten (Bücher, Plakate, Flyer) stellen in Lejeunes Sinne außertextuelle bzw. außerfilmische Wirklichkeitsreferenzen dar und verorten Sanders autobiografische Fiktion in einer realen Vergangenheit. Mit der Präsenz der Filmemacherin im Film wird den Zuschauer_innen eine real existierende Person vorgeführt, die sich verantwortlich für den Film, als auch für die Anfänge der feministischen Bewegung zeigt. Bemerkenswert ist, dass die meisten dieser Referenzen, abgesehen von Sanders eigenen Auftreten im Film, männliche Referenzobjekte314 sind, mit wenigen Ausnahmen wie z.B. der Einblendung von Doris Lessings „Das goldene Notizbuch“ (1962) und die Dokumentaraufnahmen der Flugblattaktionen und der Demonstration der Erzieherinnen. Der Film ist insofern von Interesse in dieser Arbeit, als dass er zeigt, wie die Protagonistin in ihren prekarisierten Lebenssituationen Ankerpunkte setzt, um für sich kollektiv einen Platz zu erkämpfen. In Sanders Film setzt das Zusammenspiel von Repräsentation und Subjektivierungsprozessen in der Kritik des Bildes (zuerst an dem journalistischen Kriegsbild, dann an dem repräsentativen Bild der Frau und schlussendlich an den Organisationsstrukturen der politischen Bewegung bzw. der Gesellschaft) an und erfährt durch die Praktiken der Modifizierung des Bildes (Selbstrepräsentation und Selbstvertretung) und durch die Sprache eine Umarbeitung der sozialen Gemeinschaft, nicht aber in der Organisation der Filmproduktion. Sanders Film „Der subjektive Faktor“ führt die individuelle Sichtweise und kollektive Praxis als zwei verschiedene Formen der politischen Aktion vor. 314 Auflistung des Referenzmaterials, dass in dem Film „Der Subjektive Faktor“ vorkommt. Die Filmplakate stellen eine Selbstreferenz zu der kinematografischen Repräsentationsgeschichte von politischen Film dar: „Studien zum autoritären Charakter“ (1973) von Theodor W. Adorno, „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von Jürgen Habermas, „Theorie und Praxis: Sozialphilosophische Studien“ (1963) von Jürgen Habermas, „Die Funktion des Orgasmus. Zur Psychopathologie und zur Soziologie des Geschlechtslebens“ (1965) von Wilhelm Reich, „Zur Organisationsfrage - Arbeiterbewegung - Marxismus“ (1970) von Wilhelm Reich, „Letters from Vietnam“ (1965-1972) von Bill Adler, Poster von Picassos „Guernica“ (1937), die Filmplakate „La Chinoise “ (1967) von Jean Luc Goddard, und „Viva Maria!“ (1965) von Louis Malle, Filmfragment von Joris Ivens „Der 17. Breitengrad“ (1968). 100 2.4 Video: Narzisstische Selbstbespiegelung vs. kollektive Medienarbeit Der im vorherigen Abschnitt vorgestellte Film „Der subjektive Faktor“ von Helke Sander handelte von dem Unbehagen der Frauen, im öffentlichen Leben nicht vorhanden zu sein, bis zu dem Moment, in dem sie sich selbst organisieren und selbst vertreten. Der Produktionsapparat Kino und seine Organisation wurde in dem Film aber nicht weiter befragt. Dieser Abschnitt nimmt mit seinem Übergang in die post-mediale-Ära die Veränderungen in der allgemeinen Produktion vorweg und positioniert die Ansätze der kollektiven Medienarbeit Anfang der siebziger Jahre als Wegbereiter für das Internet, die Grassroot-Netzwerke und schließlich der Social Media 2.0. Mitte der sechziger Jahre taucht das Medium Video auf. In Deutschland existierte lange Zeit eine Ablehnung gegenüber dem Fernsehen als Kulturträger: Wulf Herzogenrath mutmaßt, dass dies ein Grund war, warum gerade deutsche Künstler_innnen zu beginn der Videokunst den Fernsehkasten als Objekt thematisierten: „ [...] deutsche Künstler behandelten die Fernsehkiste aggressiv, als wollten sie das Objekt verändern [...].“315 Die lieblose Behandlung des Monitors als Verweis auf das Fernsehen, so Herzogenrath, hinge möglicherweise auch mit der Auseinandersetzung mit der Manipulation von Information durch die Massenmedien (Springer-Presse) zusammen, so dass der Fernseher ein Objekt darstellte, das es zu bekämpfen galt. Die bundesdeutsche Geburtsstunde des neuen elektronischen Video-Bildes innerhalb der bildenden Kunst wird auf den März 1963 datiert.316 Der US-amerikanische Künstler Scott Bartlett beschreibt das neue Medium Video euphorisch: „ [...] we are entering a completely new video environment and imageexchange life-style. The videosphere will alter the minds of men and the architecture of their dwellings. There's a whole new story to be told [...] thanks to the new techniques. We must find out what we have to say because of our new technologies.“317 Als der erste Portabak von Sony 1965 auf den Markt kommt, wird Video auch für eine größere Allgemeinheit erschwinglich. Im Gegensatz zum Film-Bild handelt es sich bei dem Verfahren mit Video um die Herstellung von elektronischen Bildern, die keine Materialität des Bildes aufweist. Das Video-Bild entsteht durch elektronischen Signaltransfer. Audio und visuelle Signale, die in ständiger Bewegung sind und in elektromagnetische Signale umgewandelt werden, erzeugen das Bild. Das Besondere am Video im Vergleich zum Film ist, dass ein Video-Bild bereits ohne Aufzeichnung, in dem Moment, in dem die Video-Kamera angeschaltet wird, erfolgen kann: es entsteht ein direkt übertragbares Bild, das 315 Wulf Herzogenrath: Versuche, die verdammte Kiste abzuschaffen - oder die Anfänge eines Kunstmediums in Europa mit Fluxus, in: Wulf Herzogenrath (Hg.): Videokunst in Deutschland 1963 - 1982, Stuttgart: Hatje Cantz 1982, S. 26-30, S. 29. 316 Es handelte sich um die Ausstellung in der Galerie Parnass, in der der Koreaner Nam Jum Paik seine ersten elektronischen Bild- und Musikarbeiten zeigte. 1977 sind auf der Documenta 6 zum ersten Mal Videoarbeiten (Paik, Davis, Beuys) vertreten. 317 Gene Youngblood: Expanded Cinema, die Techno-Epoche, New York: Dutton 1970, S. 249. 101 Live-Bild. Zu Beginn der technologischen Entwicklung von Video diente das Magnetband als Speichermedium, um die Bild- und Tondaten zu erfassen, zumeist in Form einer Videokassette oder des Video Home System (VHS). Seit 1996 wird zunehmend die digitale Aufzeichnung im Digital Video (DV)-System bei Camcordern verwendet. Video, dessen partizipatorische Seite oft hervorgehoben wird, steht dem Radio näher als dem traditionellen bewegten Film-Bild. Dies lässt sich durch die Möglichkeit der Kommunikation, also des Feedbacks und des Direkt-Bildes argumentativ begründen. Video wird deshalb, nicht selten, als sogenanntes ZweiWeg-Medium beschrieben. 1933 formulierte Brecht in seiner Radiotheorie, wie Radio von einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat verwandelt werden könnte: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.“318 Übertragen wir Brechts Vorschlag auf Video, dann deuten sich also zwei Verfahren an, um Video einzusetzen: als klassisches Aufzeichnungs- und Abbild-Medium oder als Kommunikations- und Partizipationsmedium. Marita Sturken stellt in ihrem Text „Paradox in the Evolution of an Art Form: Great Expectations and the Making of a History“319 bezeichnend dar, dass es sich bei der Entwicklungsgeschichte von Video nur um einen kleinen Ausschnitt handeln kann, da Videoprojekte aus ganz unterschiedlichen Bereichen (künstlerischer, technologischer, politischer und aktivistischer) gleichzeitig hervorgegangen sind und sich die Geschichte den Auswahlmechanismen unterwirft, die sich an dem Schreibvorhaben der jeweiligen Autor_innen orientiert.320 318 Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, in: Gesammelte Werke 18. Schriften zur Literatur und Kunst I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 129. 319 Marita Sturken: Paradox in the Evolution of an Art Form, Great Expectations and the Making of a History, in: Illuminating Video: An Essential Guide to Video Art, Doug Hall/Sally Jo Fifer (Hg.), San Francisco: Bay Area Video Coalition, 1990, S. 101-121. 320 Sturken führt den Begriff von Geschichtschreibung näher aus, um den Ausschluss von Minderheiten, aus der offiziellen Version hervorzuheben. Zitat Marita Sturken: „History is, in fact, not a process of accumulation but of selection, a version of events that can be defined through its exclusion of many stories. (Most commonly written out of history are women and people of color.) History is amorphous; it is redefined and reshaped according to the ideologies of any given period of retrospection. It represents to us not simply the telling of events, but the interpretation of those eventsinterpretation by individuals and institutions. Today, this interpretation is a process that begins with the media as the primary initial interpreter of political and social events.“ Ebd., S. 101. Vgl. hierzu auch Michel Foucault: Power/Knowledge: Selected Interviews and Other Writings 19721977, New York: Pantheon, S. 81. Foucault beschreibt ausgeschlossene Geschichten als „unterdrückte Wissensarten“. Als Beispiel nennt er etwa das Wissen der Psychiatrisierten, der 102 Künstler_innen und Aktivist_innen begannen in den siebziger Jahren gleichermaßen und kooperativ mit Video zu experimentieren und zu arbeiten. Die offizielle Version der Video-Kunstgeschichte basiert allerdings auf einer institutionellen Sicht, die sich auf entwicklungs-technologische, kreative und innovative Interessen konzentriert und sich überwiegend auf Leistungen einzelner Künstler_innen in einem breiten und vielfältigen (Experimentier-) Feld bezieht. “It is art-historical to the extent of negating video's use as a social tool.”321 Bei der Auflistung von wichtigen Ereignissen von Video wird der Einfluss von Institutionen auf die Entwicklung der nordamerikanischen Videokunstgeschichte (und den sich wiederholenden Namen Paik, Vostell, Acconci, Naumann) deutlich. Durch wichtige Kunstereignisse322 wurde für Künstler_innen, die in den USA mit Video arbeiteten, relativ schnell ein institutioneller Rahmen geschaffen. 2.4.1. Rosalind Krauss: The Aesthetics of Narcissism Rosalind Krauss stellt ihre These, dass es sich bei den ersten künstlerischen Arbeiten mit Video um eine „Ästhetik des Narzissmus“323 handelt, einführend anhand des Beispiels der Videoarbeit „Centers“ (1972) von Vito Acconi vor. Acconci steht in dem Video frontal zum Monitor und zeigt 30 Minuten (der Länge eines Videobandes damals entsprechend) mit ausgestrecktem Finger in die Bildmitte. Für den Zuschauer scheint sein Fingerzeigen als ein auf die Mitte des Bildschirms zeigender Finger, der aus dem Monitor raus, auf die Zuschauer_innen gerichtet ist. „Pointing at my own image on the video monitor: my attempt is to keep my finger constantly in the center of the screen I keep narrowing my focus into my finger. The result [the TV image] turns the activity around: a pointing away from myself, at an outside viewer.“324 Acconcis Fingerzeig kann, so Krauss, als konzeptuelle Geste verstanden werden, die noch unter dem Einfluss der nordamerikanischen Minimal - Art der sechziger, siebziger Jahre stand, in der oftmals auf die Beschaffenheit, die Materialität (Leinwand, Filmstreifen, Holz, Farbe, Pigmente etc.) des Kunstwerkes verwiesen wird. Acconcis Finger zielt im Fall von „Centers“ auf die Immaterialität des Mediums Video ab und bezieht sich anstatt auf eine physische Objekthaftigkeit auf Kranken, der Delinquenten. Es handelt sich um ein Wissen, in dem sich aufgrund der Perspektive Einsicht in die ganz konkrete Mechanik von Macht ausdrücken kann. Über ein „Wiederauftauchen“ dieser Wissensarten kann, wie Foucault meint, die Kritik erfolgen. 321 Marita Sturken: Paradox in the Evolution of an Art Form, Great Expectations and the Making of a History, S. 105. 322 Vgl. hierzu die Ausstellungen „TV as a Creative Medium“ (1969) in der Howard Wise Gallery in New York, das Künstler_innen-Programm „The Medium is the Medium“ (1969) in Boston, die Gründung des Medienfonds des New York State Councils for Arts (1970) u.a. 323 Rosalind Krauss: The Aesthetics of Narcissism, in: October. MIT Press Journal 1976, S. 50-64. 324 Vito Acconci: Body as Place-Moving in on Myself, Performing Myself, in: Avalanche Magazine Nr. 6, 1972, S. 31. 103 die psychologische Qualität von Video. Als wesentlicher Unterschied zu anderen künstlerischen Medien (Fotografie, Skulptur, Malerei) beschreibt Krauss die Möglichkeit des Instant Feedback, also der Gleichzeitigkeit des Sendens und Empfangens. Im Gegensatz zu Baudrys KinoKonzept von Apparat und Dispositiv wird im Instant Feedback eine Einheit vom Herstellungs- und Reproduktionsmodus geschaffen „centered between two machines that are the opening and closing of a parenthesis“.325 Mit der Videoarbeit „Boomerang“ (1974, von Nancy Holt) begründet Krauss die These zur Selbst-Einkapselung: Nancy Holt versucht ihrer eigenen, allerdings zeitversetzten, Stimme selbst zu folgen, um darüber simultan sprechend zu reflektieren. Es entsteht eine permanente Rückkoppelung von Holts Gedanken, die einen in sich geschlossenen Kreislauf bilden: „As we hear Holt speak and listen to that delayed voice echoing in her ears, we are witness to an extraordinary image of distraction. Because the audio delay keeps hypostatizing her words, she has great difficulty coinciding with herself as a subject.“326 Diese in sich geschlossene Bewegung des Closed-Circuit präsentiert sich als eine Art zusammengebrochene Gegenwart, eine Gegenwart die in ihrer eigenen Vergangenheit zirkuliert. Krauss setzt den Instant Feedback Effekt der Closed Circuit Installation und die Life-Monitorwiedergabe an mehreren Stellen ihres Textes mit einem Spiegel gleich, um ihre These von der Ästhetik des Narzissmus auf die Weise argumentativ zu vertreten. Der französische Soziologe Jean Baudrillard interpretiert dagegen, unabhängig von Krauss, dass das „An-sich-selbst durch die Videoapparatur angeschaltet sein“ einen grundlegend anderen Prozess in Gang setzt und keine Spiegel-Reflexion sei: „Das hat nichts mit Narzissmus zu tun, und man irrt, wenn man den Terminus zur Beschreibung dieses Effekts missbraucht. Die Video- und Stereokultur erzeugt nämlich kein narzisstisches Imaginäres, sondern ist Effekt äußerster, verzweifelter Selbstreferenz, ein Kurzschluss, mit dem das Gleiche ans Gleiche unvermittelt angeschlossen wird [...].“327 Wenn es sich wie bei Jean Baudrillard tatsächlich um eine verzweifelte Selbstreferenz in Bezug auf die ersten Videoarbeiten handelt, in dem es im extremsten Fall zu einer unendlichen Vervielfältigung des Selbstbildes oder einen Kurzschluss kommen muss, dann ist der Einkapselungsversuch von Krauss allerdings durchaus konsequent zu Ende formuliert. Aus dem krausschen Vergleich mit der narzisstischen Selbstverliebtheit im Spiegel, lässt sich folgern, dass der passiv partizipierende Zuschauer, zumindest als mögliche Unterbrechung der Selbstrelation, konstruiert wird und auf die Art ein Außen existiert. Trotzdem sehe ich in den Closed Circuit Videoarbeiten, die Krauss für ihre These Video als „Ästhetik des Narzissmus“ wählt, eine paradoxe Medienreflexion. Zum 325 326 Ebd., S. 181. Ebd., S. 181. 327 Jean Baudrillard: Videowelt und fraktales Subjekt. Aus dem Französischen von Matthias Rüb, in: Ars Electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie, Berlin: Merve 1989, S. 113-133, S. 120. 104 einen bietet die Videotechnologie, im Gegensatz zum monopolistisch organisierten Fernsehen, tatsächlich die Möglichkeit der Kommunikation, der Partizipation von Zuschauer_innen und zum anderen stellen gerade die ausgewählten Videoarbeiten, auf die sich Krauss bezieht, Monolog-Situationen her, in denen sie fiktive bzw. passive Zuschauer_innen entwerfen und die Künstler_innen letzten Endes Selbstgespräche führen - ganz so als ob es keinen interagierenden sozialen Raum außerhalb der Institution geben würde. Ich werde an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit Video als narzisstisches Medium nicht weiter vertiefen, sondern mich auf Arbeiten beziehen, die explizit einen gesellschafts-politischen (Außen-) Raum aufsuchen. Die Methode des Instant Feedbacks, die Krauss als Einkapselungsversuch beschreibt, wurde in anderer Form bei kollektiven Arbeiten, auch als Rückkoppelung eingesetzt, als eine Praxis des zeitlich verzögerten Feedbacks, um gemeinsam Verhaltensweisen und Interviewsituationen zu reflektieren (ähnlich wie das Kollektivieren des Geschichtenschreibens bei Haugs Erinnerungsarbeit) und in Gemeinschaft zu bringen. 2.4.2 Alternative Medienpraxis In New York etablierte sich parallel zur institutionellen eine alternative Videoszene, deren Aktivitäten ab 1970 im Magazin Radical Software328 dokumentiert wurden. Radical Software berichtete über neue Formen der kollektiven aktivistischen Video- und Stadtteilarbeit. Schwerpunkt bildete der partizpatorische und kommunikative Aspekt der Videoproduktion als Gegenmodell zur herrkömmlichen und hierarisch gegliederten Fernsehproduktion. „Macht wird nicht mehr nur in Form von Boden, Arbeit oder Kapital gemessen, sondern durch den Zugang zu Informationen und zu den Mitteln, diese zu verbreiten. Solange die wirksamsten Werkzeuge in den Händen derer sind, die Informationen horten, kann keine alternative kulturelle Utopie (Vision) erfolgreich sein. Wenn wir nicht alternative Informationsstrukturen entwerfen und ausprobieren, welche die bisher existierenden durchbrechen und umbilden, werden andere alternative Lebensstile nichts Weiteres sein als ein Produkt des schon Existierenden.“329 Auch wenn sich diese Gruppen explizit für die Einbeziehung von Minderheitengruppen einsetzten, war dies noch kein Garant dafür, dass sich innerhalb der Gruppen keine Ausschlussverhalten abspielten. Vergleichbar mit der Geschichte zur Entstehung der Frauenbewegung wurden unhinterfragte, eingespielte Rollenverhalten zum Anlass genommen, Frauenprojektgruppen zu bilden, wie z.B. das feministische „Iris Video Collective“. 328 Alle Ausgaben der Zeitschrift Radical Software stehen Online zur Verfügung, URL: http://www.radicalsoftware.org/e/browse.html (27.01.2013). 329 Das Magazin Radical Software wurde von der Raindance Corporation herausgegeben. Einer der Exponenten dieser Gruppe, Michael Shamberg, publizierte 1971 das Buch „Guerilla Television“, welches mit seiner anarchistischen Tendenz die wachsende Videoszene inspirierte. 105 „The mission of Iris Video was specifically to put the communication tool of video into the hands of women. Purpose To document women and their lives from a woman's point of view, something the media often fails to do.“330 Die in den siebziger Jahren entstandenen Videokollektive und Medienzentren haben einen festen Platz innerhalb der linken Kulturgeschichte. Die theoretischen Grundlagen des marxistisch-leninistischen Vokabulars verdeutlichen dies. Der Begriff der Gegen-Öffentlichkeit, den die sehr unterschiedlichen Medieninitiativen vereint, lässt sich auf die eingangs beschriebene Situation der Subalternen beziehen: diese Minderheitengruppen können noch so viel sprechen, über Jahrzehnte hinweg, ohne gehört zu werden („But even if he or she has been talking on for centuries - why didn't anybody listen?“)331, demenstprechend müssen Zuhörer_innen geschaffen werden, die partizipieren. „Es dürfen Beobachter und Objekt nicht getrennt sein. Im Gegenteil, er (der Filmmacher) selbst muß Mitschaffender sein, muß sich aktiv einschalten in das Leben der Fabrik oder des Dorfes, die er filmt. [...] und nur die eine Hoffnung bleibt, daß unsere Tage eine Zeit sind, da der Dorfbezirks-Maßstab zuweilen zum Weltmaßstab wird, der die Dinge entscheidet.“332 Mit dem Vorhaben „Gegen-Öffentlichkeit“ (oder Gegen-Information) zu schaffen„ ist auch der Inhalt der Information selbst gemeint, die sich von der bürgerlichen Öffentlichkeit unterscheidet. Begrifflich wurde zwischen der dominierenden Sphäre der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ (z.B. der deutschen Springerpresse) und der zu bildenden „proletarischen Öffentlichkeit“ (bestehend aus Minderheiten und subalternen Gruppen) gesprochen. Hier stellt sich allerdings erneut die Frage, wer denn diese sogenannte „proletarische Öffentlichkeit“ ist? Die meisten Videokollektive entstanden nämlich im Rahmen von Universitäts- und Akademieseminaren, also im akademischen und im klassisch bürgerlichen Kontext. Durbahn von dem Frauen-Medien-Archiv Bildwechsel (ehemals Medienladen) beschreibt hierzu ihre eigene Erfahrung aus den siebziger Jahren: „ich bin (als ‚arbeiterkind‘) über die realschule – also nach abschluß auf ein aufbaugymnasiun gegangen. mein gesamter bezugsrahmen wechselte. dann habe ich erst etwas gejobbt, um mir eine eigene wohnung mieten zu können und mich dann sehr zufällig an der hfbk beworben. Eigentlich wollte ich dort industrie design studieren – bekam aber die falschen bewerbungsunterlagen geschickt und fand dann visuelle kommunikation viel spannender. [...] mein kernerlebnis war, dass wir im rahmen der orientierungsphase auf dem hamburger dom am autoskooter `drehten´. Genaugenommen war es ein enormer medieneinsatz mit fotos, video und film und ton. es waren mehrere tage und immer 330 331 Ebd., Zitat, Kathy Seltzer. Hito Steyerl: Can the Subaltern speak German? Postkoloniale Kritik, in: EIPCP, 05/2002. 332 Sergej Tretjakow: Feld-Herren. Der Kampf um eine Kollektivwirtschaft, Berlin 1931, S. 203. 106 derselbe autoskooter. danach gabs besprechungen und versuche, das material zu strukturieren. [...] zielsubjekte der beoachtung war hauptsächlich eine gruppe von rockern - sie werden so um die 18 gewesen sein. meine kommiliton_innen waren begeistert. ich ja nicht. weil: es war im prinzip meine gruppe – d.h. ich kannte den größten teil persönlich – wenn gleich das damals knappe 4 jahre zurückliegen durfte. ich war vielleicht zwei drei jahre dabei... wiedererkannt hat mich glaube ich niemand – sie waren aber auch zu aufgeregt – weil sie sich für die kameras in szene setzten (von wegen dokumentarisch). [...] da auf dem hamburger dom traf ich nun ganz plötzlich auf mein herkunftsumfeld - nur stand ich irgendwie auf der anderen seite. ich habe mich damals nicht geoutet, das konnte ich nicht. [...] nuja- es wurde weder ein videonoch ein 16 mm film fertig... das war ein einschneidendes erlebnis, und ich bin seit dem immer auf der hut bei videos ‚auf seiten der leute‘ [...].“333 Durbahns Erfahrung in Bezug auf das Für-Die-Anderen-Sprechen und die bevormundende Stellung der Filmemachenden verdeutlicht die Problematik der Repräsentation, wie wir sie bereits im ersten Teil der Arbeit besprochen haben und führt uns zu den Fokus der Selbst-Repräsentation. „Ausgehend von der Erfahrung, daß sich die bestehenden Massenmedien vom realen erfahrbaren Leben entfernt hatten und den `einfachen Menschen´ keine Möglichkeit gaben, ihre Meinung zu äußern“,334 gründeten sich Anfang der siebziger Jahre in Hamburg das Mpz (Medienpädagogisches Zentrum) und der Medienladen (später Bildwechsel),335 beides Initiativen, die aus dem Hamburger Hfbk-Hochschulkontext heraus entstanden sind, „ [...] um gemeinsam mit Benachteiligten und Betroffenen eigene Ausdrucks- und Reflexionsformen von alltäglichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen zu produzieren“336 und im spezifischen Fall von Bildwechsel insbesondere für Frauen eine Produktions-, Diskussions- und Distributionsplattform zu schaffen. Die alternative Medienarbeit umfasste Videoproduktionen und Broschüren zu den Bereichen Hochschule/Schule, Jugendfreizeitheim, Stadtteil, Betrieb, Gewerkschaft, Frauengruppen, Kinderhaus und Internationalismus. Die Filmemacher_innen, die sich in operativen Mediengruppen organisierten, forderten: Projektgruppe anstelle einzelner Autor_innen bzw. Regisseur_innen, und anstatt einer anonymem Konsumentenschicht wurde eine konkrete Zielgruppe (z.B. „Betroffene“) anvisiert, ebenso wie die tendenzielle Aufhebung der Trennung von Produzent_in und Konsument_in, Entmystifizierung der Filmproduktion (jede/r kann einen Film machen), Aufhebung von der Unantastbarkeit und Vollendung der Kopie, Herausnahme des Films aus dem Kino (stattdessen Vorführungen vorzugsweise an sozialen Orten). 333 334 Aus dem Briefwechsel mit Durbahn von Bildwechsel, E-Mail vom 8. Oktober 2011. Zitiert aus der Selbstdarstellung des Mpz in Hamburg: URL: http://www.mpz-hamburg.de/selbstdarstellung/selbstdarstellung.html (27.01.2013). 335 Bildwechsel, URL: http://www.bildwechsel.org/ (27.01.2013). 336 Ebd. 107 Ähnlich wie bei der Unterscheidung von politischem und militantem Kino spalteten sich die Videoiniativen in zwei Gruppen auf: die einen (VAM-Video, Audio Media, Telewissen) orientierten sich am Fernsehen und seinen Produktionsund Distributionsmechanismen und die anderen (u.a. Medien Operative Berlin e. V., Medienwerkstatt Freiburg, Mpz und Medienladen) verfolgten einen selbstorganisierten medienpädagogischen und medienkritischen Ansatz: es ging ihnen um institutionell unabhängige Produktions- und Distributionsstrukturen. Allgemeine Praxis in der pädagogischen Medienarbeit ist die intervenierende und selbstorganisierende, das heißt von staatlichen und privaten Institutionen unabhängige Kulturarbeit, um Gegen-Öffentlichkeit zu organisieren. Für diese sogenannte Gegen-Öffentlichkeit wurden neuen Formen der Medienarbeit entwickelt, Medien und Arbeitsgruppen, Fanzines, Wandzeitungen, alternative Distributionsstrukturen etc. Der Begriff selbst verrät, dass der Schwerpunkt auf dem Produktionsaspekt gesellschaftlicher Kommunikation liegt. 2.5 Video in Spanien Erste international bekannte spanische Videokünstler sind Antoni Muntadas und Eugenia Barcells, die bereits Anfang der siebziger Jahre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Durch eine Großausstellung 1977 in der Joan Miró Fundation in Barcelona337 wurde Video einer breiteren spanischen Öffentlichkeit nahe gebracht. Diese Potenzschau von internationalen Videoarbeiten stieß jedoch auch auf eine grundlegende Kritik (Bufill, Bonet), da sie den merkantilen Charakter von Video betonte und keine Haltung zu den unterschiedlichen Positionen innerhalb der Vielfalt von Videoarbeiten bezog. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem noch jungen Medium Video, auch gerade hinsichtlich seiner Beziehung zum Fernsehen, wurde in der Veranstaltung „Video als kommunikatives und informatives Ausdrucksmedium“338 1974 parallel zu einer Ausstellung von Antoni Muntadas in der Galería Vandrés339 organisiert. Zu bedenken ist, dass bis zu Francos Tod 1975 die spanischen Kommunikationsmedien der staatlichen Kontrolle und Manipulation unterlagen. Das erste Community TV Projekt wurde von Antoni Muntadas 1974 im Lokalfernsehen der Stadt Cadaqués realisiert. Es bestand aus einer Serie von Reportagen und Interviews mit Leuten aus der Stadt, die ins Kasino gingen.340 Video als alternatives Kommunikationsmedium im Sinne der „Guerilla Television“ fand im franquistischen Spanien kaum Realisierung. Zu mächtig war die Repression seitens der Diktatur gegenüber Regimegegner_innen und Kritiker_innen, obwohl, es eine aktive militante bzw. politische Filmszene gab. Nach dem Tod des Diktators Francisco Franco begannen langsam Experimente mit 337 Originaltitel der Ausstellung von 1977 „VII Encuentro Internacional Abierto de Vídeo“, die in Kooperation mit dem Centro de Arte y Comunicación (CAYC) aus Buenos Aires, Argentinien entstand. Vgl. Jesús Carrillo /Ignacio Estella Noriega/ Lydia García-Merás (Hg.): Desacuerdos 4. Sobre arte, políticas y esfera pública en el Estado español, Granada: Arteleku 2007. 338 Originaltitel der Veranstaltung „El vídeo como medio de expresión comunicación e información“ 339 mit der Teilnahme von Simón Marchán-Fiz, Juan Manuel Bonet, René Berger, Alberto Corazón und Antonio Cirici Pellicer. Ebd. 340 Vgl. chronologische und bibliografische Aufstellung der Entwicklungsgeschichte von Video in Spanien, URL: http://videospain.wordpress.com/debate-historiografico-2/cronologia/ (27.01.2013) 108 Video und der Aufbau von audio-visuellen Kollektiven, unabhängig von Institutionen. Das katalanische Videokollektiv Video Nou341 (Neues Video) wurde 1977 im Rahmen des Workshops der venezuleanischen Filmemacher_innen Margarita D’Amico und Manuel Manzano gegründet. Nach 1979 nennt sich das Videokollektiv Servei de Vídeo Comunitari (Kommunales Video Service), da es sich auf sozialpolitische Interventionen konzentrierte, mit Nachbar_innen eines Stadtteils („Vida als barris“ 1980) zusammenarbeitete, den Streik der Tankstellen filmte („Huelga de Gasolineras“, 1977), und zu den Parlamentswahlen Interviews und Nachrichtenmaterial („Eleccions al Parlament de Catalunya“, 1980) analysierte und zusammenmontierte. Das Kollektiv löste sich 1984 auf. In „Dictadura mediática y activismo mediático en italia“ analysiert der italienische Theoretiker und Aktivist Franco Berardi (Bifo) 2004 den Begriff der GegenInformation und kritisiert: „Der Begriff der Gegeninformation ist eine naive Konzeption von Information. Sich gegen die falsche Information der Mächtigen zu stellen suggeriert die Idee, dass eine wahre, objektive, eine von Kommunikationsstrategien unabhängige Information der historischen Subjekte existiert. Das ist eine naive Sicht, obwohl sie ermöglicht hat, das viele wichtige Prozesse der Kritik an gegebenen Machtverhältnissen stattgefunden haben und stimuliert wurden.“342 In Bifos Zitat begegnen wir erneut der Kritik an einem polarisierenden und dadurch verkürzten Verständnis, dieses Mal, in Bezug auf die Öffentlichkeit bzw. der Produktion und Distribution von Information. Der Begriff Postmedia ermöglicht uns einen Einstieg in die sogenannte Netzwerkgesellschaft (Castells) und der Netzwerköffentlichkeit, die sich durch ein rhizomartiges Wuchern von unterschiedlichen Informationssträngen radikal von dem Begriff der Gegen-Information und der Gegen-Öffentlichkeit abgrenzt. Castells nennt das Zusammenwirken dreier Entwicklungen, die Ende der sechziger Jahre zur Netzwerkgesellschaft führen: Die Revolution der Informationstechnologie, die Krise des Kapitalismus und die Entstehung neuer (libertär geprägter) sozialer Bewegungen.343 Grundlegende Aussage Castells ist, dass die Machtrelationen innerhalb der industriekapitalistischen Organisationsform hierarchisch angeordnet waren und sich in der Informationsgesellschaft nun anders in den unterschiedlich angeordneten Strukturen und Kontenpunkten des Netzwerkes verorten. Wir können das projektorientierte Arbeiten der Videozentren und die Einbeziehung von sozialen Gruppen, Passanten, Betroffenen und Konsument_innen in den siebziger Jahren durchaus als Wegbereiter_innen der Netzwerkgesellschaft, in der sich die klassischen hierarchischen Machtkonstellationen auflösen, verstehen. 341 342 Video Nou, URL: http://www.hamacaonline.net/autor.php?id=156 (27.01.2013). Franco Berardi (Bifo): Dictadura mediática y activismo mediático en Italia, in: Cuadernos de crítica de la cultura, Nr. 40, 2002, S. 35, [Übersetzung A.S.]. 343 Manuel Castells: Das Informationszeitalter: Wirtschaft; Gesellschaft; Kultur. Teil 1.: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Aus dem Englischen von Reinhart Kößler. Leske + Budrich, Opladen, 2004, S. 1-24. 109 Die Videozentren mit ihren Sammlungen von ganz unterschiedlichen Videos sind gewissermaßen Vorgänger_innen der kommerziellen Videoportale wie YouTube, Blip, Vimeo etc. Dass politische Aktivist_innen inzwischen auch auf solchen kommerziellen Plattformen publizieren, zeigt, dass sich die sogenannte GegenÖffentlichkeit nicht nur begrifflich verändert hat, sondern sich mit den User_innen um eine vielfältigere Netzwerköffentlichkeit erweitert hat. 2.6 Postmediale Gesellschaften: (Selbst-) Repräsentation in der digitalen Netzwerkgesellschaft Der vorherige Abschnitt endete mit der These, dass die kritische Medienarbeit der Medienzentren mit dem Konzept der Gegen-Öffentlichkeit als Wegbereiter der Netzwerköffentlichkeit gesehen werden kann. In diesem Kapitel wird die Veränderung von der industriellen zur postindustriellen bzw. postfordistischen Produktion vorweggenommen (der Abschnitt „Veränderungen in der Produktion“ führt diese näher aus) und beschreibt anhand des Begriffes des Postmedialen, wie unterschiedliche Medien (Fotografie, Performance, Malerei, Schrift, Film, Video, etc.) scheinbar gleichberechtigt nebeneinander existieren und durch die Technisierung bzw. Digitalisierung sich gegenseitig vermischen, beeinflussen und durchdringen. 2.6.1 Felix Guattari: Die postmediale Ära Felix Guattari entwickelt zusammen mit Deleuze sein Konzept der Postmedia344 aus dem Begriff der Maschine und dem sogenannten maschinellen Gefüge heraus. Guattaris Verständnis von Maschine bezieht sich auf eine Textstelle in Karl Marx Text „Das Maschinenfragment“: „[Es] entwickelt [sich] die Vorstellung eines riesigen Automaten, der aus zahlreichen mechanischen und mit Verstand begabten Organen zusammengesetzt ist, die in Übereinstimmung und ohne Unterbrechung tätig sind.“345 Marx geht davon aus, dass eine Maschine mehr ist als nur ein technischer Mechanismus, sie sei vielmehr ein „mechanisch-intellektuelles-soziales Gefüge“346 : „ [...] die Maschine [...] ist nicht nur eine Verkettung von Technik und Wissen, von mechanischen und intellektuellen Organen, sondern darüber hinaus auch von sozialen Organen, insofern sie die Koordination der zerstreuten ArbeiterInnen betreibt.“347 In der Maschine würden sich, so Marx, die Kollektivität des menschlichen Intellekts versammeln.348 Guattari fragt sich, auf Marx beziehend, wieso denn diese 344 Die Texte Postmodern deadlock und Postmedia transition von Felix Guattari wurden in dem Buch Soft Subversion 1996 auf englisch veröffentlicht. Beide Texte stammen aber bereits aus den Jahren 1977-1985. Felix Guattari: Soft Subversions, New York: Semiotexte 1996. 345 Karl Marx: Grundrisse, MEW Bd. 42, Berlin: Dietz 1983, S. 592. 346 Gerald Raunig: Einige Fragmente über Maschinen, in: EIPCP, 10/2005, URL: http://eipcp.net/transversal/1106/raunig/de (27.01.2013). 347 Ebd. 348 Vgl. Karl Marx: Grundrisse, S. 602. 110 Verwicklung Maschine-Mensch nur dem Kapital dienen soll und ob es nicht andere, soziale, kollektive, politische Möglichkeiten dieser Nutzung gibt. „Why have the immense processual potentials bought forth by the revolutions in information processing, telematics, robotics, office automation, biotechnology and so on, so far only led to a monstrous reinforcement of earlier systems of alienation, an oppressive mass-media culture and an infantilizing politics of consensus? What would make it possible for them to finally usher in a post-media era, to disconnect themselves from segregative capitalist values and to give free rein to the first stirrings, visible today, of a revolution in intelligence, sensitivity and creativity?“349 Guattaris Verbindung zu den freien Radios in Italien der sechziger Jahre und deren Möglichkeiten einer sozialen, politischen und kulturellen Selbstorganisation gaben ihm Anlass, in ihnen neue Formen des Widerstandes und der Produktion von Subjektivitäten im Sinne der Postmedia Ära zu sehen. Als „einen Prozess der techno-kommunikativen Selbstorganisation, der die Überwindung der Medien-Ära andeutet“350 beschreibt Guattari seine Erfahrung im Besonderen bei Radio Alice in Bologna. „Radio Alice; it was not just a question of giving space for excluded and marginalised subjects such as the young, homosexuals, women, the unemployed and others to speak but rather of generating a collective assemblage of enunciation allowing for the maximum of transversal connections and subjective transformations between all these emergent subjectivities.“351 Sein Interesse an dem Vorläufer des Internets dem Datennetz Minitel, dem ersten Beispiel eines weitgespannten Datennetzes in Europa, das seit Anfang der achtziger Jahre in Frankreich Verbreitung fand, veranlasste ihn zu der Äußerung, „dass sich ein Horizont einer post-medialen Zivilisation abzeichnet“352 . Er stellte sich zukunftsweisend ein netzwerkartige Kommunikation vor, die nicht mehr hierarisch die Informationsflüsse strukturiere sondern jeden mit jeder auf allen Ebenen verbinden könnte. Für Guattari stellten die neuen technologischen Medien eine soziale Herausforderung dar, und es ginge im Grunde nur noch um die Umfunktionierung der kapitalistischen Organisationsform der Kommunikationsmedien: Wenn man diese Maschinen als massive Produktion von konsensueller Subjektivität versteht, kann man sie auch als alternative Produktion von Subjektivität umarbeiten, die sich für eine sozialere Wirklichkeit in der Post-Media Ära einsetzt. Verlassen wir den europäischen Kontext und begeben wir uns an die Ostküste der 349 350 Felix Guattari: The Guattari Reader, Oxford: Blackwell 1996, S. 103. Franco Berardi: Rhizomatisches Denken gegen die kalifornische Ideologie, in: Jungle-World Nr. 28, 04/07/2001, URL: http://jungle-world.com/artikel/2001/27/25550.html (27.01.2013). 351 Ebd. 352 Ebd. 111 USA: Am 30. November 1999 findet in der Stadt Seattle, im US-Bundestaat Washington, die Welthandelsorganisation WTO-Konferenz statt. US-Präsident Clinton hatte die internationale Konferenz initiiert, um über neue Regeln für den Welthandel zu beraten. Franco Berardi (Bifo), Freund von Guattari, Aktivist und Mitbegründer von Radio Alice und Tele-Street, beschreibt die Proteste von über 50.000 Menschen aus aller Welt gegen die Konferenz der globalmächtigsten Kapitalstaaten als: „Den ersten bewussten Akt der Selbstorganisation von Massen der kognitiv Arbeitenden, die alle möglichen disziplinären Felder durchqueren, von der soziokulturellen, bis zur psychopathologischen, der soziologischen Kommunikation bis hin zur politischen Theorie.“353 Er bezeichnet diese große Demonstration gegen die Regierenden „als Vorreiterin der ersten videoelektronischen Generation die gegen die ethische Unerträglichkeit des globalen Kapitalismus rebelliert.“354 In Bifos Worten lässt sich bereits ablesen, dass er in den Protesten von 1999 in Seattle neue Möglichkeiten der kollektiven, politischen Mobilisierung sieht, bei der mediale Kommunikation eine wesentliche Rolle spielt und die sich auf die Konzepte von seinem Freund Guattari beziehen. 2.6.2 Rosalind Krauss: Art in the Age of the Post-Medium Condition Im selben Jahr der Seattle Proteste (1999) wird der Text „A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Post-Medium Condition“355 von der US-amerikanischen Kunsttheoretikerin und Kritikerin Rosalind Krauss veröffentlicht, in dem sie unter der Bezeichnung der „postmedialen Bedingung“ das Ende der Medienspezifik in der künstlerischen Praxis beschreibt. Die von Krauss angesiedelte Rezeption einer Theorie des Postmedialen bezieht „ihre Legitimation und Differenziertheit unmittelbar aus dem New Yorker Kunstkontext“356 , fernab von den Seattle Protesten. Ich halte es für notwendig, an dieser Stelle kurz Krauss Umschreibung des Verständnisses der postmedialen Bedingung zu erläutern, um aufzuzeigen, dass trotz ihres Plädoyers für Interdisziplinarität und Intermedialität ihr Text fast nur das Feld innerhalb der Kunst absteckt und Guattaris Begriff der postmedialen Ära unerwähnt bleibt. Krauss Ansatz ist insofern wichtig, als dass sie noch einmal vorführt, wie vorherige theoretische Argumentationsstränge im analogen Zeitalter operierten und sich parallel zu der Digitalisierung und Virtualisierung von ästhetischen Arbeiten veränderten: von der Argumentation bezüglich der Medien- und Gattungsspezifik 353 Franco Berardi: Generación post-alfa. Patologías e imaginarios en el semiocapitalismo, Buenos Aires: Tinta Limón 2007, S. 24, [Übersetzung A.S.]. 354 Ebd. 355 Rosalind Krauss: A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Post-Medium Condition, London: Thames & Hudson 2000. 356 Max Hinderer: Ungewollter Positivismus. Zum Begriff des Postmedialen bei Rosalind Krauss, in: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst 1/2009, URL: http://www.springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=2160&lang=de (27.01.2013). 112 (deren Argumentationslinie ich im ersten Kapitel gefolgt bin: die Unterschiede von Text-Ich und Film-Ich) hin zu einer in sich differenziellen Medienreflektion. Krauss beschäftigt sich in dem hier erwähnten Text mit der Markierung von Grenzen des vorherrschenden und wie sie schreibt, „greenbergisierten“ Medienbegriffes der amerikanischen Moderne. In dem programmatischen Essay von 1940 „Towards a newer Laocoon“ forderte Greenberg eine Abgrenzung der einzelnen Künste untereinander in der Tradition Lessings zur Grenzbestimmung künstlerischer Medien. In seinem Vorwort bezeichnete Lessing die „Vermischung von Sprach- und Bildmedien als Schilderungssucht der Poesie und als ‚Allegoristierei‘ der redenden Gemälde“.357 Greenberg verfolgt in seinen Texten die Entwicklung der zumeist US-amerikanischen Malerei und deren nicht wesensgerechte Vermischung mit dem Literarischen als dominierende Kunstform. „To eliminate from the specific effects of each art any and every effect that might conceivably be borrowed from or by the medium of any other art. Thus would each art be rendered pure and its purity find the guarantee of its standars of quality as well as of its independence.“358 Krauss ordnet dem Begriff Medium drei Erzählstränge zu und erläutert anhand von Marcel Broodthaers Arbeiten die postmediale Bedingung, da sie in seinen Arbeiten den „Komplex“ (die Art und Weise von Komplexität) identifiziert, die diese Situation definiert. Gegen die Spezifik der Moderne setzt Krauss die Verwischung der Grenzen unterschiedlicher Medien im postmedialen Zeitalter. Sie spricht in diesem Zusammenhang von der Intermedialität von Bild und Text. Die unterschiedlichen Bild- und Textqualitäten sowie die Verknüpfung von Werbung und Kunst gehören ebenso zur sogenannten Intermedia wie auch die Wechselbeziehung von Markt und Information. „Die modernistische Erzählung vom angeblichen ‚Triumph‘ des Monochromen glaubte (die) Totalisierung in einem Gegenstand hervorgebracht zu haben, der mit seinen eigenen Ursprüngen völlig in eins fällt: Oberfläche und Träger in unteilbarer Einheit, das Medium der Malerei derart gegen Null reduziert, das nur noch ein Gegenstand übrig blieb. Broodthaer’s Rekurs auf die Fiktion erzählt von der Unmöglichkeit dieser Geschichte, indem er eine Überlagerung in Szene setzt, die an sich selbst für die von sich selbst differierende Verfasstheit von Medien selbst einstehen, sie allegorisieren kann.“359 357 Christian Spiess: Video – In between its Medium and Post-Medium Condition, in: Heike Oehlschlägel/Antje Krause-Wahl/Serjoscha Wiemer (Hg.): Affekte. Analysen ästhetisch medialer Prozesse, Bielefeld: Transcript 2006, S. 99-115, S. 107. 358 Clement Greenberg: Modernist Painting [1960], in: John O'Brian (Hg.): The Collected Essays and Criticism, Volume 4: Modernism with a Vengeance, 1957-1969, Bd. 4, Chicago: University Of Chicago Press 1993, S. 85–93, S. 86. 359 Rosalind Krauss: A Voyage on the North Sea: Broodthaers, das Postmediale. Aus dem Englischen 113 Als Postmedial bezeichnet Krauss eine prozesshafte, künstlerische Produktion deren spezifisches Merkmal das „aggregierende Medium“ ist und nicht wie zuvor von Greenberg formuliert die spezifischen Effekte und technischen Eigenschaften der eingesetzten Medien innerhalb einer Kunstart. „ [...] der filmische Apparat [führt] uns ein Medium vor Augen, dessen Spezifika in seiner Verfaßtheit als von sich selbst Differierendem liegt. Es ist aggregativ, eine Sache des Zusammenschließens von Trägern und übereinandergeschichteten Konventionen.“360 In poststrukturalistischer Manier differenziere sich das Medium in sich selbst und kann nicht als das Medium schlechthin kategorisiert werden oder in einen disziplinären Gattungsbegriff gepresst werden. Es gibt kein reines Genre mehr, kein reines Eigenes im Sinne von Eigentum und mit dieser Intermedialität ist die Verschmelzung von Disziplinen und Fakultäten vorweggenommen, die an interdisziplinäre Arbeits- und Kommunikationsweisen appelliert. Zusammenfassend formuliert Krauss also zwei wesentliche Komponenten der postmedialen Bedingung: „Erstens: Die Spezifik der Medien, selbst der Medien der Moderne, muss als differenziell, als von sich selbst differierend verstanden werden, weshalb die Schichtung bestimmter Konventionen niemals einfach in die reine Körperlichkeit ihres Trägers kollaboriert. Zweitens: gerade der Anfang höher entwickelter Technologien - ‚Roboter, Computer‘- gestattet uns dadurch, dass sie ältere Techniken überholt aussehen lassen, die innere Komplexität jenes Mediums zu erfassen, dessen Träger diese Techniken sind.“361 Krauss postmediale Bedingungen beschreiben, mit Bezugnahme auf Frederic Jameson, abschließend eine alle Lebensbereiche durchdringende, allgegenwärtige ästhetische Erfahrung, die einhergeht mit der Auflösung des Medienspezifischen der Einzelkünste. In diesem „Regime postmoderner Empfindung“ haben Medien die Funktion, hier zitiert Krauss direkt Jameson, alle Wahrnehmungsbereiche in Lesbares, Sichtbares und kulturell Vertrautes zu übersetzen.362 Der Kunst sei mit diesem Verständnis von Kultur das Konzept von ästhetischer bzw. künstlerischer Autonomie abhanden gekommen und vermischt sich mit den Arbeits- und Lebenserfahrungen des Alltagslebens. Ähnlich wie Bourdieus Definition des sogenannten Kunstfeldes, das in Wechselwirkung zur Gesellschaft und Ökonomie steht, sei die Kunst also nicht mehr in einer für sich existierenden Sphäre zu denken. von Sabine Schultz. Zürich: Diaphanes 2008, S. 68. Ebd., S. 57. 361 Ebd., S. 69. 362 Ebd., S. 69. 360 114 2.6.3 Peter Weibel: Die postmediale Kondition Für Peter Weibel bildet die Integration der Medien mit Hilfe der Universalmaschine Computer die Grundlage für Postmedialität.363 Weibels Hauptthese ist, dass zwei entscheidende Phasen das postmediale Zeitalter geprägt haben, nachdem vorher jahrzehntelang Grabenkämpfe zwischen den unterschiedlichen Disziplinen und Fakultäten stattgefunden hatten: In der ersten Phase der Medienkunst sei es darum gegangen, der Fotografie und dem Film zu künstlerischer Anerkennung zu verhelfen und sie auf eine Stufe mit den klassischen Medien der Malerei und Skulptur zu stellen. Hierfür wurden medienspezifische Merkmale definiert, die ein Medium vom anderen unterscheiden. „Die Malerei demonstrierte den Eigenwert der Farbe, das Fließen, Tropfen, Rinnen. Die Fotografie demonstrierte ihre wirklichkeitsgetreue Abbildungsfähigkeit. Der Film demonstrierte sein erzählerisches Vermögen. Video demonstrierte seine kritische Subversion des Massenmediums Fernsehen. Die digitale Kunst demonstrierte ihre Imaginationsfähigkeit in künstlich virtuellen Welten.“364 Nachdem die erste Phase durch die Spezifizierung der Medienmerkmale gekennzeichnet wurde, ging es in der zweiten Phase im künstlerischen und erkenntnistheoretischen Sinne darum, die medienspezifischen Eigenwelten der Medien zu mischen. Dies würde nach Weibel nicht nur neue, interdisziplinäre Ausdrucksmedien schaffen, sondern auch eine entscheidende Wirkung auf die traditionellen Medien wie Malerei und Skulptur haben. „Man könnte sogar [...] sagen, der eigentliche Erfolg der neuen Medien besteht nicht darin neue Kunstformen und Kunstmöglichkeiten entwickelt zu haben, sondern ihr eigentlicher Erfolg besteht darin, uns die alten Kunstmedien neu zugänglich und sie vor allem am Leben gehalten zu haben, indem sie diese zu einschneidenden Veränderungen gezwungen haben.“365 Weibel geht davon aus, dass die postmediale Bedingung sogar Eigenwelten der Apparatewelt durch neue Technologien neu ausdifferenziert. Im postmedialen Zustand würden erst recht die spezifischen Eigenschaften der Medien, von der Malerei bis zum Film, zum Ausdruck kommen. Er führt das Beispiel des 16 mm Filmstreifens an, dessen Grad des Granulats der Computer besser simulieren und beliebig bestimmen könne als es je der reale Filmstreifen selbst konnte. Der postmediale Computer, die universale Maschine, erlaubt es, den Reichtum der Spezifika der Medien erst recht zu verwirklichen. Weibel manifestiert 363 „Postmediale Kondition“ ist ein Text von Peter Weibel, der zum Leitmotiv der gleichnamigen Ausstellung in Graz (2006) wurde. Peter Weibel: Postmediale Kondition, Graz: Neue Galerie 2005, URL: http://www.peter-weibel.at/index.php?option=com_content&view=article&id=75&Itemid=35 (28.01.2013). 364 Ebd. S. 12. 365 Ebd. S. 10. 115 diesbezüglich: „Alle Disziplinen der Kunst wurden von den Medien verändert. Das Paradigma der Medien erfasst alle Künste. [...] Die Wirkung der Medien ist universal und daher alle Kunst bereits postmedial. Darüber hinaus beansprucht die Universalmaschine Computer, alle Medien simulieren zu können. Daher ist alle Kunst postmedial. [...] In der Kunst gibt es kein Jenseits der Medien mehr. Niemand kann den Medien entfliehen. Es gibt keine Malerei mehr ausserhalb und jenseits der medialen Erfahrung. Es gibt keine Skulptur mehr ausserhalb und jenseits der medialen Erfahrung. Es gibt keine Fotografie mehr ausserhalb und jenseits der digitalen Erfahrung.“366 Daraus zieht Weibel den Schluss: „Jegliche Kunstpraxis folgt dem Skript der Medien.“367 Neben der Vermischung der Medien unter dem Diktat des technischen Fortschritts wirbt Weibel begeistert für die Demokratisierung von Bildproduktion bzw. ihrer Distribution und der Auflösung von zentral geschalteten Kontrollinstanzen. In einem postmedialen Zustand würde sich, so Weibel, die Gleichberechtigung zwischen Laien, Amateuren, Konsumenten und Rezipienten realisieren. Es sei „die Geburtsstunde einer neuen demokratischen Kunst“368, an der jeder partizipieren kann. Das Netz würde diesen Ort bereitstellen, in dem jede/r seine Texte, Fotos, Videos und anderes anbieten kann. „Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es eine ‚Institution‘, einen ‚Raum‘, einen ‚Ort‘, wo der Laie mit Hilfe der Medienkunst seine Werke anderen ohne die Wächter der Kriterien offerieren kann. Bisher war er ja zensuriert. Es gab ja nur Museen und andere staatliche oder private Kontrollzonen, wo nur legitimierte Kunst ausgestellt wurde. [...] Mit dem bildgebenden Verfahren in den Wissenschaften verliert die Kunst ihr Bildmonopol und ihre Bildmacht.“369 Rancière, der in seinen Texten auch von einer neuen Form der Demokratisierung ausgeht, bezieht sich im Gegensatz zu Weibels medienanalytischen Ansatz direkt auf die Form der Repräsentation. Das höfische Repräsentationssystem Ende des 18. Jahrhundert, in dem jede Bewegung und jeder Gegenstand eine konkrete Bedeutung gehabt hätte, sei nun von dem „ästhetischen Regime der Künste“ abgelöst worden. „Das ästhetische Regime der Künste bedeutet zunächst einmal die Zerstörung des Systems der Repräsentation, das heißt eines in dem 366 367 Ebd., S. 12. Ebd., S. 12. 368 Ebd., S. 13. 369 Ebd., S. 13. 116 die Würde der Gegenstände die Würde der Gattungen bestimmt (Tragödie für die Darstellung von Adligen, Komödie für die von einfachen Leuten; Historienmalerei vs. Genremalerei etc.). Das System der Repräsentation definierte zugleich mit den Genres die Situationen und Ausdrucksformen, die der Niedrigkeit oder der Höhe des jeweiligen Gegenstands entsprachen. Das ästhetische Regime der Künste löst diese Verknüpfung von Gegenstand und Darstellungsweise auf.“370 Es würde sich seitdem ein egalitäres Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter_innen einstellen und mit dieser neuen Aufteilung des Sinnlichen, so Rancière, ginge auch eine größere soziale Gleichheit einher. Ästhetische Erfahrung sei nun nicht mehr nur Sache einer kleinen, gebildeten Schicht. Um diese bis heute andauernde Epoche zu beschreiben, prägte er die Formulierung eines „ästhetischen Regimes der Kunst“ die der postmedialen Ära von Weibel entspricht. Der Begriff postmedial wird von den drei Autor_innen (hier Guattari, Krauss und Weibel) auf ganz unterschiedliche Art und Weise definiert, wobei erstaunlich ist, dass sich die Autor_innen trotz ihres gemeinsamen Plädoyers von Intermedialität und Auflösung der Disziplinen nicht auf die jeweils anderen Autor_innen beziehen, insofern sprechen sie aus drei verschiedenen Positionen heraus (Guattari: soziopolitische Bewegung, Krauss: Kunsttheorie, Weibel: Kunsttechnologische Richtung). Der zuletzt entstandene Text von Peter Weibel, so scheint es zumindest, verleibt sich die beiden Vorgängertexte ein, ohne sie jedoch zu nennen. Denn auch er spricht von der Auflösung der Disziplinen und einer entstehenden Intermedialität und lässt den Text euphorisch mit der Gleichberechtigung der medialen Nutzer_innen enden. - Guattari formuliert die notwendige Durchbrechung der Vorherrschaft von der Nutzungsform von Medien ausschließlich für das Kapital hin zu Medien für Minderheiten. - Krauss beschreibt die Vielschichtigkeit, das Medium als in sich differenziell, als Aggregat /Ästhetik aus einer kritischen kunsttheoretischen Position heraus. - Weibel markiert die Gleichwertigkeit der Medien und das Mischen der Medien und sieht darin eine Demokratisierung der Produktion und Distribution. Seine Argumentation betont die Bedeutung der digitalen bzw. technologischen Kommunikationsmedien und räumt ihnen eine herausragende Stellung gegenüber analogen Medien ein. Von den drei Perspektiven ist die von Felix Guattari am ehesten relevant für diese Arbeit. Im gewissen Sinne bezieht sie, vorrausschauend, aus einem anderen Spektrum argumentierend, Krauss und Weibels Definition mit ein, wenn wir an zwei bereits erwähnte Beschreibungen von Guattari denken: die Orchestrierung und das Zusammenspiel der signifikanten und a-signifikanten Semiotiken. Guattaris direkte Erfahrung mit sozialen Bewegungen und Praxen der medialen Selbst-Repräsentation von Minderheitengruppen steht den Beispielen in 370 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006, S. 52. 117 dieser Arbeit, die vom Unbehagen in jeweils bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehen, am Nächsten. 2.7 Filmessay, als intellektuelle Autobiografie Der Abschnitt über Postmedialität hat gezeigt, dass durch sogenannte „Mischformen“ bzw. das Vermischen von unterschiedlichen Medien die exklusiven und eingrenzenden Funktionen von Disziplinen und Genres mit Hilfe von interdisziplinären oder gattungsübergreifenden Praktiken in Frage gestellt werden. Essayfilme formulieren, ermöglichen, inszenieren und kommentieren ein „Aufeinandertreffen und Ineinandergreifen von Literatur, Philosophie und Bildmedien“371 und bilden insofern an dieser Stelle eine zum vorherigen Kapitel anschließende Koordinate. „Like its ancestor, the written essay, it poaches across disciplinary borders, transgresses conceptual and formal norms, and does not follow a clear narrative trajectory. The essay film is rebus-like and hybrid, recalling the operation of memory and dreamwork.“372 Der Begriff des Essayfilms, der insbesondere in den letzten 10 Jahren auf Dokumentar- und Videofestivals, in Ausstellungen und Publikationen kursiert, lässt sich nicht gattungsspezifisch festlegen; das Offene und Unabgeschlossene ist nicht nur seiner Definition, sondern auch seiner Form immanent. „ [...] For a documentary, they are seen as too experimental, selfreflexive and subjective, and for an art video they stand out for being socially involved or explicitly political.“373 Ursula Biemann schlägt vor, den essayistischen Film nicht mit vorgegebenen Genres zu umschreiben, sondern ihn als eine „andere ästhetische Strategie“374 zu verstehen. Auch Christina Scherer vertritt dieses Argument. Das ästhetische Ich stehe im Essayfilm nicht für eine eindeutig identifizierbare Person. Subjektivität sei im Essayfilm vielmehr eine ästhetische Position, die auf ein Autoren-Ich verweisen kann, dies aber nicht unbedingt in Fordergrund stellt. Viel entscheidender sei, so argumentiert Scherer, „dass mit dieser subjektiven Positionierung ein Widerstand gegen verobjektivierte Diskurse formuliert wird“375. Auch wenn Subjektivität als ästhetisches Stilmittel eingesetzt wird, ist sie dennoch ein wesentliches Merkmal des Essayfilmes, um Gedanken und Argumentationslinien seiner Produzent_innen zu artikulieren. 371 Sven Kramer/Thomas Tode: Der Essayfilm: Ästhetik und Aktualität, in: Internationale Tagung, Universität Lüneburg 2007. URL: http://www.meolaffel.files.wordpress.com/2010/04/tagung-essayfilm.pdf (28.01.2013). 372 Nora M. Alter: Memory Essays, in: Ursula Biemann (Hg.): Stuff it, Wien: Springer Vienna Architecture 2003, S.12-24, S.12. 373 Ursula Biemann: The Video Essay in the Digital Age, Ebd., S. 8-12, S. 8. 374 Ebd., S. 8, [Übersetzung A.S.]. 375 Christina Scherer: Die Subversion dominanter Bilderwelten im Essayfilm, in: Sven Kramer/Thomas Tode (Hg.): Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität, Konstanz: UVK 2011, S. 143159, S. 144. 118 Ursprünglich wurde der Begriff Essay durch die Texte des unorthodoxen Humanisten Montaigne geprägt, der sich schon mit der Benennung seiner Texte als „Essay“ zu deutsch „Versuch“ bewusst von der klassischen Wissenschaft distanzierte. Diese „Versuche“ sollten als Erörterungen von subjektiver Erfahrung und eigener Reflexion gelesen werden.376 „Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfasst, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwertet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen lässt.“377 In welchem Maße kann denn nun der filmische Essay unter Einbeziehung von Konzepten und Theorie gesellschaftskritisch intervenieren? In den durch ökonomische Krisen geprägten vierziger Jahren tauchte das Konzept des Essayfilms als künstlerischer Versuch auf, neue Formen der filmischen Darstellung sozialer Wirklichkeit auszuprobieren, die die erfahrene Komplexität der Lebensverhältnisse erfassen und kritisieren sollten. 1940 schrieb der Filmemacher Hans Richter, als einer der ersten Autoren in dem Artikel „Der Filmessay: Eine neue Form des Dokumentarfilms“378, ein zusammenfassendes Konzept des Essayfilms. „Auch was an sich, was nicht sichtbar ist, muss sichtbar gemacht werden. Die gespielte Szene als auch die einfache Tatsache sind Argumente innerhalb einer Beweisführung, die zum Ziel hat Probleme, Gedanken, und Ideen allgemein verständlich zu machen.“379 Um die vielschichtigen Darstellungsmöglichkeiten des Essayfilms 1940 zu beschreiben, bezieht sich Richter auf seine Erfahrung, die er bei der Produktion seines eigenen Filmes „Inflation“ (1928)380 machte. Der Film sollte die Börse und den „Amok laufenden Kapitalismus“381 darstellen. „In diesem Bemühen, die unsichtbare Welt der Vorstellungen, 376 Um das Thema des literarischen Essays zu vertiefen vgl. den Streit zwischen Adorno und Lukàcs, in dem es darum ging, ob dem Essay der Status eines Kunstwerks zugesprochen werden darf oder nicht. Theodor W. Adorno: Der Essay als Form [1958], S. 61-84, und Georg von Lukàcs: Über Wesen und Form des Essays [1910], S. 27-48, in: Deutsche Essays I. Prosa aus zwei Jahrhunderten, München: DTV Deutscher Taschenbuch 1982. 377 Max Bense: Über den Essay und seine Rede; in: Merkur 1, 1947, S. 414 - 424. 378 Hans Richter: Der Filmessay. Eine neue Form des Dokumentarfilms [1940], in: Christa Blümlinger/Constantin Wulff (Hg.): Schreiben Bilder Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Wien: Sonderzahl 1992, S. 195-199. 379 Ebd., S. 197. 380 Hans Richter: Inflation, Deutschland 1928. 381 Hito Steyerl: Ästhetik des Widerstands? Künstlerische Forschung als Disziplin und Konflikt, in: EIPCP, 01/2010, URL: http://eipcp.net/transversal/0311/steyerl/de (28.01.2013). 119 Gedanken und Ideen sichtbar zu machen, kann der essayistische Film aus einem unvergleichlich größeren Reservoir von Ausdrucksmitteln schöpfen als der reine Dokumentarfilm. Denn da man im Filmessay an die Wiedergabe der äußeren Erscheinungen oder an eine chronologische Folge nicht gebunden ist, sondern im Gegenteil das Anschauungsmaterial überall herbeiziehen muss, so kann man frei in Raum und Zeit springen: von der objektiven Wiedergabe beispielsweise zur phantastischen Allegorie, von dieser zur Spielszene; man kann tote wie lebendige, künstliche wie natürliche Dinge abbilden, alles verwenden, was es gibt und was sich erfinden lässt - wenn es nur als Argument für die Sichtbarmachung des Grundgedankens dienen kann.“382 Richter stellt sich der Schwierigkeit, dass die Wiedergabe und eine chronologische Abfolge des Börsengeschäftes nicht ausreicht, um die Funktion des ökonomischen Handels in seiner Komplexität zu erfassen. Die Börse unterscheidet sich grundlegend von dem Prinzip des Funktionierens einer Maschine, bei der sich von Anfang bis Ende der Ablauf ablesen lässt. Um aber das Funktionieren der Wirtschaftsbörse verständlich zu machen, müssen andere Dinge mit einbezogen werden: die Bedürfnisse der Menschen, die Gesetze des Marktes, Angebot und Nachfrage, etc. Man könne sich, so Richter, nicht einfach darauf verlassen, dass sich das darzustellende Objekt einfach in einer oder mehreren Einstellungen aufnehmen lasse, sondern man sollte, mit welchen Mitteln auch immer, die Idee der Sache wiedergeben.383 Die Vorstellung, die man selbst von der Börse als Markt hat, sollte zum Ausdruck gebracht werden. Richter argumentiert, dass für den Umgang mit abstrakten Prozessen, wie etwa die kapitalistische Ökonomie, eine neue Filmsprache entwickelt werden muss. „Wie können solche Abstraktionen dargestellt werden? Wie lässt sich das Immaterielle visualisieren? “384 Man könnte meinen, dass Richter die Immaterialisierung der Ware und Digitalisierung der Produktion in der Wissensgesellschaft vorrausieht, in der die Vielschichtigkeit und Verknüpfung von kognitiven Prozessen, Spekulationen, Kommunikation u.a. zu einem Netz zusammengesponnen werden und viele unterschiedliche Reaktionen simultan in Echtzeit an verschiedenen Orten hervorruft. Die Entwicklung von der industriellen Produktion zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft, rasante Strukturveränderungen, konkurrierende Methoden und Paradigmen in den Wissenschaften - all das lässt sich unter dem Stichwort wachsende Differenzierung der Produktionsverhältnisse zusammenfassen und für damals als eine neue Herausforderung des herkömmlichen Dokumentarfilms begreifen. F.T. Meyer geht soweit, den essayistischen Dokumentarfilm als „Seismographen der Wirklichkeit“,385 der dem „Impuls einer gesellschaftlichen Pluralität“386 von 382 383 Richter: Der Filmessay. Eine neue Form des Dokumentarfilms, S. 197. Ebd. 384 Hito Steyerl: Ästhetik des Widerstands? Künstlerische Forschung als Disziplin und Konflikt, EIPCP, 01/2010. 385 F. T. Meyer: Filme über sich selbst: Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film, Bielefeld: Transcript 2005, S. 203. 386 Ebd., S. 203. 120 Postmoderne gerecht wird, zu beschreiben. Oftmals handeln Essayfilme von individueller Erfahrung und subjektivem Blick, ohne jedoch in ein einheitliches Subjektverständnis zu verfallen. Sie untersuchen die prekäre Stellung der Subjektivität in der modernen Massengesellschaft. „Essayfilme verfahren konstitutiv selbstreflexiv und selbstreferenziell. So thematisieren die Essayfilme nicht nur die Herkunft der verwendeten Bilder und Töne, sondern sie kommentieren sie zugleich, indem sie sie in neue Zusammenhänge versetzen. Sie erinnern, subvertieren und reformulieren die uns umgebenden Bilder- und Tonwelten, und sie führen dabei zugleich ihr eigenes Verfahren vor.“387 In den Filmen von Hito Steyerl, Harun Farocki und Alexander Kluge werden selbstreflektive Handlungen, die eigene Bildproduktion betreffend, eingebaut und verorten auf diese Weise die Filmemacher_innen in einem komplexen Beziehungsgeflecht aus unterschiedlichen Diskursen, Bildpolitiken, Perspektiven, Produktionsbedingungen, Interessen und Motivationen. Diese Herangehensweise lässt sich in Verbindung mit den einleitenden Abschnitten zu Repräsentation, Subjektivierungsprozessen und Kritik lesen. „Essayist work doesn’t aim primarily at documenting realities but at organizing complexities.“388 Für das Thema dieser Arbeit, Selbst-Repräsentation von Unbehagen, wird mit dem Vorstellen des Essayfilms als ästhetische Praxis einmal mehr an das Brechen von Konventionen des Chronologischen, Kontinuierlichen und Abgeschlossenen appelliert, um Selbst-Repräsentation als nicht abschließenden Prozess des Werdens und des ortlosen Ortes zu verstehen. Im Essayfilm verbinden sich sozialhistorische und persönliche Relationen, die in einem permanenten Entstehungsprozess sind. Für die Zuschauer_innen von Essayfilmen bedeutet dies, dass viele einzelne Komponenten bei der ersten Sichtung des Filmes nicht erschließbar sind, dass sie von anderen Verbindungslinien ausgehen. Die Koordinaten verschieben sich je nach Zuschauer_in und appellieren an eine aktive Haltung. „There are good reasons why postcolonial artists are such outstanding essayists. Their videos raise the question of how an increasingly ambivalent experience of place, nation and belonging lived by so many cultural producers today has prompted them to develop an artistic language that corresponds to the essayist voice, a voice that speaks from a position of placelessness. On the other hand, essayists are very engaged in rewriting the historical 387 Sven Kramer/Thomas Tode: Der Essayfilm: Ästhetik und Aktualität, Internationale Tagung, Universität Lüneburg 2007. 388 Ebd. S. 10. 121 dimensions of places.“389 2.7.1 Eine Gegen-Geschichte zu Ödipus, der Film „Rätsel der Sphinx“ von Laura Mulvey und Peter Wollen Mit dem Vorgehen, den Filmemacher_innen beim Denken zuzuschauen, siedelt sich der Essayfilm nahe dem Konzept des Autobiografischen an. Der Film „Riddles of the Sphinx“390 wird an dieser Stelle ausschnitthaft als ein Beispiel vorgestellt, das den Versuch unternimmt, direkt in patriarchal strukturiertes theoretisches Denken zu intervenieren. Laura Mulveys und Peter Wollens gemeinsamer Film ist nicht die Erzählung einer persönlichen Geschichte, die vom Leben der Filmtheoretikerin Laura Mulvey und dem Filmemacher Peter Wollen handelt. Ich bezeichne ihren Film als eine intellektuelle Autobiografie, in der die beiden Autoren mit kritischen Überlegungen zum patriarchalen Diskurs über den sogenannten Identifikations-Prozess (ÖdipusKomplex) die psychologische Gründungsgeschichte angreifen oder vielmehr einen Vorschlag unterbreiten, diese Geschichte anders zu erzählen. Der in 16 mm gedrehte Film von 92 Minuten Länge wurde lange Zeit als Avantgarde-Film bezeichnet, der zum einen von der theoretischen Auseinandersetzung mit feministischen Fragen handelt und zum anderen eine kritische Analyse des Filmbildes ist. Sowohl Laura Mulvey, Peter Wollen, Wollens Sohn Chad als auch eine Anzahl von befreundeten Künstler_innen und feministischen Frauen der Londoner Kunstszene - Tina Keane, Claire Johnston und Mary Kelly - tauchen in dem Film mit auf. „Riddles of the Sphinx“ verortet sich im Umbruch der feministischen Filmtheorie der siebziger Jahre. „Mitte der 70er Jahre kam es zu einem ``theoretical turn'' in der feministischen Filmtheorie und Film wurde nicht länger als Widerspiegelung der Realität begriffen, sondern als zeichenproduzierende Praxis, in der Wirklichkeit durch die Codes der Kamera, der Montage etc. konstruiert wird. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich vom Inhalt des Films auf die Sprache der filmischen Repräsentation. Geprägt wurde diese theoretische Wende von Laura Mulvey, ihr Text ``Visual Pleasure and Narrative Cinema'', der 1975 publiziert wurde, ist nach wie vor der meistzitierte Aufsatz der feministischen Filmtheorie [...].“391 „Riddles of the Sphinx“ wurde in den seltensten Fällen als Essay-Film bezeichnet. Mulvey beschreibt selbst, dass der Begriff Essay-Film seiner Zeit noch nicht 389 390 Ursula Biemann: The Video Essay in the Digital Age, S. 10. Laura Mulvey/Peter Wollen: Riddles of the Sphinx, [DVD], England 1977. 391 Evamaria Trischak: Filmtheorien und Gender, in: Cinetext 04/2012, URL: http://cinetext.philo.at/magazine/trischak/filmtheorien_und_gender.html 122 verwendet wurde und ihr aus heutiger Sicht als Genre begegnet: „Wir wollten Ideen-Filme machen [...]. Heutzutage ist der EssayFilm relativ etabliert, damals war er uns so als Genre nicht bewusst, also vielleicht gab es das Genre, aber es war uns noch nicht bewusst. Wir sahen das als Weg, das Kino zu befreien und zu etwas zu nutzen, wofür es vorher nicht viel genutzt wurde. Natürlich gab es schon vorher theoretische Filmemacher wie Vertov, Eisenstein oder die französische Avantgarde [...]. Was wir wollten war tatsächlich, theoriebasierte Filme zu drehen.“392 Die erste Einstellung des Films beginnt mit dem Fokus auf die Hände einer Frau, die ein Buch durchblättern. Auf die Szene ist das Inhaltsverzeichnis des Films montiert und kündigt auf die Weise an: der Film ist wie ein Buch in unterschiedliche Kapitel gegliedert.393 Die blätternde Hand hält auf der Seite mit einer Fotomontage von Greta Garbo als Sphinx an. In der nächsten Szene sehen wir Laura Mulvey am Schreibtisch sitzen und in die Kamera sprechen: Sie erklärt den Titel des Filmes, der sich auf den Mythos der Sphinx bezieht. „When we were planning the central section of this film, about a mother and a child, we decided to use the voice of the Sphinx as an imaginary narrator-because the Sphinx represents, not the voice of truth, not an answering voice, but its opposite: a questioning voice, a voice asking a riddle. The Oedipus myths associates the voice of the Sphinx with motherhood as mystery and resistance to patriarchy. In some ways the forgotten character in the story of Oedipus. Everybody knows that Oedipus killed his father and married his mother, but the part played by the Sphinx is often overlooked.“394 Mulveys einleitende Worte stellen einen selbstreflexiven Moment in dem Film dar. Sie stellt sich und ihre, gemeinsam mit Peter Wollen entwickelten, Gedanken vor. Die Rolle der Sphinx in der Ödipus-Geschichte steht als Symbol für die Stellung der Frau in der patriarchalen Ordnung. Sie steht genauer gesagt außerhalb der Ordnung, genauso wie die Sphinx, die vor den Stadttoren sitzt, aber gleichzeitig eine Bedrohung oder Herausforderung darstellt, da sie den Zutritt zur Stadt erschwert. Mulvey und Wollen setzen dem Mythus des Ödipus, Freuds Rätsel der Weiblichkeit, die Geschichte der Sphinx entgegen. Mulveys Performance am Schreibtisch bildet gleichzeitig die Rahmenhandlung des Filmes, die den Ort des Denkens festlegt und in der Theoretikerin Mulvey eine Sprecherin erhält. Am Ende des Filmes hört sich Mulvey, am Schreibtisch sitzend, 392 O.A.: Laura Mulvey im Interview, in: Räuberin, 11/12/2010, URL: http://raeuberin.com/2010/12/11/laura-mulvey-im-interview/ (28.01.2013). 393 Die Kapitel tragen die Titel: 1. Opening pages, 2. Laura speaking, 3. Stones, 4. Louise`s story told in thirteen shots, 5. Acrobats, 6. Puzzle ending. 394 Laura Mulvey/Peter Wollen: Riddles of the Sphinx, in: Scott MacDonald (Hg.): Screen Writings: Texts and Scripts from Independent Films, Berkeley: University of California Press 1995, S. 97-114, S. 98. 123 ihre Stimme und das eingangs Gesagte auf einem kleinen Tonbandrekorder an. In dem Abschnitt des Films „Louise’s story told in thirteen shots“ wird die fiktive Geschichte der alleinerziehenden Frau Louise erzählt, die nach der Trennung von ihrem Mann Chris, in ihrer Privatsphäre als auch bei der Arbeit mit zahlreichen Hindernissen zu kämpfen hat. Mulvey begründet die Bedeutung des narrativen Teils mit dem Argument, dass das Thema Mutterschaft für die politische Frauenbewegung wesentlich war. Es wäre eines der Themen gewesen, bei denen es darum ging, wie organisiert man/ bzw. Frau sich. Mutterschaft würde von relativ banalen Dingen aus dem Alltag bis hin zu der Psyche und der Frage Inwieweit ist das Unbewusste patriarchal strukturiert?, reichen.395 „Does the oppression of women work on the unconscious as well as on the conscious? Should women demand special working conditions for mothers? [...] Is domestic labour productive? Is the division of labour the root of the problem? Is exploitation outside the home better than oppression within it? Should women organise themselves separately from men? [...] How does women’s struggle relate to class struggle? Is patriarchy the main enemy of women? What would the politics of the unconscious be like? How necessary is being-a-mother to women, in reality or imagination? Is the family an obstacle to the liberation of women? [...] “396 Diese Fragen tauchen in der Mitte des Filmes als Voice im Off auf. Es sind die Worte der Theoretikerin, Feministin und Filmemacherin Laura Mulvey, die sich mit den Gedanken der Protagonistin des narrativen Teils des Films, der alleinstehenden Mutter Louise, vermischen. Als wiederkehrendes ästhetisches Mittel verwenden Mulvey/Wollen 360 Grad Kameraschwenks, die das Unbehagen über den hermetisch verschlossenen sozialen Raum (der Frau) vermitteln. „These ‚circles‘ represent the enclosing space of the domestic interior, a topography that can be safe and comforting as in the image of a nest, but also constricting as in a prison. Not only did this cinematic strategy oppose the more linear space of conventional narrative but it seemed to represent the dilemmas faced by both mother and child trapped in a dyadic relationship. The idea is established in the kitchen sequence, which was shot to exclude the exterior (no windows were visible); the outside was invisible, and the mother’s face was invisible. While excluding the exterior emphasised the enclosed space of the domestic, framing emphasised the mother-child dyad, but slightly exaggerated as a quite chunky two-year-old being still carried around by her 395 Laura Mulvey: In conversation with Griselda Pollock, in: Studies in the Maternal. Birkbeck Universität London, 02/01/2010, URL: www.mamsie.bbk.ac.uk/documents/mulvey.pdf (28.01.2013) 396 Laura Mulvey/Peter Wollen: Riddles of the Sphinx, S.106. 124 mother.“397 Die Küche, die mit den 360 Grad Schwenks der Kamera aufgezeichnet wurde, wirkt beklemmend und beengend. Dies wird auch noch durch die monotone Synthesizer Musik von Mike Ratlege unterstützt, die den Eindruck eines Loops verstärkt, das Um-sich-selbst-Kreisen in einem hermetischen Raum. Louise, die ihren Ex-Mann Chris im Filmstudio besucht, lernt dort seine Arbeit an dem Dokumentarfilm über die Künstlerin Mary Kelly kennen. Am Schneidetisch zeigt Chris ein Fragment aus dem Film: Mary Kelly liest Tagebucheinträge vor. Die Einträge handeln von den Erfahrungen mit ihrem Kind, das die erste Trennungssituation durchlebt, als es in den Kindergarten kommt. Kelly beschreibt aus ihrer Sicht, wie sich die symbiotische Beziehung Mutter-Sohn durch die Präsenz des Vaters verändert und das Kind zum ersten Mal „Ich“ sagt. In diesem Ausschnitt aus Mary Kelly Arbeit wird die weibliche Sicht der Situation dokumentiert, die in der psychoanalytischen Theorie als das ödipale Drama bezeichnet wird. Die duale Beziehung zwischen Mutter und Kind wird getrennt: „Der Name oder das Nein des Vaters, die das Inzesttabu als primäres Gesetz verkünden, durchschneiden die Mutter-KindDyade und ermöglichen durch diesen Schnitt der „symbolischen Kastration“ dem Kind, dem Nicht-Sprechenden, den Zugang zur symbolischen Ordnung und damit zur Selbständigkeit des Ichs. “ 398 Marz Kelly stellt in der Dokumentation ihre eigene Geschichte der psychoanalytischen Erzählung gegenüber und entwirft auf diese Weise ein Gegenbild bzw. eine dokumentarische Fassung zu der theoretischen psychoanalytischen Wissenschaft. Dieser Teil des Filmes steht exemplarisch für die Auseinandersetzung des Problems mit der Vereinnahmung und Verkörperung durch vorgegebenes Vokabular, Sprache bzw. Geschichte. Wie eingangs bereits erläutert, problematisiert die feministische Theorie den Gebrauch von Narration als gegenkulturelle Praxis (Haug) von Frauen. Teresa de Lauretis zieht bspw. Studien über Märchen, Mythen und Bräuche von Greimas, Propp und Levi-Strauss heran, um aufzuzeigen, dass alle etablierten Erzählstrukturen von der ödipalen „Logik“, die selbst Produkt patriarchaler Kultur ist, geprägt sind. Auch Luce Irigaray untersucht psychoanalytische Texte unter dem Gesichtspunkt der weiblichen Sexualität und verfolgt u.a. die Widersprüche, in die sich Freud verstrickt, wenn er in seinen Vorlesungen „Über die weibliche Sexualität“ (1931)399 und „Die Weiblichkeit“ (1932)400 die Sexualität der Frau, ausgehend vom Mangel, 397 398 Laura Mulvey: In conversation with Griselda Pollock, Studies in the Maternal, 02/01/2010. Hans H. Hiebel: Strukturale Psychoanalyse und Literatur (Jacques Lacan). In: Klaus-Michael Bodal (Hg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 5681; 2. Aufl. 1997, S. 57-83 399 Sigmund Freud: Über die weibliche Sexualität [1931], in: Studienausgabe Band V, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 273-292, S. 278. 400 Sigmund Freud: Die Weiblichkeit [1932], in: Neue Folge der Vorlesungen, Studienausgabe Bd. I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 544- 565, S. 545. 125 theoretisiert. Irigaray verwendet den Begriff des „Phallozentrismus“, um diese allgemeine patriarchalische Dominanz in Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse sichtbar zu machen. „When others after her - writers, critics, filmmakers - turn back the question on itself and remake the story of Dora, Bohéme, Rebecca or Oedipus, opening up a space of contradiction in which to demonstrate the noncoincidence of woman and women, they also destabilize and finally alter the meaning of those representations.“401 Mit dem Bezug auf das Fragment aus „Riddles of the Sphinx“, in dem Laura Mulvey Mary Kelly zitiert, wurde die Bedeutung, die Referenzen in SelbstRepräsentationen haben, hervorgehoben. Mulvey präsentiert sich in dem Film als Theoretikerin und rezitiert Kelly, die sich bereits kritisch mit dem psychoanalytischen Mythos über die Subjektwerdung auseinandergesetzt hat: so wird die Gegen-Geschichte fortgeschrieben und erhält als politische Praxis Anerkennung. „Strategies of writing and of reading are forms of cultural resistance. [...] paradoxically, the only way to position oneself outside that discourse is to position oneself within itto refuse the question as formulated, or to answer deviously (though in its own words), even to quote (but against the grain).“402 401 Teresa De Lauretis: Alice Doesn't: Feminism, Semiotics, Cinema, Indiana: University Press Indiana 1984, S. 7. 402 Ebd. S. 7. 126 ZWEITER TEIL: DAS LEBEN WIRD ZUM ARBEITEN GEBRACHT 3. Veränderungen in der Produktion: Vom industriellen zum elektronischen Zeitalter Um die Filme, die ich in diesem Abschnitt vorstellen werde, in ihrem historischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext besser verstehen zu können, gebe ich zunächst ein kurzen Überblick auf die drei großen Phasen der Ökonomie seit dem Mittelalter. Antonio Negri und Michael Hardt sprechen von drei großen Abschnitten, die allgemein in wissenschaftlichen Betrachtungen über die Entwicklung des Kapitalismus herausgestellt werden.403 In dem Film „ ‚Arbeit und Freizeit‘ der Lagerarbeiterin Christa S.“404 (1974) begleitet die Filmemacherin Rosemarie Blank die Lagerarbeiterin und alleinstehende Mutter von drei Kindern, Christa S., über mehrere Wochen hinweg in ihrem Alltag zwischen Wohnung und Keksfabrik. Blank interveniert in den Film mit Fragen, die sie an Christa S. stellt, bspw. fragt sie: „Wie könnte man die Arbeitsbedingungen der frierenden Arbeiter_innen in der Fabrik verändern?“405 . Christa S. antwortet darauf: „Der Keks darf nicht zu warm werden, sonst schmilzt er.“ Christa S., die aus keinem Klassenkampfmilieu oder politischen Kontext kommt, ergreift auf die Frage der Filmemacherin sofort Partei für den Keks, jenes Produkt, an dessen Herstellungsprozess sie beteiligt ist, und sie spricht nicht über ihre eigene miserable Arbeitsituation des Frierens und des Absaugeföhns, der die Arbeiter_innen gesundheitlich beeinträchtigt. Erst nach dem beharrlichen Nachfragen der Filmemacherin im gemeinsamen Gespräch gesteht sie sich selbst und den anderen ein, dass man eigentlich die Situation verbessern müsste, ihr fallen sogar konkrete Vorschläge zur Veränderung der Raumaufteilung ein. Das Verhalten der Lagerarbeiterin in Rosemarie Blanks Videofilm steht in Relation zu Foucaults Definition der Disziplinargesellschaft406, in der die Disziplinartechnologien der Arbeit „innerhalb des fordistischen Einschließungs-milieus der 403 Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M., Campus, 2002. S. 291 404 Rosemarie Blank: ‚Arbeit und Freizeit‘ der Lagerarbeiterin Christa S., [VHS], Deutschland: Produktion PH Berlin 1974. Mit freundlicher Genehmigung zur Sichtung des Filmes bei Bildwechsel Hamburg. 405 Rosemarie Blank: ‚Arbeit und Freizeit‘ der Lagerarbeiterin Christa S., TC: 00:29:00. 406 Foucault verortet die Epoche der Disziplinargesellschaft im ausgehenden 17., 18. Jahrhundert, beginnend mit dem Übergang vom Ancien Régime zum modernen Staat. Die Disziplinarmacht operiert komplexer als die Ausübung von Macht des Souveräns, die auf direktem Befehl basierte und der Anwendung purer Gewalt („sterben zu machen und Leben zu lassen“). Ersetzt wurde hier Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd.1, S. 165. Antoni Negri und Michael Hardt beziehen sich u.a. auf Deleuzes Foucault Rezeption des Kapitels Postscriptum (Gilles Deleuze: Postscriptum. Aus dem Französischen von Gustav Roßler, in: Unterhandlungen 1972–1990, Berlin: Suhrkamp 1993, S. 254-260) indem sie diese in Zusammenhang mit der zweiten Modernisierungswelle der biopolitischen Produktion des Übergangs von Moderne (Disziplinargesellschaft) zur Postmoderne (Kontrollgesellschaft) setzen. Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M.: Campus 2002. 127 Fabrik das disziplinierte Verhalten der Arbeiter_innen regulieren: konzentrieren; im Raum verteilen; in der Zeit anordnen; im Zeit-Raum eine Produktivkraft zusammensetzen, deren Wirkung größer sein muß als die Summe der Einzelkräfte.“407 „Dieser Machttypus operiert mit Techniken der Rationalisierung, Übung, Überwachung und Dressur und produziert jene ‚gelehrigen Körper‘, die sich in die Strukturen ökonomischer Verwertbarkeit einspannen und an die Maschinen schalten lassen.“408 Die Disziplinargesellschaft409 ist bereits die zweite Phase in der Entwicklung der kapitalistischen Produktion, der die Modernisierung der Landwirtschaft vorrausging in der die landwirtschaftlichen Betriebe industrialisiert wurden und sich in Fabriken verwandelten. Die erste Phase im 19. Jahrhundert war durch die Ökonomie der Landwirtschaft und der Rohstoffgewinnung bestimmt. Kennzeichnend war die Abhängigkeit der lokalen Gemeinschaften (Familienstrukturen) von Grund und Boden. Der Familienbetrieb mit traditionellen Strukturen und das neue bürgerliche Unternehmertum bestimmten zu dieser Zeit die Organisationsform von Eigentum, Produktion und der Produktionsmittel.410 In der Weiterentwicklung zur Industrialisierung verändert sich der bäuerliche Hof und nimmt die Charakteristika der industriellen Produktion einer Fabrik an, so skizziert es zumindest Michael Hardt: mit Fabrikdisziplin, Lohnverhältnis und technologischem Apparat.411 Die Organisation von Besitzverhältnissen und Produktion wird nun durch den Fabrikeigentümer bestimmt mit der Aufteilung von Besitz der Produktionsmittel gegenüber Lohnarbeit und Nichtarbeit. In dieser Zeit verortet Foucault das Aufkommen der disziplinären Machttechnologien die durch räumliche Verteilung, Ausrichtung, Serialisierung und Überwachung die individuellen Körper organisieren. Die dritte Phase in der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsgeschichte, oft auch als Postfordismus bezeichnet, ist die Transformation der Fabrik in ein Unternehmen. Die Organisation und hierarchische Strukturierung durch den Fabrikdirektor weicht einem bürokratisch aufwendigen Verwaltungsapparat. Durch die Auslagerung der Fertigungsfabriken von haltbaren Gütern in Billiglohnländer fand in den marktführenden Industrieländern der Übergang von haltbaren Gütern hin zu Service- und Dienstleistungen, Information und 407 408 Gilles Deleuze: Postscriptum, S. 254. Marianne Pieper: Biopolitik – die Umwendung eines Machtparadigmas: Immaterielle Arbeit und Prekarisierung, in: Marianne Pieper/Thomas Atzert/Serhat Karakayli/Vassilis Tsianos (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt a. M./New York: Campus 2007, S. 215-245, S. 216. 409 Die beiden Autoren von Empire definieren die Gesellschaft, die durch Disziplinarmacht regiert wird wie folgt:„Damit diese Gesellschaft funktioniert und ihre Regeln und Mechanismen des Ein- und Ausschlusses befolgt werden, bedarf es Institutionen der Disziplinierung, wie etwa Gefängnis, Fabrik, Heim, Klinik, Universität, Schule und so weiter. “,Michael Hardt/Antonio Negri: Empire – die neue Weltordnung. Aus dem Englischen von Thomas Atzert/Andres Wirthensohn. Frankfurt a. M./New York: Campus 2003, S.38. 410 Luc Boltanski/Éve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2006, S. 55. 411 Michael Hardt: Affektive Arbeit. Immaterielle Produktion, Biomacht und Potenziale der Befreiung, in: Subtropen, Nr. 9, 1–4. 2001. 128 Kommunikation statt. „Die Bedeutung industrieller fordistischer Fabrikarbeit schwindet, Dienstleistung wird zur Chiffre der postfordistischen Formation. Statt tayloristischer Disziplin fügsamer Körper werden nun Austausch von Wissen, die Produktion von Symbolen sowie kommunikative, kooperative und affektive Arbeiten zum Charakteristikum vorherrschender Produktionsregime.“412 Diese Unternehmensstruktur der dritten Phase bezeichnet Negri Hardt als „imperiale Maschine“,413 „deren paradoxe Gestalt durch den Exzess schrankenloser kapitalistischer Akkumulation und die gleichzeitige Dauerpräsenz von Krisen, Kämpfen und konstitutiven Instabilitäten gekennzeichnet ist.“414 Die postoperaistische Vorstellung 415 dass jedes gesellschaftliche Handeln als Arbeit zu bezeichnen sei und auch jede widerständige Form (Klassenkampf) und Repräsentation von Misere Antriebsfedern der kapitalistischen Ökonomie sind, steht im Gegensatz zum orthodoxen Marxismus, der die Gesetzlichkeiten des Kapitals als Motor für die kapitalistische Entwicklung sieht.416 Die italienischen Postoperaisten und ihre populären Vertreter Antonio Negri, Michael Hardt und Paolo Virno vertreten die Position, dass auch die Gesellschaft der vorherrschenden Industrieländer stufenweise industrialisiert wurde und zwischenmenschliche Beziehungen Teile der wirtschaftlichen Produktion geworden sind: aus der Gesellschaft wurde eine Fabrik (biopolitische Produktion). Dadurch, dass die gesamte Gesellschaft im Postfordismus vom Fabrikregime durchdrungen ist, ist, nach Meinung der Postoperaisten, die klassische Unterscheidung von Produktion und Reproduktion beziehungsweise von produktiver und unproduktiver Arbeit nicht mehr zeitgemäß. Aus postoperaistischer Sicht ist das, was heute unter dem Begriff immaterielle Arbeit verstanden wird, das Resultat aus praktizierten Widerstandsformen (FabrikAgitation, Kommunikations-Guerrilla, freie Radios etc.) und aus den emanzipatorischen Bewegungen der siebziger Jahre. Kurz zusammengefaßt: in den 3 Phasen der Entwicklung des Kapitalismus haben sich aus familiären Strukturen Unternehmen gebildet, es folgte die Aufteilung in Besitzende und Lohnarbeiter_innen und schlussendlich haben sich Großunternehmen und dezentrale Organisationsapparate entfaltet. Als nun folgendes Beispiel wird der spanische Film „Numax presenta…“ (Numax 412 Marianne Pieper: Biopolitik – die Umwendung eines Machtparadigmas: Immaterielle Arbeit und Prekarisierung, S. 226. 413 Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, S. 48. 414 Marianne Pieper: Biopolitik – die Umwendung eines Machtparadigmas: Immaterielle Arbeit und Prekarisierung, S. 222. 415 Der Postoperaismus ist eine politische und theoretische (Arbeiter_innen)- Bewegung in Italien, die als Weiterentwicklung der operaistischen Ausrichtung in den siebziger Jahren verstanden werden kann. Wichtige postoperaistische Schlüsselwerke sind “Empire – die neue Weltordnung” von Michael Hardt, Antonio Negri, “Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen” von John Holloway und “Grammatik der Multitude” von Paolo Virno. Grundlegende Konzepte betreffen die Begriffe Empire, Bio-Macht und Bio-Politik, immaterielle Arbeit, Multitude und Souveränität. 416 Martin Birkner/Robert Foltin: (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude, Hamburg: Theorie.org 2010, S. 48. 129 präsentiert…) vorgestellt, der zwei Formen von Ausbeutung thematisiert: die fordistische Ausbeutung durch Fremdbestimmung (Fabrikdispositiv) und die Selbstausbeutung durch Selbstverwaltung der Fabrik (Postfordismus) seitens der Arbeiter_innen, die in Eigeninitiative um den Erhalt der Fabrik kämpfen müssen. Der Film zählt zum spanischen politisch-militanten Kino, das im Anhang dieser Arbeit unter dem Titel „Exkurs politisches Kino in Spanien“ vorgestellt wird.417 3.1 Der spanische Film „Numax presenta...“: Über das Unbehagen der Fremd- und Selbst-Ausbeutung Die erste Einstellung des Films „Numax presenta...“418 beginnt mit der Aufnahme einer Asamblea (Versammlung) der Arbeiter_innen von Numax. Eine im blauen Arbeitskittel gekleidete Arbeiterin verliest vor der zuhörenden Gruppe und der Kamera in der Montagehalle einen Zettel. Die Filmklappe fällt: „ASAMBLEA TRAB. NUMAX 1/2 (Arbeiter_innenversammlung Numax 1/2)“: „Wir sind die Arbeiterversammlung von Numax, die neunundsechzig Arbeiter und Arbeiterinnen, die von den 250 Mitarbeitern im Jahre 1977 übriggeblieben sind, die diese Plattform initiieren, nachdem das Management der Firma uns mit einem Brief der kollektiven Bestrafung und den dreizehn Entlassungen in die Arbeitslosigkeit geantwortet hatte. Von diesem Tag an haben wir viele Dinge erlebt, einen Streik von etwa 3 Monaten, gerade in einem Moment, in dem von überall jede Stimme den sozialen Frieden predigte, um den Übergang der spanischen Politik, nach dem Bruch der traumatischen Zeit des Francoregimes ohne Verluste hin zur bürgerlichen Demokratie, zu sichern, eine Besetzung von 3 Monaten in Verteidigung der Arbeitsplätze gegen die Bilanz der Krise und die Aussetzung von Zahlungen, mit der uns die Eigentümer des Unternehmens bedrohten. Und von diesem Moment an, in dem wir in einen langen Prozess die Kontrolle, die Leitung der Fabrik übernommen und wir gezeigt haben, das wenn wir mit uns selbst beginnend, die Arbeitnehmer_innen sehr viel mehr sind als nur ein an die Maschine angeketteter Roboter, sondern Wesen in der Lage zu denken, zu koordinieren, planen und zu leiten. Es war nicht leicht, wir sind alle gezwungen worden, die Denkweise, die wir von Geburt auf an hatten und die uns schon vor der Geburt an prägen sollte zu brechen. Der Gehorsam, der Respekt vor dem Privateigentum, die Unterwürfigkeit, die Ignoranz, der individualistische Egoismus, die Unkenntnis unserer Kräfte und tausend andere Dinge. Und nicht immer ist es uns gelungen, aber wir haben viele Schritte 417 418 Vgl. Anhang : Exkurs Spanien: Politisches Kino, S.275 Joaquim Jordá: Numax presenta..., [DVD], Spanien: Asamblea de Trabajadores de Numax 1979. 130 unternommen, wir haben viel erreicht und wir denken nicht daran aufzugeben. Heute, am 3. Mai 1979, nach zwei Jahren des Kampfes, in dem Moment, in dem sich die Hauptstadt darauf vorbereitet, uns aus unserer Fabrik zu vertreiben, und wir uns verteidigen müssen, beginnen wir mit diesem Film, der versuchen wird, allen Arbeitern unsere Geschichte zu erzählen: unsere Erfolge und auch unsere Fehler, sodass uns das eine oder andere auf dem langen Weg hin zur Abschaffung der Lohnarbeit, zur Einrichtung einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete, ohne Bürokratie und ohne Führer, in dem jeder nach seinen Bedürfnissen erhält, behilflich ist. Es handelt sich um einen Film von uns selbst gemacht, mit unseren eigenen Mitteln, mit den 600.000 Peseten aus der Widerstandskasse und von dem wir den Anfang kennen, aber das Ende nicht wissen. Noch wissen wir nicht, ob sie es schaffen werden uns rauszuwerfen, oder ob sie uns ins Meer der Arbeitslosigkeit werfen, das es braucht, um den Kapitalismus neu zu strukturieren. Aber auch wenn es so wäre, die Lektion und die Erfahrung sterben nicht, wie sagten die Arbeiter und Studenten im französischen Mai: ‚Das ist erst der Anfang – wir kämpfen weiter‘.“419 Der Film „Numax presenta…“ handelt von der 1977 in Barcelona von den Arbeiter_innen besetzten Fabrik für Haushaltgeräte Numax und dem Versuch der Selbstverwaltung in Form einer Kooperative. In der Kollektivierung der eigenen prekären Lebenslage, in dem Fall, die der abhängigen Lohnarbeit in der Fabrik und die Unterdrückungsmaßnahmen der Fabrikbesitzer, wurden während der Selbstverwaltung der Fabrik in den Asambleas und Comites Alternativen erarbeitet, die sich einer allgemeinen Kritik am Kapitalismus annähern. Der Filmmacher Joaquín Jordá (1935 Santa Coloma de Farners) gesellt sich 1973 zu der sich formierenden (u.a. mit dem Philosophen Santiago López Petit) Bewegung der Autonomia Obrera420 in Barcelona, die bereits seit Jahren auch schon in Italien funktionierte. In diesem Umfeld traf Jordá auf die Arbeiter_innen von Numax und schlug ihnen vor, einen Film über ihre Situation zu machen. Der Film wurde, mit den 600.000 Peseten (umgerechnet ca. 3.606 Euros) aus der Widerstandskasse der Arbeiter_innen gezahlt. Geplant war ein Film von 30 Minuten. Man sah jedoch bald ein, dass dies zu kurz war, und es wurden 4 Stunden mehr gedreht und der Film schlussendlich auf 2 Stunden geschnitten. Was bedeutet die Aussage der Arbeiterin: „Es handelt sich um einen Film von uns selbst gemacht, mit unseren eigenen Mitteln, mit den 600.000 Peseten aus der Widerstandskasse“? Handelt es sich bei dem Vorhaben um Selbst-Repräsentation 419 420 Zitat aus dem Film Joaquim Jordá: Numax presenta... TC:00:00:01, [Übersetzung A.S]. Die Autonomia Obrera (freie Arbeiter_innenbewegung) versteht sich als eine gewerkschaftlich und staatlich unabhängige sozio-politische Bewegung der Arbeiter_innen, die selbstorganisiert Streiks initiiert und sich auf dem Prinzip der Asambleas (Versammlungen) und den dort beschlossenen Entscheidungen gründet und nicht auf der Funktion politischer Vertretung, der Repräsentation. 131 der eigenen prekären Lage? Im Fall von „Numax presenta…“ bedeutet die Aussage ein „Film von uns selbst gemacht“, dass die Arbeiter_innenversammlung das Geld für die Produktionskosten übernimmt, den Auftrag erteilt und selbst vor der Kamera auftritt. Es heißt aber nicht, Kamera oder Teil der Post-Produktion zu sein. Das Drehbuch, so ist im Abspann zu lesen, wurde von Joaquim Jordá angefertigt. Die Namen der sprechenden Protagonist_innen von Numax, der Arbeiter_innen, tauchen unter dem Begriff „actores“ (Schauspieler_innen) auf. Vergleichen wir „Numax presenta…“ mit Maria Muhles Untersuchung des französischen Films „Classe de Lutte“421, der zehn Jahre zuvor in der Uhrenfabrik Yema von dem Filmkollektiv Medvedkin produziert wurde: „Die Arbeiter werden hier selbst zu Produzenten, die sich die technischen Medien, Kamera, Schneidetisch, Licht- und Tontechnik aneignen, um ihre Geschichte zu erzählen. In dieser Bewegung entsteht genau das, was man mit Rancière als eine Geste der Desidenditifizierung, d.h. der politischen Subjektivierung beschreiben kann, insofern eine Verteilung von Orten und Zeiten, eine bestimmte und bestimmende Ordnung, unterlaufen wird. Dies geschieht auf zwei Ebenen, in der besagten Aneignung der Produktionsmittel, und im Narrativ des Films selbst, in dem die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion verschwimmen.“⁠422 Bei „Numax presenta…“ findet die politische Subjektivierung, von der Rancière spricht, ebenfalls auf zwei Ebenen statt, allerdings anders als in dem Film „Classe de Lutte“: zum einen auf der Darstellungsebene, in der die Arbeiter_innen als Schauspieler_innen ihre eigene Geschichte nachspielen bzw. als Kommentator_innen auftreten und zum anderen in der Rolle der Selbst-Verwaltung der Fabrik. Allerdings nehmen sie nicht so wie in dem Film „Classe de Lutte“ aktiv an der Aneignung der kinomatografischen Produktionsmittel teil, da der Filmemacher Jordá die Verteilung von Regie, Kamera und Ton nicht aus den Händen gibt. Es gibt einige wenige Stellen in dem Film „Numax presenta…“, die Aufschluss geben über die Rolle der Arbeiter_innen als Schauspieler_innen. Die Anfangsszene mit der Filmklappe ist eine von diesen Situationen: durch die Filmklappe wird deutlich, dass die Asamblea (Versammlung) extra für den Film einberufen wird um ein Film-Intro herzustellen. Die Ent-Identifizierung innerhalb der Montagehalle findet in dem Moment statt, in dem die Arbeiter_innen den ihnen ursprünglich fremd angeordneten FließbandArbeitsplatz verlassen und zusätzlich andere Aufgaben und Verantwortung in der Fabrik (Verwaltung, Arbeiterversammlungen, Arbeitskontrolle, Aufgaben der 421 Chris Marker/Groupe Medvedkine de Besançon: Classe de Lutte [DVD] Frankreich: Societe pour le Lancement des Oeuvres Nouvelles (SLON) 1969. 422 Maria Muhle: Ästhetischer Realismus. Strategien post-repräsentativer Darstellung anhand von A bientôt j'espère und Classe de lutte, in: Das Streit-Bild : Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, Wien: Turia + Kant 2010, S. 177-195, S. 188. 132 Chefs, die abgesetzt wurden) übernehmen. „Numax presenta…“ wird allgemein dem Dokumentarfilm zugeordnet. Jedoch lässt er sich nach Maria Muhles Definition ebenfalls dem post-repräsentativen bzw. ästhetischen Dokumentarismus zuordnen, da er zwischen fiktivem und dokumentarischem Setting hin- und herspringt, ohne Notwendigkeit, sich festzulegen. „ [...] im post-repräsentativen oder ästhetischen Dokumentarismus wird die binäre Aufteilung zwischen Bild und Wirklichkeit, Fiktion und Dokument zur Diskussion gestellt und in eine tendenzielle Unbestimmtheit geführt.“423 Sich auf den Film „Classe de Lutte“ beziehend schreibt Muhle: „Die Identitätsproduktion, die der Film zunächst aufzeigt, wird [...] dahingehend unterlaufen, dass hier nicht die Darstellung einer bestimmten Situation und deren Erklärung im Vordergrund steht, sondern sowohl die Markierung der Darstellung als Darstellung als auch die Umverteilbarkeit von Räumen und Zeiten, die auf eine Potentialität für andere Situationen verweisen, die in dieser Situation präsent ist.“424 Muhle definiert „Classe de Lutte“ als neue „Politik der Selbstbeschreibung“425, die durch die Infragestellung der herrschenden Verteilung von Wahrnehmbarkeiten und die Markierung einer bestimmten normativen Ordnung, die Tätigkeiten, Rollen und Darstellung betreffend, Film und Geschichte gleichermaßen inszeniert und auf diese Weise als ästhetischer Realismus die tradierte Repräsentation und die der traditionellen Figur des Intellektuellen, Wissenden (der für die anderen spricht) bricht. Rancière, der eine Entwicklungsgeschichte der Einteilung des Wahrnehmbaren skizziert, geht davon aus, dass dem repräsentativen Regime das ästhetische Regime folgt, in dem Kunst und Nicht-Kunst verschmelzen und nicht mehr zu unterscheiden sind. Hier findet der zuvor erwähnte Demokratisierungsprozess statt, der die Ablösung der hierachischen Einteilung des Sinnlichen vom repräsentativen Regime darstellt, in dem das Hohe vom Niedriegen unterschieden wurde. Ästhetische Erfahrung bzw. ästhetisches Experimentieren ist im Fall von „Numax presenta…“ nicht mehr Privileg von Schauspieler_innen sondern bildet einen neuen Erfahrungsraum der Arbeiter_innen. „Kunst und Politik hängen miteinander als Formen des Dissenses zusammen, als Operationen der Neugestaltung der gemeinsamen 423 424 Ebd., S. 182. Ebd., S. 191. 425 Maria Muhle: Aesthetic realism and subjectivation. From Chris Marker to the Medvedkin Groups, 4/2009. 133 Erfahrung des Sinnlichen.“426 Die Verlesung des Zettelinhalts, der das Intro des Filmes bei „Numax presenta…“ bildet, richtet sich direkt an die Filmzuschauer_innen und stellt das Vorhaben der filmischen Selbst-Repräsentation einleitend vor. Zugleich wird in dem kämpferischen Text manifestiert, dass man das Ende des Filmes zum Zeitpunkt des Verlesens noch nicht kennen würde. Der Film verspricht also als offener Film zu beginnen, der erst im Ablauf seiner (Produktions-) Geschichte sein Ende findet. Diese Aussage und die späteren Einstellungen von Versammlungen, Diskussionsrunden und Gesprächen lassen vermuten, dass die Filmproduktion und die dadurch angeregten Auseinandersetzungen mit der eigenen Situation Teil von einem Entscheidungsprozess werden, die das Ende des Films und der Geschichte von Numax (mit) bestimmen: das Filmdispositiv (obwohl in Händen des professionellen Filmteams) wirkt wie ein Verstärker, um die Ereignisse in der Fabrik zu reflektieren und zu verdeutlichen. Auf die Asambleaszene am Anfang des Filmes folgen überwiegend in schwarzweiß gedrehte Szenen, die mit vielen Stimmen retrospektiv die Geschichte der zwei Jahre Streik, die Selbstverwaltung und den Kampf gegen das Kapital und die äußeren Rahmenbedingungen erzählen. Vor der Kamera sprechen Arbeiter_innen, die untereinander die Ereignisse diskutieren, oder sie sprechen direkt in die Kamera, um den Zuschauer_innen die Zusammenhänge der Konflikte zu erklären. Der Film, so scheint es zumindest, entsteht zeitlich jeweils nach den wirklichen Ereignissen in der Nacherzählung. Auch die fragende Haltung eines Interviews wird eingesetzt um die Zuschauer_innen über den Stand der Dinge in der Fabrik zu informieren: eine Arbeiterin befragt den Fahrer der Fabrik: „Wie waren die Arbeitsbedingungen bei Numax vor dem Streik? Wann und wo wurde der Streik angefangen und beschlossen? Wie viele Arbeiter wurden vor und nach dem Streik entlassen? Wie habt ihr euch vor und nach dem Streik organisiert? Wir wissen, dass es Streikbrecher gab, wie viele? Was für eine Haltung habt Ihr zu den Entlassungen eingenommen? Gab es Solidarität, ökonomische Hilfe…? Währenddessen, was machte das Geschäft? Welche Haltung haben die offiziellen Gewerkschaften und Parteien eingenommen?“427 Ein wiederkehrendes Element des Films ist die bunte Gartenszenerie auf einer Theaterbühne, die mit statischer Kamera aufgenommen wurde und vor der mehrere Theaterschauspieler agieren: es werden die beiden Fabrikbesitzer von Numax und eine Vermittlungsperson dargestellt. Die Vermittlungsperson versucht die beiden Fabrikbesitzer zu Entscheidungen hinsichtlich der besetzen Fabrik zu bewegen. Es gibt Pläne, das Grundstück der Fabrik in Mietwohnungen umzumodeln und eine Immobilienfirma zu gründen. Das sogenannte bürgerliche Machtdispositiv (Inszenierung der Fabrikbesitzer) wurde auf der Theaterbühne aus der Ferne frontal und statisch gefilmt und erinnert an den Mechanismus der brechtschen Distanzierung durch Karikierung, 426 427 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 78. Zitat aus dem Film Joaquim Jordá: Numax presenta... [Übersetzung A.S], TC: 00:17:29. 134 Distanzierung und Theatralisieren, um den Feind vorzuführen und ihn durch Überzeichnung zu erkennen. Im Gegensatz zu dem oftmals in filmischen Arbeiten aufgegriffenen Motiv vor den Fabriktoren von „Die Arbeiter verlassen die Fabrik“ der Lumière Brüder (Harun Farocki, Chris Marker, Rogelio López Cuenca u.a.) spielt sich das Leben in „Numax presenta…“ innerhalb der Fabrik ab. Während die klassische Einstellung der Lumière Brüder die Arbeiter_innen in verschiedene Richtungen streben lässt, um sich in ihr Privatleben zu zerstreuen, treffen wir in „Numax presenta...“ auf den Versuch der Arbeiter_innen, ihre Arbeitsaufgaben den unterschiedlichen Lebensumständen entsprechend anzupassen: also anstatt individueller Zerstreuung außerhalb der Fabrik, Praktiken der sozialen Kollektivierung innerhalb der Fabrik zu entwickeln (gleicher Lohn, bzw. entsprechend an die soziale Situation angepasst). Der Film spielt sich explizit im Inneren der Fabrik ab, er setzt auf die kollektiven Veränderungen der Produktionsorganisation und -strukturen. Er spielt nicht vor den Fabriktoren, die eine Wand zwischen Arbeits- und Privatleben bilden. Beispielsweise folgen wir einer Arbeiterin in die Toreinfahrt von Numax eintretend während sie direkt in die Kamera spricht, von den Ereignissen der letzten Tage berichtend. Wir begleiten die Arbeiter_innen in konfliktreiche Versammlungen: die Arbeiter_innen kommen aus sehr unterschiedlichen sozialen Milieus und Generationen, die einen wünschen sich eine selbstorganisierte kapitalistische Ausrichtung der Fabrik, die anderen plädieren für eine sozialistische Orientierung, einige der Arbeiter_innen haben eine militante und politische Vergangenheit und für andere ist es das erste Mal, dass sie an einer politischen Versammlung teilnehmen; es gibt Ablehnung und Zustimmung hinsichtlich des Paktierens mit den großen Gewerkschaften und Parteien. 3.1.2 Die Arbeit der Fiktion von Rancière Rancière bezeichnet die Motivation von Künstler_innen (in unserem Fall Joaquim Jordá), die in die Wirklichkeit intervenieren, um „das sehen zu lassen, was nicht gesehen wurde, das anders sehen zu lassen, was zu einfach gesehen wurde, das in Beziehung zu setzen, was beziehungslos war, mit dem Zweck, Risse im sinnlichen Gewebe der Wahrnehmungen und in der Dynamik der Affekte zu erzeugen.“428 Dieses Vorgehen nennt Rancière die „Arbeit der Fiktion“429 und wie zuvor erwähnt, besetzt er das Konzept der Fiktion als ein Positives. Es ist ein Vorgehen, das Dissens erzeugt, Fiktion, die keine imaginäre Welt der wirklichen Welt entgegenstellt sondern „die die Modi der sinnlichen Präsentation und die Formen der Aussage verändert, indem sie Rahmen, die Maßstäbe oder die Rhythmen ändert, indem sie neue Verhältnisse zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit, dem Einzelnen und dem Allgemeinen, dem Sichtbaren und seiner Bedeutung herstellt. Diese Arbeit verändert die Koordinaten des Darstellbaren. Sie verändert unsere Wahrnehmung der sinnlichen Ereignisse, unsere Weise, sie auf 428 429 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S.79. Ebd. 135 Subjekte zu beziehen, die Art, wie unsere Welt von Ereignissen und Gestalten bevölkert ist.“430 „Es gibt keine wirkliche Welt, die außerhalb der Kunst wäre. [...] Es gibt keine Wirklichkeit an sich, sondern Gestaltungen dessen, was als unser Wirkliches gegeben ist, als Gegenstand unserer Wahrnehmungen, unserer Gedanken und unserer Interventionen. Das Reale ist immer Gegenstand der Fiktion, das heißt eine Konstruktion des Raumes, wo sich das Sichtbare, das Sagbare und das Machbare miteinander verknüpfen.“431 Die Arbeiter_innen von Numax bilden für den Zeitraum der Besetzung eine außerordentliche Situation, in der sie die Räume, die Montagehalle neu bespielen und an einer Utopie basteln. Das, was Rancière als herrschende Fiktion432 bezeichnet, ist das, was sich vor den Fabriktoren von Numax abspielt. Es ist der offizielle Diskurs der Übergangszeit zur kapitalistischen Modernisierung Spaniens, es ist die einzige Wahrheit, die der dominante Diskurs erlaubt. „Numax presenta…“ beginnt mit einer Utopie, die gegen die herrschende Fiktion, die sich als einzig wahre und neue Demokratie in Spanien ausgibt, schlussendlich nicht gegen ankommt. „Es geht nicht um die Behauptung, alles sei Fiktion. Vielmehr gilt es festzustellen, dass die Fiktion des ästhetischen Zeitalters Modelle geschaffen hat, die es erlauben, die Darlegung von Fakten mit Formen des Verstehens zu verbinden, die die Trennung zwischen der Ratio der Fakten und der Ratio der Fiktion gerade aufgehoben haben. [...] Geschichte schreiben und Geschichten schreiben gehören zu demselben Wahrheitsregime.“433 Der von Muhle aufgegriffene ästhetische Realismus nimmt die Uneindeutigkeit von Fiktion und dokumentarischer Wirklichkeit ernst. Die Formen des ästhetischen Realismus als post-repräsentative Formen zeigen nicht eine Realität wie sie wirklich ist, sondern verweisen vielmehr auf die Unmöglichkeit eines solchen Ansinnens. Diese Unmöglichkeit zeitigt zugleich kein Ende der Darstellung sondern eine neuer ästhetische Politik der Darstellung. 3.1.3 Zwei unterschiedliche Verfahren in der filmischen Selbst-Repräsentation Die kleinen Film-Szenen, in denen die Ereignisse und Situationen, die sich in den vergangenen Monaten in der Fabrik zugetragen haben, nachgespielt werden, lassen sich als Verfahren des Re-Enactment (Wiederaufführung, Nachstellung) bezeichnen, da sie auf konkret stattgefundene Ereignisse Bezug nehmen und in möglichst authentischer Weise nachgespielt werden. Über den Weg der historischen Wiedererlebbarkeit wird der Teil der Geschichte den Zuschauer_innen 430 431 Ebd. Ebd., S. 91. 432 Vgl. S. 79. 433 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006, S. 61. 136 verständlich und erlebbar gemacht. Zum Beispiel wird den Zuschauer_innen gezeigt, wie die Arbeiter_innen untereinander kommunizieren, um sich über den Termin und Ort der bevorstehenden Versammlung zu informieren: in der Montagehalle geht ein Zettel mit der Information von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz und nachdem er gelesen wurde, wird er weitergereicht. Diese persönliche Form des Weitergebens von Information wird im Spanischen „¡Pasalo! “genannt und wird im letzten Kapitel noch einmal in Form des digitalen „¡Pasalo!“ via Handytelefon und E-Mail aufgegriffen. Das andere filmische Verfahren ist die bereits erwähnte theatralische Inszenierung der Fabrikbesitzer auf der Theaterbühne, die in fiktiven Gesprächen über die Zukunft der Fabrik spekulieren. Der Film endet mit dem Beschluss, die selbstverwaltete Fabrik aufzugeben, zu groß ist der Druck durch ausbleibende Auftragsgeber und die Unmöglichkeit innerhalb eines kapitalistischen Umfeldes ein sozialverträgliches Projekt am Leben zu halten. Die Arbeiter_innen beobachten, dass sie beginnen, sich selbst auszubeuten, nur um das Projekt am Laufen zu halten, am Ende geht ihnen die Kraft aus. Die Schlusssequenz des Films ist ein Abschiedsfest mit allen Arbeiter_innen in der Montagehalle, gemeinsam feiern sie den Abschied von Numax. Zu diesem Anlass tritt der Filmemacher Jordá mit Mikrofon in das Film-Bild und befragt einige der tanzenden Arbeiter_innen, wie sie sich fühlen und was sie nun vorhaben. Auf unterschiedliche Art und Weise bringen alle zum Ausdruck, dass sie durch die gemeinsame Geschichte von Numax viel gelernt haben und bei einem nächsten Arbeitsplatz nicht mehr bereit wären, sich wortlos einem Chef unterzuordnen. Dieses Abschiedsfest stellt nicht nur das Ende des Films dar, sondern auch das Ende der besetzten und selbstverwalteten Fabrik Numax. Wenn Marina Garcés schreibt, dass Numax eine Universität für die Arbeiter_innen war,434 und wir heute entdecken können, dass Numax auch eine Universität für uns bedeuten kann, weist sie auf einen Lernprozess hin, der eine Kritik gegen die Autorität der Herrschenden entwickelt. Im Rancièrschen Sinne wurde das konsensuelle Gewebe durchdrungen und hat das konsensuelle Feld des Gegebenen durcheinander gebracht „zum Beispiel die Trennlinie zwischen Dokumentation und Fiktion, einer Genreunterscheidung, die gerne zwei Typen von Menschen trennt: jene, die leiden, von denen, die handeln; jene, die Objekt sind von denen, die Subjekt sind.“435 In Numax sind die vor der Kamera agierenden Arbeiter_innen, die sich selbst spielen, keine leidenden sondern handelnde Subjekte, die dabei sind, ihre Arbeitssituation neu zu konstruieren. Jordá, der, wie er selber sagte, nie hinter der Kamera steht (er vertraue dem Kameramann) sieht seine Aufgabe darin, eben jene Situationen mit zu schaffen.436 434 Marina Gárces: Numax, nuestra universidad. Conversación con Joaquim Jordá, in: nodo50, 2006. URL: http://www.nodo50.org/tortuga/Numax-nuestra-universidad (29.01.2013). 435 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 92. 436 In einem Gespräch (2004) mit dem katalanischen Ausstellungsmacher Carles Guerra antwortet 137 In der Abschiedssequenz der Interviews verdeutlicht sich auch, dass jede/r die Fabrik mit einer eigenen persönlichen Geschichte verlässt. Zwar war bei Numax der Grundgedanke die Gruppe, und alle Beteiligten lernten durch die Versammlungen Zusammenhalt kennen, aber durch die Erfahrung der Gruppe wurde jede/r persönlich geprägt. Paradoxerweise erfuhren die Arbeiter_innen auf diese Weise, Individuum zu sein. Weit entfernt von den anonymisierten Menschenmassen im Arbeiter_innenkampf war es bei Numax eine andere Erfahrung. Jede/r erlebte einen persönlichen Prozess innerhalb des Kollektivs. Jede/r verlässt Numax mit ihrer/seiner eigenen Geschichte. Der Film, wurde zum ersten Mal am 1. Mai 1980 in der katalanischen Filmothek, die sich damals noch in der Straße La Cera befand, gezeigt. Zur Filmvorführung kamen alle Protagonisten, Arbeiter_innen von Numax und ein allgemeines Publikum. Die Filmvorführung dauerte ein paar Stunden mit der sich anschließenden Debatte. Die offiziellen Gewerkschaften kritisierten den Film, da er die Geschichte eines Scheiterns von Arbeiter_innen ist. 3.2 Die Fabrikwände sind verschwunden, zwanzig Jahre nach dem ersten Film über die Arbeiter_innen von Numax Im ersten Film über die Arbeiter_innen von Numax kündigen sich durch die Konflikte in der Selbstverwaltung der Fabrik bereits die Veränderungen in der kapitalistischen Produktionsorganisation an. Damals hatte die Fabrik vier Wände, in dessen Innenraum verschwanden die Arbeiter_innen während der Schicht. Nun haben sich diese Fabrikwände aufgelöst. „Fünfundzwanzig Jahre danach ist die Fabrik verschwunden und das Leben der Arbeiter_innen von Numax, irreversibel markiert durch ihre Erfahrungen, sie gleiten durch die Raumgitter des neuen Kapitalismus. Ihre biographische Zerstreuung ist eine Metapher der Isolation, in der jeder einzelne das Leben in der vernetzten Gesellschaft sucht.“437 Als Jordá, nach 10 Jahren Abstinenz als Filmemacher, durch Zufall in einer Bar in Madrid einen Zeitungsartikel über einen Banküberfall liest, beschließt er die Arbeiter_innen der Fabrik erneut aufzusuchen, um einen zweiten Film mit ihnen zu machen. In dem Artikel ging es um den gescheiterten Banküberfall von Juan Sanchez und Josefa in der Bankfiliale von Valls. Jordá kommentiert: „Pepi (Josefa), war für mich eine der Stars von ‚Numax presenta ...‘.“438 Jordá auf Guerras Frage nach einem eigenen kinematographischen Blick des Filmemachers: „Ich habe keinen Stil des Bildes und wollte auch nie einen haben, da ich nicht durch das Objektiv schaue. Ich vertraue dem Kameramann. Ich bin nicht hinter der Kamera, sondern nehme an der Konstruktion der Situation teil, ich provoziere die Situation.“ MACBA: Joaquim Jordà entrevistat per Carles Guerra, setembre de 2004, in: Fons de la Col·lecció, [Übersetzung A.S.], URL: http://www.macba.cat/ca/numax-presenta-2779 (29.01.2013) 437 Marina Gárces: Numax, nuestra universidad. Conversación con Joaquim Jordá, 2006. 438 Laia Manresa: Joaquim Jordá, La mirada lliure, Barcelona: Pòrtic y Filmoteca 2006, S. 136, [Übersetzung A.S]. 138 In dem Film „Veinte años no es nada“439 treffen wir erneut, fünfundzwanzig Jahre später, auf die Arbeiter_innen von Numax, alle sind weit davon entfernt, in einer Fabrik zu arbeiten, viele haben eine Ausbildung gemacht, studiert, sich selbstständig gemacht, sind aufs Land gezogen oder haben sich eine Zeitlang wie Juan und Pepa mit Banküberfällen über Wasser gehalten. Sie teilen die Erfahrung, dass sie ihr gegenwärtiges Überleben mit kreativem, engagiertem und selbstverantwortlichem Handeln einigermaßen sichern. Der Film „Veinte años no es nada“ begleitet über Tage hinweg die 4 Interviewten des ersten Films von der Abschiedsfeier. Ihre Antwort auf Jordas abschließende Frage „Was wirst Du nun machen?“ wurde als Ausgangspunkt für den zweiten Film gewählt. Sie erzählen ihre Geschichte nach Numax retrospektiv bis in die Gegenwart, bis zu einem 25. Jahrestreffen, das Jordá in einem Restaurant organisiert. Das Verschwinden der Fabriken ging in Spanien einher mit der Umstrukturierung des diktatorischen Regimes in eine demokratische Regierung. Wie bereits erwähnt, löste sich in Folge der Veränderungen der politischen Situation auch die militante Kinoproduktion auf. Im letzten Teil dieser Arbeit wird sich gegenwärtigen Formen der SelbstRepräsentation gewidmet, da sich nach Numax grundlegend die Frage aufdrängt: Wann, wo und mit welchen Ausdrucksformen finden heute diese Prozesse der Politisierung statt, jene, die soziale Ordnungen und unsere eigenen Leben verändern? Wann und wo können wir gemeinsam gegen das Unbehagen, dem wir in unserer Lebens- und Arbeitswelt begegnen, vorgehen? Die Fragen werden umso dringlicher, wenn die widerständigen Ausdrucks- und Organisationsformen der vorherigen Generationen die prekären Situationen der gegenwärtigen Lage mitgeprägt haben. 4. Biopolitische Arbeit: doppelte Wendungen - soziale Kämpfe und Produktion von Subjektivität „Werde Chef Deines Lebens“440 „ [...] mit mobilem Arbeiten von überall und von zu Hause.“441 Unter dem Motto „Werde Chef Deines Lebens“ startete die Deutsche Telekom 2011 eine „Employer-Branding“ Suchkampagne um neue Mitarbeiter_innen und Fachkräfte anzuwerben. In dem Werbespot präsentieren sich Telekom-Angestellte dem neuen Leitmotiv der Firma entsprechend. Das Unternehmen will mit dieser Kampagne sein Image als modernen Arbeitgeber erneuern: Flexible Arbeitszeitmodelle, Aufstiegschancen für Frauen, Weiterbildungsmöglichkeiten und ultramoderne Büros. „Es gibt keinen von kapitalistischen Verhältnissen freien Lebens439 440 Joaquín Jordá: Veinte años no es nada, [DVD], Spanien: Ovídeo TV S.A. 2004. Deutsche Telekom: Telekom weitet Kampagne ‚Werde Chef Deines Lebens‘ aus, in: Homepage des Unternehmens, 27/06/2011, URL: http://www.telekom.com/medien/konzern/29304 (29.01.2013). 441 Ebd. 139 bereich, keine privilegierte Sphäre nicht fetischisierten Lebens.“442 Die deutsche Werbekampagne „Werde Chef Deines Lebens“ konzentriert sich auf drei Punkte: 1. das Private und Arbeitsleben werden eins, 2. der Balanceakt zwischen Reproduktion und Produktion und 3. das permanente Werden mit vielen Möglichkeiten. Als positive Werbebotschaft klingt das wie folgt: 1. „Man kann leichter von zuhause aus ein guter Mitarbeiter sein als vom Büro aus ein guter Vater.“443 Das Bild zeigt einen Vater im Garten mit seinen Kindern. 2. „Alle sagen, Kind und Job sei eine Doppelbelastung. Ich habe mich für Doppelfreude entschieden.“444 Das Bild zeigt den Bauch einer schwangeren Frau, ein Mann betrachtet sie aus der Ferne. 3. „An alle, die sich zwischen zwei Traumberufen nicht entscheiden können: beide machen!“445 Das Bild zeigt einen Fußballspieler, der gerade ein Tor schießt (das Tor appelliert an: beides machen!). Drei Bezugspunkte, die mit klassischen Merkmalen der Autobiografie verbunden werden können und die sich als innovative moderne Entwicklung gegenwärtiger Arbeitsplätze präsentieren: 1. Das eigene Leben wird Bestandteil der Produktion 2. Die unterschiedlichen Rollen in einer Person 3. Die sich permanent weiterbildenden Produzent_innen und das immer wieder Neuschreiben der sich ständig verändernden Lebenslagen. Wie entstehen diese Schmelztiegel von privaten und öffentlichen Leben für die Produktion, welche Mächte bewirken diese Zusammenschlüsse? Mit Hilfe von Foucaults Begriff der Gouvernementalité läßt sich die Verknüpfung unterschiedlicher Machtrelationen zusammenfassen: die einzelnen Subjektivierungsprozesse werden von ihm als sogenannte Führung der Führungen verstanden, die durch das Zusammenspiel von Selbsttechnologien der Subjekte und der Machtausübung Anderer auf die einzelnen Subjekte operiert. Die Machtstrategien, die die Subjekte selbst anwenden, um sich Machtdispositiven zu unterwerfen, die sie allerdings auch gleichermaßen hervorbringen, nennt er „Technologien des Selbst“. Es geht dabei nicht mehr in erster Linie um die Funktionsweisen der Diskurse, die auf die Subjekte einwirken, sondern um Praktiken, die das Subjekt selbst entwickelt. Diese Selbstpraktiken sind zum Teil verinnerlichte Kontrollmechanismen der Disziplinardispositive. „Darunter sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem 442 John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster: Westfälisches Dampfboot 2010, S. 109. 443 Tobias Kärcher: Work-Life-Balance – Teil 2: Die “Werde Chef deines Lebens”-Kampagne der Telekom, in: Atenta, Wollmilchsau, URL: http://www.wollmilchsau.de/work-life-balance-werde-derchef-deines-lebens-kampagne-telekom/ (08.08.2013) 444 Ebd. 445 Ebd. 140 besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.“446 Sich selbst zu formen oder das eigene Leben in Form zu bringen empfindet, der Vater aus der heteronormativdeterminierten Werbekampagne „Werde Chef Deines Lebens“, im ersten Moment, unterstelle ich, als sehr komfortabel: er kann seine Geschäfte in der Nähe der Familie abwickeln, es fallen Fahrzeit zum Büro und mögliche andere Unbequemlichkeiten weg. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass die Familie keinen KiTa-Platz bekommen hat und die Situation zwangsläufig auf die multi-funktionale Rollenverteilung von Vater-Betreuer-Büroangestellter hinausläuft oder aber, dass die Firma die schrankenlose (keine Bürowände, fließende Arbeitszeiten) Verbindung zu ihren Angestellten als unendliches InAnspruch-Nehmen praktiziert, permanentes Abrufen, zwischen Im-Garten-Spielen, Kochen und Schreibtisch im Nebenzimmer.447 Eine Umfrage des Branchenverbandes der IT-Industrie bestätigt die Auflösung von Arbeits- und Lebenszeit: „88 Prozent aller Arbeitnehmer_innen in Deutschland haben keinen klassischen Feierabend mehr; sie sind auch in ihrer Freizeit via EMail und Smartphone für Belange rund um ihren Job erreichbar.“448 Bisher bezog sich die Lohnarbeit auf zwei unterschiedliche Orte, das Heim und die Fabrik, den Wohnraum und das Büro, des privaten Lebens der Familie, des Affektiven und den Arbeitsplatz. Der Wandel hin zu selbstständigen Arbeitnehmern, ein Begriff, den Sergio Bologna geprägt hat, geht einher mit der Domestikation von Arbeit, denn diese neue Form der Arbeit wurde nicht unbedingt als Weiterentwicklung der herkömmlichen Heimarbeit eingeführt, so Bologna, sondern ganz gezielt als Rationalisierungs- bzw. Sparmaßnahme. „Es genügt, dass der Arbeitsplatz als Ort begriffen wird, an dem von den selbstständig Arbeitenden autonom aufgestellte Regeln gelten, damit die Kultur und die Gewohnheiten des privaten Lebens sich auf den Arbeitsplatz übertragen. Die erste Konsequenz, die sich daraus ergibt, besteht darin, dass die Arbeitszeit sich den Gewohnheiten und Zyklen des privaten 446 Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2. Aus dem Französischen von Ulrich Rolff/Walter Seither, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 18. 447 Das Zuhause in einen kostenlosen Arbeitsplatz zu verwandeln, hat mittlerweile einen Namen: Home-Office. „Weltweit nutzen (laut einer Umfrage) 35 Prozent der Befragten eine Form der Telearbeit. Vor allem in Indien (82 Prozent) und Indonesien (71 Prozent) ist das Home-Office weit verbreitet.“ Die Umfrage-Ergebnisse stammen aus der Ipsos-Studie „Global@dvisor“, die zwischen dem 7. und 20. Oktober 2011 in 24 Ländern im Auftrag von Thompson Reuters News Service durchgeführt wurde. Vgl. O.A.: Nur wenige nutzen Home-Office. Die Hälfte der Deutschen möchte von zu Hause aus arbeiten, in: Serviceseiten50plus, 2012, URL: http://www.serviceseiten50plus.de/jobs50plus/arbeitsmarkt/langseite-arbeitsmarkt/article/haelfte-der-deutschen-moechte-von-zu-hause-ausarbeiten/ 448 Caspar Dohmen.: Die Zukunft der Arbeit Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen, in: Die Süddeutsche Zeitung, 26/11/2011, URL: http://www.sueddeutsche.de/karriere/die-zukunft-der-arbeit-gute-nacht-freizeit-1.1146228-2 (08.08.2013) 141 Lebens anpasst. Darüber hinaus verändern sich die Denkgewohnheiten in Bezug auf verschiedenste Koordinaten des öffentlichen Lebens.“449 Waren die Lohnarbeitenden noch gewohnt, den größten Teil ihres Lebens an zwei Orten zu verbringen, so argumentiert Bologna, nämlich dem privaten und dem fremdbestimmten, so entwickeln selbstständig Arbeitende heutzutage eine scheinbar viel größere Teilhabe an der Ausarbeitung der Regeln die am Arbeitsplatz gelten. Diese, wie man betonen muss nur, scheinbare Selbstgestaltung und Selbstbestimmung des eigenen Lebens- und Arbeitsstils wird jedoch immer durch einem konkreten sozialökonomischen Kontext mitbestimmt. „Das Subjekt dieser Arbeit, der gesellschaftliche Arbeiter, ist Cyborg, eine hybride Verbindung von Maschine und Organismus, die fortwährend die Grenzen zwischen materieller und immaterieller Arbeit überschreitet. Diese Arbeit sollte als gesellschaftliche definiert werden, weil die allgemeinen Bedingungen des sozialen Lebensprozesses, von Produktion und Reproduktion ihrer Kontrolle unterliegen und ihr entsprechend umgeformt werden.“450 Es handelt sich also um konkrete Handlungsstrategien und Lebensgestaltungsmöglichkeiten, mit denen sich das Subjekt seine Arbeiterinnen-Identität scheinbar selbst konstituieren kann. Das, was das Individuum als sein Selbst wahrnimmt, ist aber schon immer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse entstanden. Die bereits erwähnte These von der gesellschaftlichen Fabrik der Postoperaisten macht es auch umso schwerer, die kapitalistische Verwertungslogik, die die Widerstandpraktiken miteinschließt, anzugreifen und sie zu attackieren. Die Widerstandsformen werden selbst zum Motor der neoliberalen postfordistischen Geschichte. „Das Leben als politisches Objekt wurde gewissermaßen beim Wort genommen und gegen das System gekehrt, das daranging, es zu kontrollieren.“451 „Diese Doppelbewegung von Unterwerfung und Freiheitspraktiken produziert Subjektivierungsprozesse, die nicht nur das Ergebnis von Zwangsprozeduren sind. Sie finden vielmehr auf einem strategischen Terrain statt, das notwendigerweise Widerstandsmöglichkeiten mit einschließt. [...] Macht und 449 Sergio Bologna: Die Zerstörung der Mittelschichten. Aus dem Italienischen von Klaus Neundlinger, Wien: Nausner & Nausner, 2006, S. 14. 450 Antonio Negri/Michael Hardt: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin: ID 1997, S. 143. 451 Gilles Deleuze: Was ist ein Dispositiv? in: Francois Ewald/Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondel/J. Rajchman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 129. 142 Widerstand treten in ein Immanenzverhältnis ein.“452 Hard und Negri gehen von einem gegenwärtigen Leben aus, das tendenziell allumfassend produktiv geworden ist. Diese produktive Lebenform, die als biopolitische Produktion bezeichnet wird, fabriziert nebst Waren Subjektivitäten, Körper, Intellektuelle, Bedürfnisse, soziale Beziehungen und kollaborative Praktiken. Während in der Disziplinargesellschaft institutionelle Disziplinierungsapparate mit ihren Normierungspraktiken auf die Körper wirken, findet die Machtausübung innerhalb der Kontrollgesellschaft und ihrer postfordistischen Organisation direkt in den Köpfen, an den Körpern statt. 4.1 Biomacht von einer Macht, die das Leben selbst betrifft „Das plötzliche, intensive diskursive Interesse an der Politik des Lebens selbst wirkt sich auch auf die Frage des Todes und neuer Arten des Sterbens aus. Biomacht und Nekro-Politik sind zwei Seiten derselben Medaille.“453 Wortwörtlich gesprochen betrifft die Definition von Biopolitik eine Politik, die sich direkt auf das Leben (griech.:bíos) bezieht. Foucaults Begriff der Bio-Macht (französisch: le biopouvoir) - der in den neunziger Jahren eine Reaktivierung durch Agambens Analyse erlebt - wurde erstmals in den siebziger Jahren im Kapitel „Recht über den Tod und Macht zum Leben“454 publiziert und umschreibt die Machttechniken, die „nicht auf den Einzelnen, sondern auf die gesamte Bevölkerung zielen“455 (Regulierung der Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Wohnverhältnisse, u.a.). 1979 hält Foucault eine Vorlesung mit dem Titel „Die Geburt der Biopolitik“456 , die bereits die neuen ökonomischen als auch politischen Regierungsformen des aufkommenden Liberalismus ankündigt. In diesem Zusammenhang spricht Foucault vom Liberalismus als eine spezifische Kunst der Menschenführung, die sich zur Aufgabe macht die Bevölkerung durch bestimmte Machttechnologien zu regulieren und zu kontrollieren. Er skizziert eine Entwicklungslinie der Formen von Biomacht, die sich im Laufe der Zeit verändert haben. Als Anfangspunkt wählt er die Macht des Souveräns, der im Ancien Régime über das Recht von Tod und Leben der Untertanen bestimmen konnte. Später wurde das Recht des Souveräns, zu töten, abgeschwächt und galt 452 Marianne Pieper: Biopolitik – die Umwendung eines Machtparadigmas: Immaterielle Arbeit und Prekarisierung, S. 219. 453 Rosi Braidotti: Bio-Power and Necro-Politics Reflections on an ethics of sustainability, in: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Nr. 2, 2007, URL: http://www.springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=1928&lang=de (08.08.2013). 454 Vgl. Michel Foucault: Recht über den Tod und Macht zum Leben, in: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, S. 129- 1153. 455 Michel Foucault: Die Maschen der Macht [1981/1985]. Aus dem Französischen von Reiner Ansäen, in: Daniel Defert, Francois Ewald (Hg.): Analytik der Macht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 230. 456 Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann/Jürgen Schröder, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. 143 nur noch bei Gegenwehr, wenn sich der Souverän in seiner Existenz bedroht sah. „Die alte Mächtigkeit des Todes, der sich die Souveränität symbolisierte, wird nun überdeckt durch die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens.“457 Mit dem Aufkommen von demokratischen Regierungsformen konzentriert sich die Machtausübung auf Kontrolle, Überwachung und Verwaltung, um „Leben wachsen zu lassen“458, zu verwalten und zu ordnen. Die neuen ordnenden Kräfte bilden das, was Foucault in Folge die „Normalisierungsgesellschaft“ nennt, weil es darum geht, das Leben zu sichern und auf eine bestimmte Art und Weise zu organisieren. Die Subjekte werden an einer Norm gemessen, sie werden an ihr ausgerichtet und müssen vor ihr bestehen. „Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie [die BioMacht] die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet. [...] Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie.“459 Von welcher Art von Normalisierungsgesellschaft spricht Foucault hier? Von welcher Position aus beschreibt er Norm, Disziplin und Regulierung? Foucault analysiert unter dem Begriff Biomacht den alltäglichen Zustand der Gesellschaft, im Gegensatz dazu wählt der italienische Theoretiker Giorgio Agamben, sich auf Foucault beziehend, als Ausgangspunkt den Ausnahmezustand. Der Ausnahmezustand definiere das nackte Leben im gesetzlosen Raum der nationalsozialistischen Konzentrationslager im deutschen Faschismus. Agamben differenziert dabei die Bezeichnung von Leben in zoé und bíos, das die rechtlich verfasste Spaltung von Identität markiert: zum einen gibt es das vergesellschaftete Wesen (bίos politikós) und zum anderen das nackte bzw. bloße Leben (nuda vita). Diese Spaltung des Lebens in zoé und bíos setzt Agamben in Beziehung zu der politischen Struktur des Westens: dem herrschenden Recht und seiner eigenen Aussetzung, den Ausnahmezustand. Zentrale These von Agamben ist, dass die politische Verfasstheit der modernen Demokratien keinen grundlegenden Bruch zum traditionellen Souverän (Bestimmung über leben und töten lassen) vollzogen haben. Es bestehe, so Agamben, nach wie vor eine Verbindung zur souveränen Macht des Königs, Fürsten oder des antiken griechischen Staates. Souveränität im Abendland konstituier sich immer durch die Beziehung zum gleichzeitig in die Rechtsordnung eingeschlossenen und ausgeschlossenen Lebens. Diese grundlegende Bezugnahme der souveränen Macht auf das Leben bezeichnet Agamben als biopolitisch. Agamben formuliert das Paradox von Souveränität wie folgt: „Der Souverän steht zugleich innerhalb und außerhalb der 457 458 Michel Foucault: Sexualität und Macht. Der Wille zum Wissen, S. 166. Ebd., S. 163. 459 Michel Foucault: Sexualität und Macht. Der Wille zum Wissen, S. 162. 144 Rechtsordnung.“460 Der Souverän, sei derjenige der das Gesetz konstituiert und auf die Weise unmittelbar mit der Rechtsordnung in Verbindung steht, zum anderen stehe er aber auch außerhalb des Gesetzes, da er es außer Kraft setzen kann bzw. ihm nicht unmittelbar untersteht. Agamben bezieht sich auf Carl Schmitts Definition von Souveränität: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“461 Die slowenische Theoretikerin und Künstlerin Marina Gržinić untersucht mit Hilfe der dekolonialen Perspektive diese Schreibposition und die historische Weiterentwicklung bzw. Ergänzung des foucaultschen und agambschen Begriffs der Biomacht mit dem der Nekropolitik.462 Gržinićs These ist, dass wir mit einer ständigen Regulierung durch Biopolitik und Nekropolitik konfrontiert sind und dass die Biopolitik aus der Regulation des Lebens besteht, während die Nekropolitik aus der Deregulierung der Regulierung und der Produktion des Todes besteht.463 In diesem Sinne sind Biopolitik (Agamben) und Nekropolitik (Mbembe, Gržinić) einander nicht diametral entgegengesetzte Politiken, sondern im Gegenteil, sie ergänzen und aktualisieren sich gegenseitig. Sie bestehen aus permanenten Einschließungs- und Ausschließungspraktiken, die Zusammenschlüsse herstellen wie zum Beispiel zwischen Arbeit, Leben und Kapital und das Leben insgesamt prekarisieren. 4.2 Vom Unbehagen über die Leerstelle: Der argentinische Film „Los Rubios“ von Albertina Carri Das folgendene Szenario, so mag es einem auf den ersten Blick vorkommen, bildet keinen unmittelbar logischen Übergang zum vorherigen Kapitel. Der Film „Los Rubios“464 (deutscher Filmtitel „Die Blonden“), der hier untersucht wird, betrifft das Leben der Filmemacherin Albertina Carri, ihr Aufwachsen ohne Eltern. Das Sichtbarmachen dieser Leerstelle ist eine politische Handlung, denn es handelt sich bei Carris Eltern um Desaparecidos, Personen die in der Regierungszeit der argentinischen Militärjunta verschwunden sind. Bei dem staatsterroristischen Verbrechen ging es darum, Personen, die gegen das Regime waren, sozusagen „unsichtbar zumachen“, auszulöschen.465 Es geht in „Los Rubios“ nicht um die filmische Rekonstruktion von Carris Lebensgeschichte ohne Eltern und den Grund ihres Verschwindens durch das staatliche Machtdispositiv, sondern um die Leerstelle und das darauf gründende identitäre Werden der Filmemacherin. Das Interresse, den Film an dieser Stelle vorzustellen, ist vielschichtig. Ich möchte zum einen, die unterschiedlichen Formen der künstlerischen Praktiken des 460 Giorgio Agamben: Homo sacer - Souveräne Macht und bloßes Leben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 25. 461 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin: Duncker & Humblot 2004, S. 11. 462 Vgl. Kronotop.org: Images of Struggle, Politics and Decoloniality (Marina Gržinić), en: Kronotop. Video-entrevistas sobre activismo, arte y politica, 2010, [Transkript Tjasa Kancler], URL: http://www.kronotop.org/folders/naked-freedomdecoloniality-images-of-struggle/ (09.09.2013). 463 Vgl. Sebastjan Leban: Contemporary vampirism: capital and its (de)regulation of life, in: REARTIKULACIJA #7, 2009, URL: http://www.reartikulacija.org/?p=711 (29.01.2013). 464 Albertina Carri: Los Rubios, [DVD], Argentinien: Apparatus Productions 2003. 465 Vgl. das Kapitel „Exkurs Argentinien“ im Anhang: Exkurs: Argentinien: Die Militärdiktatur, S. 287 145 Sichtbarmachens von Unbehagen hinsichtlich ihrer politischen Funktion analysieren, um des weiteren das Verhältnis zwischen Einzel- und Kollektivgeschichte zu befragen. Carri, ähnlich wie Helke Sander, wählt ihre ganz persönliche Perspektive zum Ausgangspunkt ihres Filmes, allerdings verortet sie sich innerhalb eines Diskurses über Erinnerungspolitik und nicht wie Sander, die aus ihrer Sicht die Entwicklungsgeschichte der deutschen Frauenbewegung nacherzählt. Im Gegensatz zu Helke Sander markiert Carri explizit die Differenzen innerhalb eines linkspolitischen Erinnerungsdiskurses, anstatt sich dem tradierten kollektiven Repräsentationsvokabular anzupassen. Sie ersetzt das Kollektiv der „Betroffenen“ durch die Gruppe, die ihren Film produziert. Während Sander und ihre Protagonistin in Parallelwelten operieren, sind die Schauspielerin Analía Couceyro und die Regiesseurin Albertina Carri im permanenten Dialog zueinander und sprechen darüber, wie das Bild von Carri entsteht. Carris Repräsentation bildet sich nicht in Form von Nachahmung sondern diskursiv im Moment der Aufnahme. Oftmals spielen die im postdiktatorischen Argentinien gedrehten Filme über die Militärdiktatur und deren Gewaltverbrechen in dunklen Gewölben, Folterzellen und Gefängnissen und stellen repressive Methoden, die die Körper zum Sprechen und schlussendlich zum Schweigen bringen, nach. Diese Bilder, unabhängig von ihrer Funktion als Nacherzählung der argentinischen Geschichte, illustrieren gewissermaßen Theorien zu nekro- und biopolitischen Machtdispositiven. Carris Film konzentriert sich hingegen auf das Verarbeiten von Erinnerung bzw. dem Aufzeigen, wie Erinnerungskonstruktion funktioniert. Dies läßt ihren Film als ein noo-politisches466 Projekt einordnen, da sie uns einen möglichen Prozess von Erinnerung vorführt. Im Anhang dieser Arbeit befinden sich zum Filmbeispiel „Los Rubios“ ergänzend zwei Abschnitte: „Exkurs Argentinien“ und „Exkurs argentinische Kinogeschichte“. In ihnen wird der sozio-politische Kontext des Filmes und ein Teil der argentinischen kinematografischen Repräsentationsgeschichte erläutert. „Wenn ich den Film definieren soll, dann sage ich immer, es ist eine Fiktion über die Erinnerung und nicht über mein Leben oder meine Eltern.“467 466 Mauricio Lazzarato schlägt vor, einen begrifflichen Unterschied zwischen dem bios, der Gegenstand der Biomacht ist, und dem bios des Gedächtnisses einzuführen, er nennt den letzteren noopolitisch. Mauricio Lazzarato: Leben und Lebendiges in der Kontrollgesellschaft. Kooperation zwischen Gehirnen und Noopolitik, in: Marianne Pieper/Thomas Atzert/Serhat Karakayli/Vassilis Tsianos (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt a. M./New York: Campus 2007, S. 253-291, S. 266. Vgl. auch Tiziana Terranova: Futurepublic. On Information Warfare, Bio-racism and Hegemony as Noopolitics, in: Sagebup, 2007. Zitat: „Maurizio Lazzarato calls it a second bios, the life of the brain, it has the potential to give expression to the virtual power of immaterial events of subjectification which materialize in the bodies which actualize them and the possible, shared worlds that they are capable of producing.“ URL: http://tcs.sagepub.com/content/24/3/125.abstract (30.01.2013). 467 Albertina Carri zitiert von Maria Moreno: Esa rubia debilidad, in: Página 12. Radar Nr. 9, 19/10/2003, [Übersetzung A.S], URL: http://www.pagina12.com.ar/diario/suplementos/radar/9-10012003-10-22.html (30.01.2013). 146 Über den Film „Los Rubios“ aus dem Jahr 2003 ist im spanisch sprechenden Raum viel geschrieben worden (Kohan, Macón, u.a.). In diesem Abschnitt sind verschiedene Meinungen und Positionen zusammengetragen, die sich auf den Film positiv als auch kontrovers beziehen. Ich setze hier den Fokus auf die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen künstlerischen Taktiken, die die Filmemacherin wählt, um sich zu einem vorherrschenden Erinnerungsdiskurs, von dem sie sich nicht repräsentiert fühlt, zu verhalten. 4.2.1 Kurze Einführung in den historischen und sozialen Kontext des Films Albertina Carri war 3 Jahre alt, als ihre Eltern, der Soziologe Roberto Carri und die Literaturwissenschaftlerin Ana Maria Caruso, aus dem gemeinsamen Wohnhaus in der Calle Husares in Buenos Aires, Argentinien, entführt wurden. Die beiden gehörten zu der Montonero-Bewegung468 . Nach dem gewaltsamen Verschwinden ihrer Eltern bleibt Carri mit den zwei älteren Schwestern Paula und Andrea zurück und wächst wechselnd auf dem Land und in der Stadt bei verschiedenen Verwandten auf. Sie kann, so ist in mehreren Interviews nachzulesen, nicht mehr zwischen eigener Erinnerung an die Eltern, Vorstellung und den Erzählungen von Familie und Freunden, die ihr Bild der Eltern prägten, unterscheiden („An dem, was ich erinnere, zweifele ich ständig“)469 . Daraus ergibt sich ein komplexes, sich immer wieder veränderndes Bewegungsbild der Eltern, das sich je mit den Erklärungen der Erwachsenen über die Abwesenheit ihrer Eltern in eine andere Geschichte verwandelte. Bis zu ihrem 12. Lebensjahr glaubte sie, dass ihre Eltern zurückkommen würden. Die Film-Zuschauer_innen begleiten Analía Couceyro470 , das Filmteam und Albertina Carri an verschiedene Orte, die signifikant im Leben des Paares Carri waren oder Hinweise auf ihr Verschwinden geben können. Analía Couceyro, die Albertina Carri darstellt, wird immer wieder in ihrem persönlichen Umfeld, ihrer Wohnung gezeigt, wie sie über die Ereignisse und Begegnungen reflektiert oder von dem Filmteam bzw. der Filmmacherin befragt wird. Der Filmtitel „Die Blonden“ ist erst im Laufe der Filmproduktion entstanden. Kein Mitglied aus Carris Familie war blond, aber die Nachbarn des Stadtteils, in dem die Carris damals wohnten und aus dessen Wohnhaus die Eltern verschleppt wurden, nannten die Familie mit Spitznamen „die Blonden“, ein Verweis darauf, dass sie als Dazugezogene anders waren. „In einem bestimmten Moment fiel mir auf, dass die Frau in den zwei Zeugenaussagen die Familie als blond definiert und mir wurde klar, dass das der Schlüssel für den Film ist. Die Fiktion der Erinnerung, die ich benötigte [...]. Als ich diesen Titel hatte, begann ich, das Drehbuch zu schreiben. Und von da ab hatte ich 468 469 Hierzu im Anhang: Exkurs: Argentinien: Die Militärdiktatur, S. 287. Albertina Carri: Los rubios, Cartografía de una película, Buenos Aires: BAFICI 2007. S. 18. [Übersetzung A.S]. 470 Die Schauspielerin Analía Couceyro spricht zum Anfang des Films in die Kamera: „Mein Name ist Analía Couceyro, ich bin Schauspielerin und in diesem Film repräsentiere ich Albertina Carri.“ Albertina Carri: Los Rubios, TC: 00:07:25, [Übersetzung A.S]. 147 auch das Ende des Films beschlossen. Während der Produktion des Films wuchs das Filmteam zusammen und übernahm Entscheidungsmacht, wie der Film aussehen könnte und wie es selbst mit auftauchen könnte. Man brachte sich ein und diskutierte. Wir waren wie eine wirkliche Familie.“471 Für Omar Murad ist die Bezeichnung der Carris als „Blond“ ein Indiz dafür, dass die Gruppendynamik der Nachbarn als „Pseudo-Erinnerung“472 auftaucht, die ein „wir“ zu „die“ (den Anderen) - also die Differenz von Arbeiter_innenn des Stadtteils und der dazugezogenen Akademikerfamilie markiert, die ihnen anders und fremd erschien. Albertinas Carris Eltern glaubten, dass sie sich mit den Leuten aus dem Stadtteil vermischen und solidarisieren würden, ein Durchmischen von Arbeiter_innen und Akademiker_innen als gemeinsame Subjekte einer revolutionären Aufbruchsstimmung. Ich habe im Folgenden vier Vorgehensweisen der Filmemacherin herausgearbeitet, mit denen sie sich von den konventionellen Praktiken zur Repräsentation der Thematik von Verschwundenen unterscheidet. Die Desaparecidos (die Verschwundenen) durch Demonstrationen, Fotografien, Filme und andere Medien sichtbar bzw. öffentlich zu machen, ist an sich schon eine politische Praxis (siehe anschließendes Kapitel über soziale Bewegungen), da es der Militärdiktatur ja gerade um das Unsichtbarwerden und Auflösen von Regimewiderständigen ging. Sich aber, wie Albertini Carri, mit der Art und Weise, bzw. Form dieser Repräsentation kritisch auseinandersetzen, unterscheidet ihr Projekt von anderen Sichtbarkeitsformen und Filmen. 4.2.2 Filmische Sichtbarkeitsformen in „Los Rubios“ 1. Die Fiktionalisierung der Filmemacherin. Albertina Carri wird von einer Schauspielerin gespielt und ausgedachte Familienszenen werden mit Playmobil-Figuren nachgespielt. 2. Die Verwendung von heterogenem Aufnahmematerial (Betacam, 16 mm, Super 8 und Doppel 8 mm). Animierte Schwarzweiß-Schrifttafeln unterteilen bestimmte Szenen. Es tauchen Fotos, Zitate, Gedanken und historische Fakten in dem Film auf. 3. Interviews: Die Befragung von Zeugen 4. Selbstreflexion und Selbstreferenzialität 4.2.2.1 Fiktionalisierung der Filmemacherin „In einem Moment dachte ich, ich werde alles fiktionalisieren, 471 472 Maria Moreno: Esa rubia debilidad, 19/10/2003, [Übersetzung A.S]. Omar Murad: La ironía como una estrategia de construcción de la memoria en Los Rubios de Albertina Carri, in: Metahistorias, UBA-CONICET-UNMdP, o.A., URL: http://metahistorias.wordpress.com/integrantes/omar-murad/ (30.01.2013), [Übersetzung A.S]. 148 aber es schien mir keine Lösung, nach Schauspielern zu suchen, die meine Eltern darstellen. Von da ab entschied ich, nur mich zu fiktionalisieren. Mir erschien es wichtig, den Zuschauer_innen den Eindruck zu vermitteln, dass es unmöglich ist, die Erinnerung zu rekonstruieren. Das Gedächtnis ist eher eine Stimmung als etwas anderes.“473 Albertina Carri, die selbst als Filmemacherin auf der Bildfläche erscheint (Regieanweisungen gibt, sich mit dem Filmteam und der Schauspielerin berät oder der, an der Seite von Analía Couceyro, im forensischen Institut Blut abgenommen wird) verdoppelt ihre Person, in dem sie sich von einer Schauspielerin spielen läßt. Auf diese Weise ist es den Zuschauer_innen unmöglich, sich mit der Protagonistin Albertina Carri, gespielt von Analía Couceyro, zu identifizieren, da die schauspielerische Repräsentation regelmäßig als Illusion, als Verdoppelung ins Bild tritt. So wird eine brechtianische Distanzierung vorgenommen, die mit der Entfremdung einen Raum zur Reflexion über Erinnerung, Repräsentation und Abwesenheit öffnet. „ [...] ich habe nie akzeptiert in Zeugenfilmen mitzumachen, und ich fühle mich auch in keinem repräsentiert. Ich habe den Eindruck, sie sprechen über mich, aber ohne dass es mit mir zu tun hat. Als ich ‚Los Rubios‘ machte, dachte ich eher an Filme wie ‚Sans Soleil‘ von Chris Marker oder denen von Godard, da wo man direkt mit der Repräsentation konfrontiert ist.“474 Carris Erfahrung steht in Beziehung zu dem, was Steyerl über die Interviewsituation in Godards „Tout va bien“ zusammenfasst. Die Szenen, die sie beschreibt, zeigen ein Interview. Man hört aber einen anderen Ton, es sind die Gedanken der Arbeiterin, die ohne ein Wort zu sagen, neben dem Interviewteam steht. Sie hört zu, wie von ihren Arbeitsbedingungen Zeugnis abgelegt wird, und obwohl die Fakten richtig wiedergegeben werden, kommt der Arbeiterin dieses Interview falsch vor. „ [Die], die für sich selbst sprechen, werden in den Medien als leicht minderbemittelte, jedenfalls eher bemitleidenswerte Exemplare wahrgenommen. [...] Sie sind Betroffene, und als solche muss man sie nicht ernst nehmen.“475 Carri als Betroffene, in diesem Fall als Kind von Desaperecidos, sprechen zu lassen, bedeutet, dass sie nur als Kind von verschwundenen Eltern spricht. Die Zeugen des Verbrechens können nicht sprechen, da sie ja „verschwunden“ gemacht worden sind. Für das Verbrechen gibt es keine Beweise, noch nicht einmal einen Körper, die Verschwundenen zeugen in ihrer Abwesenheit nur für die entstandene 473 Lorena García: Albertina Carri: La ausencia es un agujero negro, in: La Nación, 23/04/2003, URL: http://www.lanacion.com.ar/490828-albertina-carri-la-ausencia-es-un-agujero-negro (23.12.2012), [Übersetzung A.S]. 474 Maria Moreno: Esa rubia debilidad, 19/10/2003, [Übersetzung A.S]. 475 Hito Steyerl: Können Zeugen sprechen? Zur Philosophie des Interviews, in: EIPCP 05/2008, URL: http://eipcp.net/transversal/0408/steyerl/de/print (30.01.2013). 149 Leerstelle. „ [...] Mir erschien es zu heftig vor der Kamera zu sagen: „Als ich drei Jahre alt war töteten sie meinen Vater und meine Mutter… Denn wenn der Zuschauer anfängt zu heulen, dann ist keine Reflexion mehr möglich. Die Geschichte an sich ist schon dramatisch und traumatisch, ich lebe mit ihr. Auch deswegen wollte ich das Thema nicht zelebrieren, da ich mit dieser Geschichte lebe, mein Alltag ist nicht immer markiert davon. Ich bin ein normaler Mensch, mit Höhen und Tiefen.“476 Die dokumentarische Identifikation mit Betroffenen wird von Elisabeth Cowie als ambivalente Empathie beschrieben, bei der an das fürsorgliche und mitfühlende Selbstbild der Zuschauer_innen appelliert wird. „Dafür werden weniger Zeugen benötigt als Opfer. Diese Rolle schreibt vor, dass die Opfer ‚richtig hilflos‘ und ‚stimmlos‘ sein sollen und dass sie nicht in der Lage sein sollen, Argumente und Analysen vorzubringen, um nicht mit dem Zuschauer - und dem Film - als wissende Subjekte zu konkurrieren.“477 Carri ist nicht stimmlos und sie weigert sich, die Rolle des Opfers zu spielen, vor der Kamera als Betroffene zu erscheinen. Stattdessen läßt sie sich durch eine Schauspielerin vertreten, diese schneidet Fotos aus, schreibt Sätze auf, reproduziert die Interviews mit Zeugen fragmentarisch, kurz: sie demontiert das Opferbild von Carri, das man ihr leicht zuschreiben könnte, in dem sie die eigene Geschichte als „H.I.J.A.“ (Kind von Desaparecidos) ohne Eltern konstruiert. Albertini Carri erzählt, dass ihr Film nicht aus persönlichen Gründen entstanden sei, um die Familiengeschichte aufzuarbeiten, sondern „weil sie sich nie von den vorherigen Stimmen repräsentiert fühlte“.478 Ihr erschien, dass man das Thema der Desaperecidos und der nachkommenden Generation tendenziell aus historischer Sicht behandelt hatte. „Mein Eindruck ist, dass sich keiner traut, den Finger in das schwarze Loch der Abwesenheit zu stecken. Im Allgemeinen nehmen die Filme, zu diesem Thema die Perspektive der Verschwundenen, der damals jungen SiebzigerJahre-Generation ein, um dann manchmal zu einem etwas intimeren oder privaten Bereich zu gelangen, der Geschichte einer Mutter oder Großmutter. Ich wollte den entgegengesetzten Weg gehen.“479 Nachgespielte Szenen mit Playmobil: Carri ist mit der Abwesenheit der Eltern, und mit den Vorstellungen und Fantasien über sie aufgewachsen. Die animierten Szenen mit den Playmobilfiguren inszenieren fragmentarisch erinnerte Situationen mit der Familie oder 476 477 Lorena García: Albertina Carri: La ausencia es un agujero negro, 23/04/2003, [Übersetzung A.S]. Elisabeth Cowie: Identifizierung mit dem Realen – Spektakel der Realität, in: Marie-Luise Angerer/Henry P. Krips (Hg.): Der andere Schauplatz. Psychoanalyse – Kultur – Medien, Wien: Turia + Kant 2001, S. 169. 478 Lorena García: Albertina Carri: La ausencia es un agujero negro, 23/04/2003, [Übersetzung A.S]. 479 Ebd. 150 Vorstellungen, wie die Eltern waren. In einer Animation mit einer Playmobilfigur wechselt die Kopfbedeckung der Figur permanent, auf diese Weise zeigt Carri ihre Unsicherheit über das Aussehen und die Identität der Eltern, da sie sich nicht erinnert, wie sie aussahen. Eine Playmobilfigurenparty zeigt ein idyllisches Familienbild, darin werden die Eltern idealisiert und in der Erinnerung zu außergewöhnlichen Personen stilisiert. Eine andere Playmobilsequenz zeigt die Szene, in der die Eltern verschwinden. Ein Playmobil-Ufo, dass landet und die Eltern mitnimmt verbildlicht, diese rätselhafte von außen kommende Macht, die das Verschwinden der Eltern produzierte. Ein Kind kann sich nicht vorstellen, dass die Eltern entführt, festgehalten und gefoltert werden, dazu ist es noch zu klein, es wartet auf die Rückkehr der Eltern. 4.2.2.2 Die Verwendung von heterogenem Aufnahmematerial Als Arbeitstitel diente Carri anfangs die Bezeichnung: „Dokumentarfilm 1. Notizen für eine Fiktion über die Abwesenheit. Mit autobiografischen Elementen.“480 Ab dem Moment sah sie sich allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass der familiäre Druck, eine autobiografische Arbeit abzuliefern, stieg, man brachte ihr Fotos, Ratschläge und Adressen von Zeugen. Im Gegensatz zu anderen Filmen von Kindern von Desaparecidos (u.a. María Inés Roqué, Andrés Habegger) verwendet Carri, ähnlich wie der Filmemacher Nicolás Prividera in seinem Film „M“, die Strategie des Fiktionalen, Fragmentarischen und Ungeordneten. Beide Filmemacher, Carri und Prividera, bearbeiten das Thema der eigenen Identität und formen einen anderen als den historischen Raum der Erinnerung, der innerhalb der Sprache, dekonstruierend, problematisierend und kritisch die Abwesenheit, die Leerstelle und das Fehlen thematisiert, anstatt eben jene mit historischen Fakten anzufüllen. Bei den Nachforschungen über das Verschwinden ihrer Eltern bekommt Carri den Kontakt zu einer Person, die womöglich die letzte Person war, die ihre Eltern, im geheimen Folterzentrum, lebend gesehen hat. Carri führt diese Person durch einen Umweg in den Film ein. Die Schauspielerin Analía Couceyro steht als Albertina Carri vor einer gerahmten Architekturfotografie von Le Corbusier. Sie schaut auf das Bild, und als Zuschauer_innen des Films hört man ihre Gedanken (Stimme aus dem Off): Das Bild wurde in einem Laden gerahmt und dort lagen die Fotoarbeiten von einer Frau namens Paula. Die Fotografien zeigten aufgehängte Kuhkörper in einem Schlachthaus. Die Fotografin dieser Fotoserie war in der Militärdiktatur gefoltert worden. Couceyro/Carri beschreibt, dass sie sich merkwürdig vorkommt, da sie in dem Laden nur war, um die Fotografie einer Innenraumarchitektur rahmen zulassen. Die Szene endet mit dem Gedanken: 480 Originaltitel: „Documental 1. Notas para una ficción sobre la ausencia. Con elementos autobiográficos.“ aus Maria Moreno: Esa rubia debilidad, 19/10/2003, [Übersetzung A.S]. 151 „I don`t like dead cows. I like beautiful architecture.“481 Während die Stimme aus dem Off erzählt, sehen wir ausschließlich die Seitenansicht der Schauspielerin, die auf das Architekturbild schaut. Allerdings können wir uns die Fotografien von dem Schlachthaus im selben Moment vorstellen. Sie lassen sich durch die biografischen Daten zu der Fotografin Paula möglicherweise auch als Metapher eines Folterzentrums identifizieren. Wenig später, wir sehen nun Couceyro/Carri an einem Schreibtisch sitzen, erfahren wir, dass die Fotografin Paula und die Person, die ihre Eltern zuletzt gesehen hat, dieselbe Person ist. Carri hat an dieser Stelle des Filmes ein komplexes Geflecht von Referenzen geschaffen, ausgehend von einer gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografie, die an der Wand hängt, um über die Unmöglichkeit der Repräsentation von den verschwundenen und gefolterten Körpern ihrer Eltern zu sprechen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Fotografin bzw. Zeugin Paula,482 nicht vor laufender Kamera sprechen möchte. Carri löst diese Situation, in dem sie Couceyro als Carri von dem Treffen mit Paula berichten lässt, hierfür setzt sie Couceyro frontal vor die Kamera. Die Szene wird durch die Filmklappe mit der Aufschrift: „Interview Paula die Erste“ eingeleitet. Ich habe diese Szene näher beschrieben, um exemplarisch zu zeigen, wie Carri unterschiedliche Materialien oder Methoden verwendet, die das Verschwinden der Eltern vergegenwärtigen. Etwas plakativer wird dies in den Szenen illustriert, in denen die Schauspielerin aus Notizen, Fotografien der Familie und Playmobilfiguren Kollagen komponiert. „Los Rubios“ besteht, wie bereits mehrfach von mir kommentiert, aus sehr heterogenem Material. Die Filmemacherin begründet diese eklektische Mischung der Bildästhetiken damit, dass sie die Zuschauer_innen den Prozess der ungeordneten Zufälle und Begebenheiten bei der Erinnerungskonstruktion nachempfinden lassen möchte. Unter die verschiedenen Aufnahmeformate Betacam, 16 mm, Super 8 und Doppel 8 mm mischt sie die Darstellungsformate Zeichnungen, animierte Schrifttafeln und Playmobilsequenzen, Fotos und selbst gefilmte oder medialisierte (vom Videomonitor abgefilmte) Sequenzen von unterschiedlichen Orten und Personen. „ [...] Ich wollte verhindern, dass verschiedene Elemente wie die Zeugnisse, die Fotos und die Briefe die beruhigende Wirkung haben, jetzt kenne ich Roberto und Ana Maria und ich kann dann nach Hause gehen. Das, was ich plante, war eben jenes: die werde ich nicht kennenlernen, es gibt keine mögliche Rekonstruktion. Sie sind unverständlich, weil sie nicht da sind. Die Abwesenden lasse ich abwesend bleiben.“483 481 482 Albertina Carri: Los Rubios, TC: 01:25:10. Der Name der Fotografin taucht im Film nur als Paula auf, nach meinen Nachforschungen handelt es sich um die argentinische Fotografin Paula Lottringer und die Fotoserie „Sin título #11“, 1995-96. 483 Maria Moreno: Esa rubia debilidad, Página 12, 19/10/2003, [Übersetzung A.S]. 152 Genau diese Abwesenheit wird Carri hinterher zum Vorwurf gemacht. Der Filmkritiker Martín Kohan meint, dass die Zuschauer_innen des Filmes nichts über die Militanz der Montoneros Roberto Carri und Ana María Caruso erfahren. Die detaillierte Analyse Kohans von „Los Rubios“ in der Zeitschrift Punto de vista484 hat eine Reihe von Reaktionen und weitere Texte zu dem Film hervorgerufen (Macón485, etc.). Kohan bezeichnet Carris Verfahrensweise als ungehörig: ihr Wunsch, zweifach im Film aufzutauchen, sei egozentrisch, sie würde sich respektlos in Beziehung zu den Interviewten Intellektuellen verhalten, die sich ihr angeboten hatten, an dem Film mitzumachen und es sei ungehörig, die spezifisch politische Dimension derart in ihrer Erzählung zu verschieben. Die Darstellung der Entführung der Eltern mit Playmobilfiguren nachzuspielen, würde die Tat grundlegend entpolitisieren, der Film präsentiere ein irrelevantes und absurdes Ende.486 Kohan spricht von Techniken des Vergessens. „In ‚Los Rubios‘ sehe ich noch eine andere Sache: ich sehe die Grundlage zu Mechanismen des Vergessens. [...] das Auslöschen der Figur der Desaparecidos. Es ist kein Film über Desaparecidos. Und auch kein Film, der neue Formen der Erinnerung erforscht. Er erforscht einige Formen des Vergessens, ich sehe nicht, welche Formen der Erinnerung ‚Los Rubios‘ vorschlägt. Ich glaube, er unterdrückt die Vergangenheit, um den Schmerz zu neutralisieren.“487 Im Grunde pflichtet Pilar Calveiro de Campiglia Kohan bei, in dem sie das Neutralisieren, das nach Meinung Kohans, durch die Fragmentarisierung, Unordnung und das Einsetzen von unterschiedlichem Material entsteht, als andere Form von Autorität interpretiert. „ [...] im postmodernen Diskurs wird das Autoritäre nicht aufgekündigt. Es ist eine andere Form des Autoritären. Und was ist diese Form des Autoritären die sich als Flexibilität und Offenheit zeigt? Es ist jene Art Folgendes zum Ausdruck zu bringen: Wir sind alle unterschiedlich, jeder hat sein Stückchen, jeder hat seine Bürde zu tragen und dadurch verschwindet das Öffentliche (Gemeinsame), da zum Schluss jeder eine andere, eigene Identität hat [...] und diese Repräsentationen bringen keine andere Form hervor als die Ungleichheit und die Ausgrenzung zu potenzieren und aufrechtzuhalten. Und die Ausgrenzung ist in letzter Instanz die Schlüsselpraxis des Autoritären. Und normalerweise geht der Vernichtung die Ausgrenzung voraus. Und 484 485 Martín Kohan: La apariencia celebrada, in: Punto de Vista Nr. 78, 2004, S. 29. Cecilia Macón: Los rubios o del trauma como presencia, in: Punto de Vista, Nr. 80 , 01/12/2004, S. 44-47. 486 Juan Ignacio Vallejos: Los Rubios: Intelectuales, Crítica Histórica y Tragedia, in: El interpretador. Literatura, arte y pensamiento, 24/03/2006, [Übersetzung A.S]. 487 Edgardo Vannucchi: Entrevista a Martín Kohan. Narrar los tiempos del Horror, in: Associacion Civil- cultural tesis 11, 26/01/2010, URL: http://www.tesis11.org.ar/entrevista-a-martin-kohannarrar-los-tiempos-del-horror/ (30.01.2013) [Übersetzung A.S]. 153 diese Form des Offenen und des Flexiblen impliziert Formen der Ausgrenzung und der Vernichtung, die wirken. Das ist, glaube ich, was wir mit Erinnerung heute verbinden müssen, die Formen der Ausgrenzung und der Vernichtung, die gegenwärtig am Werke sind.“488 Zeigt sich an Pilar Calveiros Zitat und Kohans Argument der Entpolitisierung etwa eine identitätspolitische Krise? Identitätspolitik vs. dem Begriff der Vielheit, der Multitude bzw. Medienspezifik vs. Intermedialität? Hier offenbaren sich zwei sehr unterschiedliche Repräsentationsstrategien, die in der Geschichte auf zwei Formen sozialpolitischer Bewegungen und Paradigmen verweisen. Kohans und Calveiros zuvor erwähnte Kritik sagt etwas aus über ihre eigene politische Position, die sich innerhalb einer linken Traditionsgeschichte verortet, die keine kritische Auseinandersetzung an dem politischen Projekt der Elterngeneration zulässt. Dem setzt Carri ungehörig entgegen: „Wir sind Kinder des Scheiterns [der Eltern] und das ist eine nicht weniger wichtige Geschichte.“489 In diesem Sinne verstehe ich Carris Film als eine doppelte Auseinandersetzung: zum einen mit der Leerstelle in Bezug auf das Verschwundensein der Eltern und zum anderen mit der Kritik an der Repräsentation von Erinnerung im allgemeinen linkspolitischen Diskurs der Eltergeneration. 4.2.2.3 Das Video-Bild im Film-Bild Analía Couceyro als Albertina Carri macht mehrere Besuche bei ehemaligen Compañeros und Verwandten ihrer Eltern, an die sie Fragen stellt. Vielfach wird den Zuschauer_innen das Interview allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt in fragmentierter Form vorgeführt: Analía Couceyro sitzt dann als Albertina Carri in ihrem Zimmer und lässt die Videos im Monitor abspielen. Sie wendet den Interviewten den Rücken zu und beginnt mit anderen Tätigkeiten, während die Stimme der Interviewten im Off weiterläuft. Kohan interpretiert die Abwendung von Carri als eine Ablehnung von Tatsachenberichten, eine Respektlosigkeit gegenüber den Zeitzeugen der Militanz ihrer Eltern. Kohan geht soweit zu behaupten, Carri habe diese Szenen in den Film integriert, um explizit ihr Desinteresse und die Wertlosigkeit der Geschichten der Elterngeneration zu demonstrieren.490 Ich denke jedoch, dass Carri nicht Kohans unterstellte Absicht verfolgt, sondern vielmehr mit de Certaus Worten „Die Schnittstelle zwischen Zeugnis und 488 Pilar Calveiro: Debate con Pilar Calveiro, [Übersetzung A.S] in: Abel Madariaga (Hg.): El porvenir de la memoria, Segundo Coloquio Interdisciplinario de Abuelas de Plaza de Mayo, 2005, URL: http://es.scribd.com/doc/62587013/Abuelas-coloquio2 (30.01.2013), [Übersetzung A.S]. 489 O.A.: Circuncines 9. Los rubios y los ‚desparecidos‘ durante la dictadura militar argentina, in: daguerrotipos y otros cines, 2011, URL: http://daguerrotiposyotroscines.blogspot.com.es/2011/04/circuncines-9-los-rubios-y-los.html (30.01.2013), [Übersetzung A.S]. 490 Edgardo Vannucchi: Entrevista a Martín Kohan. Narrar los tiempos del Horror, in: Asociación Civil – Cultural y Biblioteca Popular Tesis 11, 26/01/2010, URL: http://www.tesis11.org.ar/entrevista-a-martin-kohan-narrar-los-tiempos-del-horror/ (30.01.2013), [Übersetzung A.S]. 154 Dokument, als eine räumliche Operation“491 versteht. Geschichte, so De Certeau, öffne der Gegenwart ihren eigenen Raum. Eine Vergangenheit zu markieren bedeute, dem Toten einen Platz zuzuweisen, aber ebenso, den Raum des Möglichen umzubesetzen. Eben dadurch, dass Carri anderen Erzählungen Raum gibt, tritt sie in einen Dialog zwischen zwei unterschiedlichen Generationen, der ihrer Eltern und der eigenen. Die Interviews mit den Compañeros sind ausschnitthaft oder durch das Videomonitorbild in Carris Zimmer remedialisiert und setzen dadurch deutlich die Haupthandlung in den Raum der Gegenwart und nicht in die Interviewsituation, die die Vergangenheit verhandelt. Raul Beceyro beschreibt, sich auf den Interviewfilm „Cazadores de la utopia“492 [Jäger der Utopie] von Blaustein und Jauretche, beziehend, eine zu den „Los Rubios“ gegensätzliche Zeitlichkeit, eine die in der Vergangenheit verbleibt bzw. die Gegenwart nicht thematisiert: „Der Film hinterlässt den Eindruck, als würden sich die Ereignisse der Vergangenheit im Jetzt verorten. Die Zeugen sprechen so, als wäre die Zeit angehalten, als ob der Moment in dem der Film entsteht (1995), nicht existieren würde.“493 Juan Ignacio Vallejo, der zu Carris Generation gehört, und entsprechend ein Kind von den „Jägern der Utopie“ ist, beschreibt sein Verhältnis zu der militanten Geschichte der Eltergeneration: „Meine Generation hatte den Eindruck zu spät zu dieser Geschichte gestoßen zu sein. Unser Ort war der der Vergangenheit, die wir nicht mehr miterlebt hatten und die wir aber als kontinuierenden politischen Mythos erlebten.“494 Genau an diesem politischen Mythos, von dem Vallejo hier spricht, der sich wie eine Sprache auf die Nachfolgegeneration überträgt, arbeitet sich Albertina Carri ab. Für Gilles Deleuze wird Sprache in erster Linie dazu genutzt, Befehle und Parolen auszugeben. Dies würde schon im Kindesalter antrainiert: „Wörter sind keine Werkzeuge; aber man gibt den Kindern Sprache, Schreibhefte und Hefte, so wie man den Arbeitern Hacken und Schaufeln gibt. Eine Grammatikregel ist in erster Linie eine Markierung der Macht, und erst dann eine syntaktische Markierung.“495 491 Michel de Certeau: L’écriture de l’histoire [Das Schreiben der Geschichte], Paris: Gallimard 1975, S. 26. 492 David Blaustein/Ernesto Jauretche: Cazadores de la utopia, Argentinien: Instituto Nacional de Cine y Artes Audiovisuales (INCAA) 1996. Der Film basiert auf Interviews mit historischen Zeitzeugen, Personen, die die argentinische Militanz aktiv gelebt und überlebt haben und versetzt die Zuschauer_innen in eine andere Zeit, eine die für den Kampf gegen die Militärjunta, die Hoffnung und für eine Utopie auf eine bessere, sozialere und gerechtere Welt steht. 493 Raúl Beceyro: Fantasmas del Pasado, in: Revista Punto de Vista, Nr. 55, Buenos Aires, 08/1996, [Übersetzung A.S]. 494 Juan Ignacio Vallejos: Los Rubios: Intelectuales, Crítica Histórica y Tragedia, 24/03/2006, [Übersetzung A.S]. 495 Gilles Deleuze/Felix Guattari, Tausend Plateaus - Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1999, S. 107. 155 Kinder von Desaparecidos können sich als Medium der verschwundenen Eltern verstehen, dabei bezieht sich die Stimme des Kindes auf die Vergangenheit und behandelt sie wie ein Ornament mit dem Ziel, ein Gedächtnisrelief anzufertigen, das die Desaparecidos zu Protagonisten der Erinnerung macht. Die Kinder stimmen dem elterlichen Diskurs zu und nehmen eine Nebenrolle an mit der Aufgabe, das Repertoire der Ideen der Eltern weiterzutragen. Sie bestätigen den Schmerz und den Verlust der Leerstelle. Die Kinder sind die Nachkommen von den militanten Verschwundenen, mit denen es nicht mehr möglich ist, einen Dialog zu führen. Von diesem unmöglichen Dialog ausgehend, glaubt Vallejos, vor zwei Möglichkeiten zu stehen: das gute Kind, das die Eltern verehrt oder das respektlose Kind, das mit der Autorität streitet, ohne aber den Platz ihrer Vormundschaft streitig zu machen. Albertina Carri hat sich für die zweite Möglichkeit entschieden. 4.2.2.4 Interviews: Befragung von Augenzeugen Albertina Carris Film erinnert ausschnittsweise, wenn sie sich mit dem Kameramann und der Tonfrau auf die Suche nach Zeugen begibt, an eine journalistische Investigation. Vielleicht könnte man den Film sogar in die Nachbarschaft der lateinamerikanischen Testimonio-Literatur (Tatsachenberichte)496 rücken, deren wichtiger und bekannter Vertreter unter anderem der argentinische Schriftsteller Rodolfo Walsh mit seinem Buch „Operación Masacre“497 aus dem Jahre 1975 ist. Grundsätzlich handelt es sich bei TestimonioErzählungen um die Konstruktion einer Erzählung, basierend auf Zeugenaussagen, die sich, im Fall von Walsh, der offiziellen historischen Fiktion (hier finden wir Rancières Fiktionsbegriff wieder) entgegen stellt. „Wenn der Staat seine eigene Geschichte fiktionalisiert, ist es notwendig, das auszusprechen, was der Staat in seiner fiktiven Konstruktion auslässt. Die Politik und die Literatur zeigen an dieser Stelle, dass sie sich der gleichen Mittel bedienen, ein ähnliches Vorgehen, beide erlauben sich zu fiktionalisieren, zu 496 Vgl. hierzu Beispiele von politischen Tatsachenberichten in der deutschen Literatur: 1.) Erika Runge: Bottroper Protokolle, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974. Die „Bottroper Protokolle“ sind aus Gesprächsstenogrammen und Tonbandprotokollen hervorgegangen. Die Bewohner einer kleinen Stadt, die fast völlig von der benachbarten Zeche abhängen, wurden zu ihren Lebensumständen befragt. Um die soziale Stellung dieser Bewohner, überwiegend Arbeiter, deutlich zu machen, übernahm die Autorin ihre Sprache und Ausdrucksweise. 2.) Peter Weiss: Die Ermittlung: Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1965. Die Ermittlung ist ein Theaterstück des Dramatikers Peter Weiss von 1965, das den ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963-65 mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters thematisiert. 3.) Hans Magnus Enzensberger: Das Verhör von Habana, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970. Der Autor bezieht sich auf historische Faktizität und authentischen Wortlaut von einem öffentlichen Tribunal in Habana auf Kuba während der Invasion in der Schweinebucht durch ein Söldnerheer im Auftrag der CIA und der amerikanischen Regierung. Enzensberger hat das Material einem 1000 Seiten langen Tonbandprotokoll von 41 Verhören übernommen. Er wählte zehn davon aus. Er hat das Material bearbeitet und eine Auswahl getroffen. 497 Rodolfo Walsh: Operación Masacre [Das Massaker von San Martín], Buenos Aires: Continental 1964. 156 unterdrücken und zu wiederholen.“498 Im Unterschied zu den „Los Rubios“ konvertiert Walsh erzählende Stimme allerdings in die Stimme des Volkes. Das Volk existiert in Carris Film nicht bzw. taucht nur als gescheiterte Utopie der Eltern auf. Die Nachbarn, die vor Carris Kamera sprechen, verkörpern nicht jenes Volk, von dem Deleuze oder Walsh sprechen (eine sich politisierende Solidargemeinschaft), sondern sie stellen Komplizen der offiziellen Version der Geschichte dar, die nichts wussten und sich nicht die Hände schmutzig gemacht haben, aus ihnen ist schwerlich etwas herauszukriegen. Stefan Nowotny499 beschreibt anhand von Carlo Ginzburgs Text „Just One Witness“500 verschiedene Schwierigkeiten, die sich bei Zeugenaussagen ergeben können. Er bezieht sich auf den Zeugen Dayas Quinoni, der bei der bezeugten Tat selbst nicht physisch anwesend war - und der nur deshalb weil er nicht vor Ort war, als Überlebender, überhaupt Zeugnis ablegen konnte. Die Nachbarn von Carris ehemaligem Elternhaus verhalten sich gegenteilig zu Dayas Quinoni Position, sie waren vor Ort, aber haben, laut Aussage, nichts bemerkt. Theoretisch sind sie die einzigen Personen, die von dem Verschwinden von Carris Eltern hätten berichten können, aber sie erklären Carri vor laufender Kamera, dass sie nicht zu Hause waren. Sie verwickeln sich in Widersprüche und aus dem Verhalten lässt sich schließen, dass sie die Verbrechen des Militärregimes decken und keine Bereitschaft zeigen, bei dem komplexen Fall (ohne gefundenen Körper kein juristisches Delikt), dem Verschwindens ihrer Nachbarn, zu helfen. Jene drei Aufnahmen mit den Nachbarn, die ich zuvor mit dem Vorgehen der journalistischen Investigation verglichen habe, entsprechen dem klassischen Dokumentarfilm, sie erhalten in Carris Film in ihrer ganzen Länge Raum. Die erste Nachbarin lehnt es ab zu sprechen und sagt, sie würde sich an nichts erinnern, allerdings lässt sie mit einigen Äußerungen durchblicken, dass sie mehr weiß als sie zugibt. Die andere Nachbarin, die sich beim zweiten Interview sogar mit MakeUp zurechtgemacht hat, weiß angeblich nur aus Erzählungen anderer, was im Nachbarhaus 1977 vorgefallen war. Das was sie über die ehemaligen Bewohner_innen des Hauses weiß, fällt negativ aus, sie beschreibt sie abwertend als Extremisten, und im Haus war etwas nicht richtig. Sie sagt aus, dass die Militärs bei der Räumung des Hauses Computer rausgetragen hätten, die aber 1977 unmöglich zu dem Inventar eines Privataushaltes gehört haben konnten. Ihre Aussage ist umhüllt von Unwahrheiten und Fehlern. Diese Erzählsituation wiederholt sich mit den Kindern aus der Nachbarschaft, deren Geschichten fantasievoll, unglaubwürdig und fragmentarisch die Jahre des Hauses beschreiben, 498 Guadalupe Lucero/Lucía Laura M. Galazzi: El pueblo que falta. Tensiones estético-políticas entre cine y literatura, in: Afuera estudios de crítica cultural, Nr. 7, 11/2009. URL: http://www.revistaafuera.com/NumAnteriores/pagina.php?seccion=Cine&page=07.Cine.Lucero.Gala zzi.htm&idautor=160,%20161 (30.01.2013). 499 Stefan Nowotny: Affirmation im Verlust. Zur Frage der Zeugenrede, in: EIPCP 05/2008, URL: http://eipcp.net/transversal/0408/nowotny/de (08.08.2013). 500 Carlo Ginzburg: Un seul témoin, Paris: Bayard 2007. 157 in denen sie noch gar nicht geboren waren. Carri gibt diesen fabelartigen Aussagen, die sich als Nachbarschaftmythos bezeichnen lassen, mehr Zeit als die kurzen Sequenzen mit den ehemaligen Wegbegleiter_innen ihrer Eltern. Diesen politischen Widerspruch, hier, dass Carri sich für Fabelgeschichten entscheidet und nicht für die Zeugenaussagen der Kolleg_innen ihrer Eltern, beschreibt Deleuze in „Das Zeit Bild. Kino ll“ wie folgt: „Kulturell betrachtet; befindet sich der Filmemacher vor einem zweifach ‚kolonisierten Volk‘: es ist durch die anders woher kommenden Geschichten kolonisiert, aber auch von den eigenen Mythen, die zu unpersönlichen Einheiten im Dienste des Kolonisators geworden sind. Folglich darf sich der Autor weder zum Ethnologen seines Volkes machen, noch darf er selbst eine Fiktion erfinden, die noch eine private Geschichte wäre: denn jede persönliche Fiktion ebenso wie jeder unpersönliche Mythos findet sich auf der Seite der ‚Herren‘ wieder.501 Die Erzählung der Nachbarinnen als Teil in Carris Geschichte zu integrieren, bedeutet, dass sie sich mit dem eigenen Familienmythos kritisch auseinandersetzt und ihn durch die Geschichte der Nachbarinnen ergänzt. Deleuze spricht in Bezug zum Kino von einem doppelten Werdensprozess. Damit ist das Sich-aufeinanderzu-bewegen von Schauspieler und Regisseur_in gemeint, die versuchen, dabei eine andere Sprache als die vorherrschende zu entwickeln. Carri bestätigt dieses doppelte Werden mit einer symbolischen Handlung der kollektiven Selbstzusschreibung im Schlussbild des Filmes: gemeinsam mit dem Filmteam, das sich während der Produktion in eine Gemeinschaft bzw. in eine Art Familie502 verwandelt hat, laufen sie gemeinsam mit blonden Perücken503 dem Bildhorizont entgegen. In diesem Sinne reafimiert Carri das Anders-sein, Blond-sein ihrer Eltern - das von der Nachbarin als Metapher verwendet wurde, aber von Carri nun in einem neuen, veränderten Kontext gemeinsam mit dem Produktionsteam gesetzt wird. 4.2.2.5 Selbst-Reflexion und Selbst-Referenz „It is not so much a documentary as a fictional film about the making of a documentary, or perhaps a documentary about the making of a fictional film about the making of a documentary.“504 Nach 25 Minuten Filmhandlung sehen wir Analía Couceyro als Albertina Carri einen Brief aus dem Fax-Gerät ziehen. Sie verliest ihn vor laufender Kamera: 501 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino II. Aus dem Französischen von Klaus Entleert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 285. 502 Maria Moreno: Esa rubia debilidad, Página 12, 2003. 503 Perücken, waren im Allgemeinen ein wichtiges Werkzeug für die in der Clandestinidad lebenden Aktivist_innen, es verhalf ihnen, fiktionale Identitäten zu konstruieren, damit sie nicht erkannt werden. 504 A.O. Scott: Personally Political: Fallout from The Dirty War, in: New York Times, 07/04/2004. 158 „Buenos Aires, 30. Oktober 2002 Die Kommission zur Präqualifikation von Projekten hat sich gegen die Aufnahme des Projektes ‚Die Blonden‘ entschieden mit der Begründung, dass das Drehbuch für den Film unzureichend präsentiert wurde. Die Gründe dafür sind wie folgt: Wir glauben, dass dieses Projekt wertvoll ist und fordern in diesem Sinne eine strenge dokumentaristische Überprüfung des Projektes. Die Geschichte, so wie sie formuliert ist, stellt den Konflikt der Fiktionalisierung der eigenen Erfahrung ins Zentrum des Geschehens, da wo der Schmerz die entscheidenden Interpretationen der Fakten vernebelt. Das Beanspruchen „der Abwesenheit der Eltern“ von der Protagonistin, als Dreh und Angelpunkt, verlangt eine ausführlichere Suche nach eigenen Tatsachenberichten, die durch die Beteiligung von übereinstimmenden und differierenden Berichten seitens Kollegen der Eltern ergänzt werden sollte. Dieses Projekt verdient realisiert zu werden, da Roberto Carri und Ana Maria Caruso zwei politisch verpflichtende Intellektuelle der 70er Jahren waren.“505 Folgend sehen wir die einzelnen Mitglieder des Filmteams, Albertina Carri (Regisseurin), Santiago Giralt (Produktion), Jesica Suárez (Ton), Catalina Fernández (Kamera) und Analía Couceyro (Schauspielerin) die einzelnen Punkte der Ablehnung auf Filmförderung besprechen. Das Team ist entschlossen, auch ohne die Produktionsförderung, weiterzumachen, denn für sie steht fest: die Kommission fordert einen anderen Film als den, den sie für richtig halten. Albertina Carri operiert hier mit dem reflexiven Modus506 , den Bill Nichols formuliert hat, in dem sie die Ablehnung der Filmförderung seitens der Institution zeigt. Neben der Absage einer finanziellen Unterstützung des Films verdeutlicht die Ablehnung auch den vorherrschenden Repräsentationsmodus den die Institution fordert und fördert. Carri zieht dem idealisierenden Film-Bild der militanten linken Eltergeneration die Darstellung der eigenen Entwicklung, die durch die Abwesenheit der Eltern geprägt ist vor. „ [...] die Entscheidung, die Vergangenheit nicht zu zelebrieren machte das Ganze unbeweglich [...]. Und das war unerklärbar für Förderer und Produzenten, die das Projekt gelesen hatten. Die Filmgeschichte sollte sich nach Meinung der Filmkommission, 505 506 Albertina Carri: Los rubios, Cartografía de una película, S.18, [Übersetzung A.S]. Bill Nichols: Representing Reality: Issues and Concepts in Documentary, Indiana: University Press 1992. Zitat: „The reflexive mode emphasizes epistemological doubt. It stresses the deformative intervention of the cinematic apparatus in the process of representation. Knowledge is not only localized but itself subject to question. Knowledge is hyper-situated, placed not only in relation to the filmmaker's physical presence, but also in relation to fundamental issues about the nature of the world, the structure and function of language, the authenticity of documentary sound and image, the difficulties of verification, and the status of empirical evidence in Western culture.“ S. 61. 159 um das Verschwinden meiner Eltern drehen und es handelt sich aber in ihrer Version nicht um meine Konstruktion als Individuum mit der Abwesenheit meiner Eltern.“ 507 Pilar Calveiro stimmt Albertina Carri gewissermaßen zu, indem sie zusammenfassend sagt, dass sich die punktuelle Wiederholung der immer gleichen Geschichte im Laufe der Zeit nicht mehr als Triumph der Erinnerung repräsentiert, sondern als ihr Zusammenbruch: „Zum einen trocknet jede Wiederholung einer Erzählung in den Ohren der Zuhörer_innen aus und zum anderen, weil die Erinnerung eine rekreative Handlung der Vergangenheit ist, von der Realität der Gegenwart aus und dem Projekt der Zukunft.“508 Als selbstreflexiven Moment, um die Produktion des Filmes anzukündigen wird in „Los Rubios“, ähnlich wie bei Jordás „Numax presenta...“, mehrmals die Filmklappe eingesetzt. Allerdings, und das ist ein wesentlicher Unterschied zu „Numax presenta...“, befindet sich Albertina Carri bereits als Bildexpertin (Regisseurin) in ihrem Produktionsbereich, hingegen die Arbeiter_innen von der Fabrik Numax einen neuen Raum bilden (den der Filmproduktion). Carri, die immer wieder das Filmteam ins Bild holt und an der Entstehung des Bildes und letzten Endes „sich“ beteiligen lässt, verdeutlicht, dass sich Identität und auch Erinnerung im Dialog mit anderen bildet und sie dies als einen Werdensund Hinterfragungssprozess begreift. Als positive kinematografische Selbstreferenz von Film wählt Carri zwei Filmplakate, die als Dekoration in ihrem Zimmer hängen. In der Szene, in der Analía Couceyro als Carri das Fax vorliest, sehen wir im Hintergrund ein Plakat mit den Augen des Filmemachers Jean-Luc Godard. Nicht nur das Plakat sondern auch die dicke Lesebrille der Schauspielerin markieren Carris direkten Bezug zum französischen Autorenkino, verkörpert durch Godard. Mit der Referenz zu Godard hat Carri automatisch den Bezug zu Godards Untersuchung der Filmgeschichte, der Produktion von Geschichte, Histoire(s) du cinéma 1988-1998 und seinen Film über Film „Sauve qui peut (La Vie)“ von 1980 hergestellt. Die Filmklappe fällt, Analía Couceyro sitzt als Albertina Carri in Carris Zimmer und spricht über die Resultate und Gedanken ihrer Erinnerungs-Forschung, dabei sitzt sie vor einem Poster des Hollywood-Filmes „Cecil B.“ (2000) von John Waters. „Cecil B.“ handelt von einer bekannten Hollywoodschauspielerin (gespielt von Melanie Griffith) die von einem wenig erfolgreichen Independent Regisseur entführt und gezwungen wird, in seinem neuen Film mitzuspielen. Mit den beiden Filmreferenzen (Godards und Waters Film) verweist Carri zum einen auf verschiedene (kinematografische) Produktionsmodi, um das Verhältnis von Wirklichkeit und Film-Realität kritisch oder ironisch zu befragen und zum 507 Albertina Carri: Los rubios, in: Cinecropolis 2000, URL: http://www.cinecropolis.com/notas/honestidadbrutal_c.htm (08.08.2013). 508 Pilar Calveiro: Política y/o violencia, Una aproximación a la guerrilla de los años ´70. Norma, Bs. As. 2005 160 anderen nimmt sie mit den Referenzen direkten Bezug auf die Rolle des männlichen Regisseurs. Im Verlauf des Filmes „Los Rubios“ nehmen die Rolle als Filmemacherin als auch die Rolle als Kind von Desaparecidos eine gleichwertige Position ein. Im gewissen Sinne handelt „Los Rubios“ vom Werden einer Filmemacherin, die ihr eigenes Unbehagen (sich nicht repräsentiert zu fühlen) zum Ausgangspunkt der ersten größeren Produktion gewählt hat. Ausgehend von Albertinas Carris kleinem Produktionsteam, das sie auch Familie nennt, möchte ich an dieser Stelle kurz auf die (größeren) sozialen Bewegungen in Argentinien eingehen, da sie schon während der Diktatur durch die Madres de la Plaza de Mayo grundlegend an der Produktion von einer kritischen Öffentlichkeit und Repräsentation des Staatsterrors beteiligt waren und später wiederum als erste Generation von zivilem Widerstand gegen die Diktatur Ausgangspunkt für viele kinematografische Arbeiten wurden.509 4.3 H.I.J.O.S. Eine soziale Bewegung in Argentinien „ [...] die Menschenrechtsbewegung ist in Argentinien sehr kreativ gewesen, angefangen bei den Madres [Mütter - in diesem Fall die Mütter der Verschwundenen] mit ihren weißen Kopftüchern und ihren Rundgängen um den Platz,510 weil es verboten war sich stehend zu versammeln.“511 H.I.J.O.S. ist eine argentinische soziale Bewegung von Söhnen und Töchtern, deren Eltern während der Militärdiktatur verschwunden sind. Das Wort „Hijos“ bedeutet aus dem Spanischen ins deutsche übersetzt „Kinder“. Bei dem Namen der sozialen Bewegung H.I.J.O.S. stehen die einzelnen Buchstaben für ein Wort und bilden zusammen den Satz „Hijos e Hijas por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio“ [Kinder für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Schweigen]. Im Unterschied zu den organisierten und sich selbstvertretenden Müttern und Großmüttern von Desaparecidos gehören die sogenannten Kinder H.I.J.O.S. von Desaparecido zu einer Generation, die die Militärdiktatur nicht bewusst miterlebt hat und heute zwischen dreißig und Mitte vierzig Jahre alt ist. Am 3. November 1994 organisierte eine Gruppe von ehemaligen Student_innen der Architekturfakultät Universidad Nacional de la Plata eine Erinnerungsveranstaltung zum Gedächtnis an die ermordeten und verschwundenen Student_innen der Fakultät. Für die Veranstaltung wurden im ganzen Land nach Familienangehörigen gesucht, und anschließend organisierte man weiterführende gemeinsame Veranstaltungen 509 Filme von Kindern von Desaparecidos: Botín de guerra (2000) von David Blaustein; (h) Historias cotidianas (2000) von Andrés Habegger; Papá Iván (2000) von María Inés Roqué; H.I.J.O.S, el alma en dos (2002) von Carmen Guarini und Marcelo Céspedes; Figli/Hijos (2003) von Marco Bechis; Nietos - Identidad y memoria (2004) von Benjamín Ávila; M (2007) von Nicolás Prividera, u.a. 510 Plaza de Mayo ist der Platz vor dem Regierungspalast in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires. 511 Ana Pipi Oberlin, Rechtsanwältin und Aktivistin, Kronotop- Interview 2011. 161 mit allen Beteiligten. „Am Anfang wollte man einfach nur zusammen sein, sich kennen lernen und die Erfahrungen austauschen. Aber es entstand dann die Notwendigkeit, etwas zu machen in Bezug zu der Ungerechtigkeit, dass all diese Mörder und Komplizen in Freiheit lebten.“512 Daraus entstand die Idee, überall im Land Gruppen von H.I.J.O.S. zu gründen. Im November 2011 interviewten wir mit Kronotop Ana Pipi Oberlin513 , Rechtsanwältin u.a. von den Madres und Tochter eines verschwundenen Vaters. Sie beschreibt das Unbehagen ihrer Generation. „ [...] Du begegnetest ihnen überall, wenn du in eine Bar gehen wolltest, saßt du auf einmal neben einem dieser Repressoren, das produzierte totale Ohnmächtigkeit und Zorn. Allein die Tatsache, dass dieser Typ wie ein normaler Mensch wahrgenommen wurde und sich ganz normal bewegen konnte, wie alle anderen. Diese Person, die Leute entführt hatte, gefoltert hatte, vergewaltigt hatte, der getötet hatte oder sonst welche schlimmen Gräueltaten begangen hatte durfte am gleichen Ort sein wie Du und niemand wusste, wer er war. Das wurde als gut so empfunden.“514 Oberlin beschreibt auch die ersten praktischen Formen der Sichtbarmachung des Unbehagens. „ [...] Es entstand die Idee der Escraches. Grundlegende Idee war, zum Haus der Repressoren zu gehen und allen zu erzählen, um wen es sich dabei handelt. Als Vorarbeit zu den Escraches wurden alle Nachbar_innen über diese Person informiert. Die meisten in der Nachbarschaft wussten nämlich nicht, wer diese Person war. Und danach veranstalteten wir eine Art Versammlung vor dem Wohngebäude und das Haus wurde markiert: hier lebt ein ehemaliger Repressor und seine Taten wurden konkretisiert: das ist eine Person die 50 Menschen getötet hat, die verantwortlich war für das Verschwinden von Personen oder am Raub der Babys beteiligt war.“515 Die Praxis der Escraches verknüpft die eigene biografische Erzählung mit sozialen und politischen Dimensionen der kollektiven Bewegung und ist für den eigenen Lebensweg wie als auch für die transformierende Funktion der gemeinsamen „Justiz von unten“ [justicia popular] konstituierend. 512 Zitat O.A..: Historia, in: Hijos e Hijas por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio, Homepage. URL: http://www.hijoscapital.org.ar/index.php?option=com_content&view=article&id=19&Itemid=400: (30.01.2013). 513 Kronotop: Videointerview mit Ana Pipi Oberlin, 2011. Unveröffentlicht. [Transkription und Übersetzung A.S.]. 514 Ebd. 515 Ebd. 162 „Der Escrache gebiert eine andere Vorstellung und eine andere Ausübung von Gerechtigkeit, welche der formalen Rechtsprechung diametral und sogar antagonistisch gegenübersteht. Er stiftet dadurch eine neue Praxis und ein neues Konzept von Demokratie. Zunächst gilt: ‚Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es Escrache!‘ Das heißt, dass die Gerechtigkeit nicht von einer sie verkörpernden Institution abhängt, sondern von einer sie herstellenden Aktion.“516 Mit dem Schlusspunktgesetz und dem Gewährungserlass wurde deutlich, dass man über die Politik der repräsentativen Demokratie und das, was mit ihr zusammenhängt, hinausgehen musste. So wurde Politik folglich als nichts anderes verstanden, als die Umsetzung neuer Formen, das Soziale zu verstehen, zu transformieren und zu leben. Foucault beschreibt, dass sich jeder soziale Kampf erst einmal um einen bestimmten Machtherd entwickelt. „Diese Herde bezeichnen, sie anprangern, öffentlich über sie sprechen - das ist bereits ein Kampf. Nicht, weil bisher noch niemand sich ihrer bewusst war, sondern weil es eine erste Umkehrung der Macht ist, ein erster Schritt zu weiteren Kämpfen gegen die Macht, wenn man zu diesem Thema das Wort ergreift, wenn man das Netz der institutionellen Information zerreißt, wenn man Namen nennt, sagt, wer was getan hat, die Zielscheibe angibt. So sind beispielsweise die Reden von Häftlingen oder Gefängnisärzten deshalb Kämpfe, weil sie zumindest für einen Augenblick die Macht, über das Gefängnis zu sprechen, an sich reißen, eine Macht, die heute ausschließlich in den Händen der Administration und ihrer reformerischen Helfershelfer liegt.“517 Die Kämpfe, die Foucault hier nennt, die zum Ziel haben, das „Netz der institutionellen Information zu zerreißen“ beschreiben treffend die Aktionen der Gruppe H.I.J.O.S., deren Aktivist_innen die eigene Biografie zum Ausgangspunkt nehmen, um den offiziellen Gerechtigkeitsdiskurs (Straffreiheit der Repressoren) zu kritisieren, anzuprangern und soziale Gerechtigkeit zu fordern. „ Es geht [...] um ein Öffentlich-Werden, das nicht einfach im Übergang von einem ‚Nicht-öffentlich-Sein‘ zu einem ‚ÖffentlichSein‘ (von der Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit, von der NichtRepräsentation zur Repräsentation) besteht, sondern in der Eröffnung einer Kollektivität in den Zwischenräumen der Repräsentation, die in das öffentliche Leben als soziales Werden 516 Colectivo Situationes: Escrache. Aktionen nichtstaatlicher Gerechtigkeit in Argentinien, Berlin: b_books 2004. S. 14. 517 Michel Foucault/Gilles Deleuze: Die Intellektuellen und die Macht. Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze. in: Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens. Aus dem Französischen von Walter Seither, Frankfurt a. M.: Fischer 1987, S. 309. 163 im Wortsinne interveniert.“518 Auch Stefan Nowotny spricht hier von einem Raum, nämlich von einem Zwischenraum, der sich in der Nähe von Jacques Rancières Subjektraum oder auch Arendts Erscheinungsraum ansiedelt. Die Aktion selbst, die Versammlung, das Organisieren, die Bildproduktion und ihre Installationen werden zu Momenten der Sichtbarwerdung (Erscheinen) eines Unbehagens, das bisher jeder/jede für sich allein gelebt hatte. Im Umfeld von H.I.J.O.S. entstand auch die Grupo de Arte Callejero (GAC), Gruppe für Straßenkunst, deren künstlerische Interventionen weit über das Feld der sozialen Bewegungen hinaus bekannt wurden. GAC nimmt an den Escraches teil und entwickelte ein System von Straßenschildern und Plakaten, das Orte ausweist, an denen Menschen verschwanden, gefoltert und ermordet wurden. Die Straßenschilder von GAC imitieren die gleiche ikonografische Darstellungsweise wie das öffentliche Zeichensystem auf den Straßen, um den Orten Informationen zuzuweisen. In dem Interview, das Kronotop.org mit Mariana Corral von GAC führte, erzählt sie von ihren Erfahrungen bei den Escraches: „Vorher waren die Demonstrationen alle sehr langweilig. Als die Escraches auftauchten wurde mit Musik getanzt, die Produktion machte einfach Spaß und es war zudem eine Veranstaltung, die soziale Gerechtigkeit generierte. All dies bildete eine Form von Selbst-Repräsentation, mit der wir uns identifizieren konnten und die in ihrem Moment auch für uns regenerierend wirkte. [...] Wir waren uns bewusst, dass ein wesentlicher Bestandteil der Escraches das Einbringen unserer eigenen Körper als performative Handlung war und ist. Indem wir Plakate an die Wand brachten, stellten wir ein Zeichen her, das soziale Gerechtigkeit ausübt, denn 10 Meter hinter der Wand lebte einer der Repressoren. Wir sicherten uns immer durch Freunde ab, da die Situation oftmals nicht ungefährlich war. Es war wichtig, die Plakate während der Escraches an die Wand zu kleben, da sich dadurch ein Effekt des SelfEmpowerment ergibt, sich selbst mit der eigenen Perspektive auf die Geschichte zu präsentieren.“519 Das Einbringen der eigenen Körper als kritische Handlung habe ich bereits in dem Kapitel „Kritik verkörpern: Was ist Kritik?“ näher erläutert. Mit der Gegenüberstellung der sozialen Bewegung H.I.J.O.S. (mit u.a GAC) und dem Film „Los Rubios“ möchte ich auf die unterschiedlichen Repräsentationsformen hinweisen, die zum einen innerhalb eines Kunstfeldes (hier Filmproduktion) entstehen und zum anderen direkt im sozialen Umfeld, dem öffentlichen Raum, auf der Strasse, entwickelt werden. 518 Stefan Nowotny: Die Bedingung des Öffentlich-Werdens, in: Republicart, 09/2003, URL: http://www.republicart.net/disc/realpublicspaces/nowotny03_de.htm (30.01.2013). 519 Kronotop: Pensar a la defensiva: Imagen, Memoria, Resonancias (GAC/Mariana Corral), in: Kronotop, 2012, URL: http://www.kronotop.org/folders/gac-grupo-de-arte-callejero-street-art-group-mariana/ 164 4.3.1 Kollektiv vs. Autorin: H.I.J.O.S. und Albertina Carri Judith Butler fragt in „Körper in Bewegung und die Politik der Straße“520 wie eine Gemeinschaft, sie nennt es Vielheit, zustande kommt. Sie geht davon aus, dass durch Gruppenbildung ein Erscheinungsraum entsteht, der aber nur durch Abgrenzungs- und Ausgrenzungsmechanismen zustande kommen kann. Hierzu formuliert sie folgende Fragen: „Wie bildet sich eine Vielheit, und welche materiellen Vorraussetzungen sind für diese Herrausbildung nötig? Wer tritt in diese Vielheit ein und wer nicht, und wie wird darüber entschieden? Können alle und kann jeder so handeln dass dieser Raum zustande kommt?“521 Wie entsteht so ein Erscheinungsraum und wie werden seine Grenzen markiert? Im Fall des Filmes von Albertina Carri bildet sich dieser Raum während des Filmemachens. Allerdings erfahren die Zuschauer_innen nicht, aus welchen Gründen die einzelnen Mitglieder sich an der Produktionsgemeinschaft des Films beteiligen: Ist es das Honorar, ein politisches bzw. solidarisches Interesse, die eigene Betroffenheit, die Freundschaft, oder etwas anderes? Den Mitgliedern der Produktionsgruppe, mit ihren Funktionen als Kameramann, Tonfrau und Aufnahmeleitung, sind konkrete Rollen zugeschrieben, die sich auf die Organisation der Filmproduktion beziehen und nicht auf die Thematik der Desaperecidos. So gesehen ist Albertini Carri als Betroffene, deren Leben verfilmt wird und als Regisseurin des Films auch diejenige, die wesentlich über die Gruppe entscheidet. „Eine politische Position bildet sich nicht unbedingt als logische Folge spezifischer persönlicher Erfahrungen, dem Betroffen-Sein, sondern entwickelt sich erst durch kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen.“522 Diese kritische Auseinandersetzung findet innerhalb des Filmteam von Albertina Carri statt, nämlich als das Team die Ablehnung der offiziellen Filmförderung erhält. In dieser Szene wird deutlich, dass die Gruppe trotz der Absage und ohne Geld weiterproduzieren will, um sich gemeinsam gegen einen vorherrschenden Erinnerungsdiskurs über die Desaparecidos zu positionieren. Dazu im Gegensatz basiert die Gruppe H.I.J.O.S.523 auf dem Zusammenschluss von Betroffenen, Familien oder Freunden. 520 Judith Butler: Körper in Bewegung und die Politik der Straße. Aus dem Englischen von Thomas Laugstien, in: Luxemburg. Magazin zu Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 4/2011, S. 110-122. S.114. Butler bezieht sich in ihrem Text auf die Occupy-Bewegung in den USA. 521 Ebd. 522 Decolorise it! Diskussion Die Rezeption von Critical Whiteness hat eine Richtung eingeschlagen, die die antirassistischen Politiken sabotiert, in: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 575 / 21/09/2012, URL:http://www.akweb.de/ak_s/ak575/23.htm 523 Homepage der sozialen Bewegung H.I.J.O.S: URL: www.hijos.org.ar (09.09.2013). 165 Warum wird der Film „Los Rubios“ der sozialen Bewegung H.I.J.O.S. gegenübergestellt? Sowohl die Aktivist_innen von H.I.J.O.S. als auch Albertina Carri nehmen eigene biografische Koordinaten und Unbehagen zum Anlass, um zu intervenieren, allerdings operieren sie jeweils auf unterschiedlichen Ebenen. Während die konkreten persönlichen Geschichten der einzelnen Personen von H.I.J.O.S. hinter dem Namen der Gruppe verschwinden, um eine gemeinsame Geschichte zu bilden, stellt Albertina Carri, mit ihrem Namen und Selbstreferenzen die eigene Geschichte und Erfahrung in den Vordergrund. Der Name Carri ist nicht nur der eines Kindes von Desaperecidos, sondern auch der einer professionellen Filmemacherin. „Als H.I.J.O.S. auftauchte haben sie mich nicht interessiert. Es ist nicht das was ich zu sagen hatte. [...] Mich interessierte der fordernde Ton nicht und der Name hat mich auch abgeschreckt. Ich will nicht mein ganzes Leben lang KIND sein [...] Ich will viele andere Sachen sein und dazwischen bin ich auch mal KIND von [...].“524 Carri agiert auf der Ebene der kinematografischen Repräsentation, während H.I.J.O.S. direkt auf der Strasse, in der Nachbarschaft, in der Gesellschaft interveniert. Die Filmemacherin, im Unterschied zu H.I.J.O.S., appelliert nicht an die Strafverfolgung der Täter oder die soziale Gerechtigkeit, sondern konzentriert sich ganz auf die Konstruktion der eigenen Geschichte, ihrer Identität und die Repräsentation. „Einige Personen halten es für notwendig, militant zu werden und andere halten es für notwendig, einen Film zu machen. In der Tat, einer der Gründe, warum ich nie bei H.I.J.O.S. teilnahm ist, dass ich das Gefühl hatte, dass es nicht so leicht ist den eigenen Schmerz mit dem Schmerz von anderen zu identifizieren. In diesem Sinne bin ich sehr allein geblieben. Ich empfinde keine Ähnlichkeit in der persönlichen Geschichtsaufarbeitung mit anderen, auch nicht mit denen, die aus ihrem Leben als Kind von Verschwundenen einen Film gemacht haben.“525 Carri versucht, sich eine Stimme zu geben, damit der individuelle Schmerz über die Leerstelle nicht in einer Vielheit von Geschichten und Erfahrungen anderer Kinder untergeht. Sie reklamiert das Recht auf Individualität, sie will nicht die Geschichte erzählen sondern (nur) ihre. Während bei der Gruppe H.I.J.O.S. das InGemeinschaft-Bringen von Schmerz und Wut die Basis für kreative Aktionsformen bilden, ist es bei Carri das Erforschen von Repräsentationsmöglichkeiten, die außerhalb einer institutionellen Vorgabe liegen. 524 525 Maria Moreno: Esa rubia debilidad, 19/10/2003, [Übersetzung A.S]. Albertina Carri: Los rubios, Cartografía de una película, Buenos Aires: BAFICI 2007. S. 111, [Übersetzung A.S]. 166 H.I.J.O.S. und der Film „Los Rubios“ intervenieren mit jeweils unterschiedlichen künstlerischen Mitteln und an verschiedenen Orten. Albertina Carri und das Filmteam agieren innerhalb des Kino-Dispositivs, sie modifizieren gewohnte und gewünschte Repräsentationsformen der Desaparecidos, ihre Arbeit wird von Kinobesucher_innen, Filmkritiker_innen besprochen, kritisiert und kommentiert. Die Aktionen von H.I.J.O.S. und GAC finden in bestimmten Stadtteilen statt und intervenieren in der Nachbarschaft von ehemaligen Repressoren. Sie gehen an die Orte, die Unbehagen bereiten und machen aus den Ortsbesuchen politische Ereignisse, an denen jede/r teilnehmen kann. Hierfür werden Poster, Straßenschilder und Informationszettel entworfen. Das bekannteste Straßenschild der Gruppe GAC ist das weiße runde Verbotsschild, auf dem in der Mitte eine Militär-General Mütze ikonografisch abgebildet ist. Überall wo dieses Schild installiert wurde, wohnen ehemalige Repressoren. Auf diese Weise wird gezeigt, dass sie in der Nachbarschaft unerwünscht sind. Albertina Carri, die sich überwiegend auf die kinematografische Repräsentationsform konzentriert und hier Unterbrechungen herstellt, lässt sich mit Jacques Rancières Definition der „Politik der widerständigen Form“ in Verbindung setzen, während die Aktionen von der Gruppe H.I.J.O.S. und GAC auf der Straße tendenziell der „Politik des Lebens-Werdens der Kunst“526 entsprechen. Im dritten Teil dieser Arbeit gehe ich näher auf diese zwei von Rancière definierten Politiken der Ästhetik ein. 5. Immaterielles oder von der unsichtbaren Arbeit Bildeten Repräsentationspraktiken der Sichtbarmachung von den staatsterroristischen Verbrechen in Argentinien der Verschwundenen den Schwerpunkt im letzten Kapitel, möchte ich nun auf die Unsichtbarkeit der Produktion selbst und ihre Bedingungen eingehen. Damit beziehe ich mich auf das Arbeitsparadigma des Postfordismus, in dem längst nicht mehr nur tangible Produkte in den Fabriken herstellt werden. „Mit einem Personalcomputer und einem Handy ist jeder Mensch ein Betrieb für sich und zwar ein Dienstleistungsbetrieb. Und gegen seinen Computer kann er nicht streiken, weil er im Grunde genommen alleine vor seinem Bildschirm sitzt und oft gar nicht weiß, wer sein Auftraggeber ist.“527 „Wie lässt sich die Arbeit von Freischaffenden repräsentieren, wie ihre physische Zermürbung nach langjähriger Bildschirmarbeit sichtbar machen?“ fragte Sergio Bologna vor einigen Jahren in einem Interview.528 526 Jacques Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik. Aus dem Französischen von Richard Steurer, Wien: Passagen 2008, S.55. 527 Sabine Grimm/Klaus Ronneberger: No Past? No! Ein Interview mit dem italienischen Postfordismusanalytiker Sergio Bologna, in: springerin, Heft 4/2001, S. 22. 528 Sabine Grimm/Klaus Ronneberger: Eine unsichtbare Geschichte der Arbeit. Interview mit Sergio 167 „Auf um 6.30 Uhr: Kaffee vor dem Computer, Mails, Toilette, Mails, Kaffee, Texte schreiben, Handy, Mails, Texte schreiben, der Postbote klingelt, Post, Kaffee, die Zeitung trifft ein, [...] es ist 24 Uhr; Mails, SMS, Bett.“529 Während es in der fordistischen Ära eine lange Tradition der Industrie- und Arbeiterfotografie gab, die die vielfältigen Formen der Ausbeutung dokumentierte, scheinen die Tätigkeiten der neuen Selbständigen visuell kaum repräsentierbar zu sein. Auch die Strategien und Taktiken, mit denen sie den Zwängen begegnen, die sich aus ihrem Status ergeben, sind bislang Teil einer eher „unsichtbaren Geschichte der Arbeit“530. Der Umstand, dass hier nach Formen der SelbstRepräsentation gesucht wird, erleichtert die Sache nicht gerade. „Wie die Hausarbeit der Frauen, die vor dem Feminismus sozial unsichtbar war und deshalb in der Leistungsbilanz der Gesellschaft unberücksichtigt blieb, so ist auch die relationale Arbeit der selbständigen Arbeiterinnen unsichtbar, also nicht in der Leistungsbilanz eingeschrieben und definitiv nicht als inhaltliches Element der Tätigkeit anerkannt.“531 Es geht also um die Sichtbarmachung oder auch Vermittelbarkeit von einem Zustand der verkörperten Prekarität der immateriellen Arbeit, der sich nicht so einfach repräsentieren lässt, da er sich durch Beziehungen, Fragmentierungen und Flüchtigkeiten in viele Richtungen ausbreitet. „ [...] Arbeit ist immateriell, [...] wenn sie körperlich und affektiv ist, insofern als ihre Produkte unkörperlich und nicht greifbar sind: ein Gefühl des Behagens, des Wohlergehens, der Befriedigung, der Erregung oder der Leidenschaft, auch der Sinn für Verbundenheit oder Gemeinschaft. Begriffe wie inperson services oder services of proximity, also etwa persönliche Dienstleistungen und fürsorgliche Arbeit, werden häufig verwendet, um diese Art der Arbeit zu kennzeichnen. Doch im Grunde geht es um die Erzeugung und Handhabung von Affekten.“532 Helmut Draxlers These533 ist, dass die Filmproduktion selbst als paradigmatisches Beispiel herangezogen werden kann, um die postfordistischen Produktionsweisen zu definieren: die Verschmelzung von Leben, Beziehungen, Arbeit und Bologna, in: springerin, 1/2007, URL: http://www.springerin.at/dyn/heft.php?id=50&pos=1&textid=1904&lang=de (10.08.2013). 529 Marina Gržinić zitiert nach Sabeth Buchmann, in: Konzeptkunst in Arbeit, Vorlesung: Kunstraum an der Leuphana Universität Lüneburg 2010, S. 2. 530 Sabine Grimm/Klaus Ronneberger: Eine unsichtbare Geschichte der Arbeit. Interview mit Sergio Bologna, 1/2007. 531 Sergio Bologna: Die Zerstörung der Mittelschichten, Wien: Nausner & Nausner 2006, S. 11. 532 Michael Hardt: Affektive Arbeit, in: Jungle World Nr. 2, 02/01/2002, URL: http://jungle-world.com/artikel/2002/01/24688.html (31.01.2013). 533 Vgl. Helmut Draxler: Ohne Dogma - Time Code als Allegorie der gesellschaftlichen Fabrik, in: Marion von Osten (Hg.): Norm als Abweichung, Zürich: Springer 2003, S. 139-159. 168 Repräsentation ist ihrer Organisationsstruktur immanent. Arbeiter_innen, die immaterielle Güter produzieren, müssen kommunikativ, affektiv und interaktiv sein. Alle drei Eigenschaften betreffen den ganzen Menschen und verstricken das individuelle und das soziale Leben mit dem allgemeinen Produktionsprozess. Das instrumentelle Handeln in der ökonomischen Produktion verschmilzt mit dem kommunikativen Handeln in den zwischenmenschlichen Beziehungen.534 Antonio Negri, der den Begriff von der immateriellen Arbeit prägte, bezieht sich auf neue Arbeitsformen und -strukturen, die mit den veränderten Ökonomien einhergehen, u. a. mit der Folge, dass neue Arbeits-Subjekte entstehen, deren persönliches, soziales und intellektuelles Vermögen integrierter Bestandteil des Produktionsprozesses wird. Schon im Maschinenfragment, auf das sich Theoretiker wie Negri beziehen, schrieb Karl Marx, dass die Arbeit in Zukunft immaterieller sein wird, das heißt, dass sie immer mehr von intellektuellen und wissenschaftlichen Fähigkeiten abhängt, die sie zugleich auch konstituiert. Paolo Virno sieht bereits in der von Adorno und Horkheimer definierten „Kulturindustrie“ („Dialektik der Aufklärung“1), den Vorläufer der zukünftigen Lebens- und Produktionsformen. Virno hat recht behalten: Sprache, Kommunikation, Kooperation, Intelligenz und Affekte bestimmen heute wesentlich die neuen Produktivkräfte. Die tayloristische Disziplin, die unmittelbar auf die arbeitenden Körper wirkte und deren Resultat tangible Produkte in Serie waren, wird nun grösstenteils ersetzt durch die Produktion von Kommunikation, Wissen, Symbolen, kooperativen und affektiven Arbeitenweisen. Gehäuft finden wir die Protagonist_innen der immateriellen Arbeit allerdings in den klassischen Bereichen der kulturellen Produktion: in audiovisuellen Industrien, der Werbung, im Marketing, der Mode, im Computersoftwarebusiness. Diese Beschäftigungstypen sind vor allem durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Hyperausbeutung, hohe Mobilität und hierarchische Abhängigkeiten gekennzeichnet. Mit den Neologismen „Kognitariart“535 (Boutang), „Prekariat“536 (Foti), „Creative Class“537 (Florida), „kommunikativer Kapitalismus“538 (Jodi Dean), „kultureller 534 Carolin Wiedemann: Selbstvermarktung im Netz, Eine Gouvernementalitätsanalyse der Social Networking Site ‚Facebook‘, Saarland: Saarland University Press 2010. s.54. 535 Yann Moulier-Boutang: Marx in Kalifornien: Der dritte Kapitalismus und die alte politische Ökonomie, in: BpB. Bundeszentrale für politische Bildung 5/2002, URL: http://www.bpb.de/apuz/25813/marx-in-kalifornien-der-dritte-kapitalismus-und-die-altepolitische-oekonomie?p=all (02.07.2013) 536 Alex Foti: MAYDAY, MAYDAY! Flex Workers, PreCogsund das europäische Prekariat. Aus dem Italienischen von Markus Griesser/Sylvia Riedmann, in: EIPCP, 04/2005, URL: http://eipcp.net/transversal/0704/foti/de (10.08.2013). 537 Richard Florida: The Rise of the Creative Class: And How it’s transforming work, leisure, community and everyday life, New York: Perseus Book Group 2002. 538 Jodi Dean: Communicative capitalism: circulation and the foreclosure of politics, in: Cultural Politics, Volume 1, Issue 1, London: Berg, S. 51-74. 169 Kapitalismus“539 (Rifkin), „Immaterielle Arbeit 2.0“540 (Mark Cote und Jennifer Pybus), „Free labor“541 (Terranova) u.a. versuchen Theoretiker_innen diese Produzent_innen von immaterieller Arbeit mit unterschiedlichen theoretischen Schwerpunkten und Perspektiven in gemeinsame Gruppen zusammenzufassen.542 5.1 Zu dem Verhältnis von der Ent-Materialisierung in der Kunst und der immateriellen Arbeit Der in den 1960er Jahren entstandene kritische Nährboden durch Bürgerrechts-, Anti-Vietnam-, Frauen- und Gegenkulturbewegung veranlasste Künstler_innen, sich gegen etablierte Ausstellungsbedingungen der Galerien und Institutionen aufzulehnen und die Kunst alternativen Lebensentwürfen bzw. unmittelbar mit der Lebens- und erfahrungswelt zu verbinden: concept art, happening, feminist art, land art, arte povera, body art, fluxus und Videokunst eröffneten neue Praktiken, die traditionellen Medien und Formate zu verändern. Die Praxis, die herkömmlichen Materialien zu verlassen, den Realisierungsprozess einer Idee zu outsourcen und den Schwerpunkt der Rezeption auf intellektuelle Fähigkeiten zu verlegen, fassten Lucy Lippard und John Chandler in ihrem gemeinsamen Text von 1967543 als Tendenz der Dematerialisation (bzw. der Entmaterialisierung) gegenüber dem klassischen Kunstobjekt zusammen. Aus heutiger Sicht nahmen einige der Arbeitsweisen von Konzept-Kunst die Funktionsweisen der postfordistischen Organisation bereits vorweg. „As more and more work is designed in the studio but executed elsewhere by professional craftsmen, as the object becomes merely the end product, a number of artists are losing interest in the physical evolution of the work of art. The studio is again becoming a study.“544 Auch Duchamps frühe Readymades skizzieren bereits, wie sich immaterielle bzw. intellektuelle Arbeit des Künstlers veräußern könnte, so dass sie als solche vom 539 Jeremy Rifkin: The Age of Access: The New Culture of Hypercapitalism: The New Culture of Hypercapitalism, Where All of Life Is a Paid-for Experience, Los Angeles: Tarcher 2001. 540 Mark Coté/Jennifer Pybus: Social Networks: Erziehung zur Immateriellen Arbeit 2.0, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld: Transcript 2011. S. 51-75. 541 Tiziana Terranova: Free Labor: Producing Culture for the Digital Economy, in: Social Text, Nr. 2, Vol. 18, 2000, S. 33-57. 542 Viele der hier genannten Neologismen verweisen direkt auf die hegelsche bzw. marxsche Dualität in der sich grundsätzlich zwei Positionen gegenüberstehen, bzw. Kapitalist und Proletarier. Damit ordnet sich die theoretische Auseinandersetzung automatisch innerhalb einer linken Tradition an. Darin liegt aber auch grundsätzlich der Widerspruch, nämlich, dass sich die gegenwärtige Situation nicht einfach in Gegensätze aufspalten lässt, sondern vielmehr aus einem wirren Beziehungsnetzwerk besteht. Bereits in den zwanziger Jahren machte Gabriel Tarde auf die reduzierte Form von der Kapitalismuslogik aufmerksam, die sich nur auf zwei Klassen bezog und beharrte auf komplexere Verbindungslinien. Das erklärt auch den Erfolg der Foucaultschen Therorie mit den Machtdispositiven und Regierungsbeziehungen. Die Postoperaisten reaktivierten Marx Kapitalismuskritik im Zusammenspiel mit Foucaults Theorie. 543 Lucy Lippard/John Chandler: The Dematerialization of Art, in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.): Conceptual Art: A Critical Anthology, Mass. Cambridge: MIT Press 1999. 544 Ebd., S. 46. 170 Betrachter wahrgenommen wird. Die ausgestellten Readymades präsentieren drei unterschiedliche Aspekte von Arbeit: zum einen die der Arbeiter, die in der Fabrik den Gegenstand herstellen (productive labour), dann die Verbindung die der Künstler zwischen Alltagsgegenständen und Kunstkontext herstellt (relacional and intellectual labour) und zum anderen, die intellektuelle Arbeit des Betrachters, nämlich dass er den Gegenstand in einem Kunstraum als Kunst zu identifizieren vermag. Lippard weist, in ihrem später reflektierenden, sehr persönlichen Vorwort „Escape Attempts“ zu dem Buch „Six Years: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972“545 darauf hin, dass Konzeptkunst aus zwei Richtungen kam: „art as idea and art as action“546 . Sie definiert unterschiedliche Tendenzen innerhalb der Konzeptkunst und positioniert sich als politisch (feministisch und links orientierte) Kunstkritikerin547: Sie versteht die Entmaterialisierung der Kunstobjekte, als politische Intervention und gesteht der Konzept-Kunst zu, dass sie Randgruppen ermöglicht, mit relativ kosten-unaufwendigem Material Kunst zu produzieren.548 Lippards Schreibtischarbeit, wie sie in „Escape Attemps“ ausführt, nähert sich der künstlerischen Produktion an: „Conceptual art, with its transformation of the studio into a study, brought art itself closer to my own activities.“549 Sie thematisiert, neben der Demokratisierung des Zugangs von Konzept-Kunst, auch das Problem der Exklusion von Konzept-Kunst-Besucher_innen. Intervenieren durch verbale und textuelle Strategien machen die Konzept-Kunst zwar politisch, nicht aber für alle lesbar. Die Kommunikation zwischen Menschen wurde dem Kommunizieren über Kommunikation untergeordnet. Lippard beobachtet, dass es in der Konzeptkunst wesentlich um Kommunikation geht, nicht aber darum, kommunizierende Gemeinschaften550 zu bilden. Die Formen und Materialien der Konzeptunst waren zwar allgemein vertraut, jedoch nicht ihr Inhalt. „Der ‚Bürolook‘ konzeptueller Präsentationen und die Arbeitsumgebung, [ist] einem großen Teil der Museumsbesucher aus verschiedenen Bereichen vertraut.“551 Der Inhalt dieser konzeptuellen Arbeiten konzentrierte sich trotz der ästhetischen Vertrautheit sehr oft auf kunstimmanente Themen und ist aus diesem Grund einem 545 Lucy Lippard: Six Years: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972, Berkeley: University of California Press 1997. 546 Ebd., S. xi 547 Ganz im Gegensatz zu Ad Reinhardt, Zitat Lucy Lippard: „ [...] the Reinhardtian attitude remained that art was art and politics were politics and that when artists were activists they were acting as artist citizens rather than as esthetic arbiters.“ Ebd., S. 22. 548 Zitat Lucy Lippard: „The inexpensive, ephemeral, unintimidating character of the Conceptual mediums themselves (video, performance, photography, narrative, text, actions) encouraged women to participate, to move through this crack in the art world's walls.“ Ebd., S. 23. 549 Ebd., S. 22. 550 Zitat Lucy Lippard: „Communication (but not community) and distribution (but not accessibility) were inherent in Conceptual art. Although the forms pointed toward democratic outreach, the content did not. However rebellious the escape attempts, most of the work remained art-referential, and neither economic nor esthetic ties to the art world were fully severed (though at times we liked to think they were hanging by a thread). Contact with a broader audience was vague and undeveloped.“ Ebd., S. 31. 551 Thomas Dreher: Konzeptuelle Kunst in Amerika und England zwischen 1963 und 1976, Frankfurt a. M./Bern/ New York/Paris: Lang, 1988, S. 30. 171 breiteren Publikum oft nicht zugängig. Der technologische Aspekt von immaterieller Arbeit in künstlerischer Produktion wurde Ende der 60er Jahre in zwei großen Ausstellungen thematisiert. Beide Ausstellungen waren beeinflusst von der technologischen Entwicklung, Computern, Informationstheorie und den Ideen einer künftigen Mensch-MaschineSymbiose. Mit dem plakativen Titel „Information“ (Museum of Modern Art in New York, 1970) und „Software, Information technology: its new meaning for art“ (Jewish Museum New York, 1970) kündigten die Ausstellungen an, dass es sich um Kunstwerke handelt, deren Produktionsprozesse sich nicht mehr mit herkömmlichen, medienspezifischen Kategorien definieren ließen. Für den kuratorischen Leiter Jack Burnham, der unmittelbar die Verbindung von Konzeptkunst und Software Art herstellt, bildet die Konzept-Kunst ein privilegiertes Terrain, das Formen der Kommunikation entwickelt, die dazu befähigen könnten, den Anforderungen neuer Informationsverarbeitungssysteme gerecht zu werden. Inwieweit bildete die Waren- und Spektakel-Kritik Anknüpfungspunkte für neoliberale Produktionsformen? der 1960er Jahre Der Begriff des Umherschweifens, „le dérive“, der Gruppe der Situationistischen Internationale (S.I.) bezieht sich auf ihr räumliches und konzeptionelles Vorgehen zum Erforschen der Stadt in den frühen sechziger Jahren. Durch den „Derive“, entwickelte die S.I. - „ein kritisches Bewusstsein des spielerischen Potentials urbaner Räume und ihrer Möglichkeiten, neue Wünsche zu erwecken.“552 Der Buchtitel „Umherschweifende Produzentinnen, Immaterielle Arbeit und Subversion“553 von 1998 kündigt die Richtung an, die der Begriff des Umherschweifens im postfordistischen Produktionsparadigma nehmen wird: prekäre Beschäftigung, hohe Mobilität unter scheinbar selbstbestimmter und nicht abhängiger Arbeit mit unternehmerischer Entscheidungsfreiheit. Die S.I. trat aber seiner Zeit an, um die getrennten Kontexte von Kunst und Politik zu verbinden und der Totalität des entfremdenden kapitalistischen Alltagslebens neu hergestellte Situationen entgegenzusetzen. Die von ihnen verwendeten experimentellen und spielerischen Techniken zielten darauf ab vorgefundene Formen der Kultur, vor allem aus der Werbung ihren ursprünglichen kapitalistisch ausgerichteten Sinnzusammenhang zu entziehen und umzuformulieren. Aus heutiger Sicht können ihre Praktiken der Kommunikations-Guerilla oder dem Kulturjamming zugeordnet werden. Die S.I. intervenierte mit Wort, Bild und direkter Aktion und trug dazu bei gewohnte Wahrnehmungsweisen des Warenalltags zuzerstören und „sich gegen die herrschende Architektur des 552 Libero Andreotti/Xavier Costa (Hg.): Theory of the Derive and other situationist writings on the city, Barcelona Museu d'Art Contemporani 1996, S. 17. 553 Antonio Negri/Maurizio Lazzarato/Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin: ID 1998. 172 kapitalistischen Urbanismus zur Wehr zu setzen.“554 Die Kunst selbst sollte dermaßen in das Leben integriert werden, sodaß sich nicht mehr zwischen Kunst und Leben unterscheiden ließe: künstlerisches Tun und Denken sollte nicht mehr in kunstfeldimmanente Formarte gepresst werden sondern zur allgemeinen künstlerischen Gestaltung der gesamten Lebenswelt in der Gesellschaft beitragen. Daraus entstünde dann automatisch die Abschaffung des speziellen Feldes der Kunst als besondere Kategorie. Die Grenze zwischen Produktions- und Freizeit war aufzulösen. Arbeit sollte nicht länger als Last und Unterwerfung empfunden werden. Die Praktiken des ungezielten Umhervagabundierens oder Sich-Verlaufens wurden künstlerisch erforscht und dokumentiert. In „Die Gesellschaft des Spektakels“555 [La société du Spectacle] von Guy Debord dreht sich alles um den Begriff des Spektakels. Das Spektakel vereint alle gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen und politischen Prozesse einer modernen Industrienation im ausgehenden 20. Jahrhundert. In der Welt des sogenannten Spektakel ist bereits alles konfiguriert bzw. programmiert, unsere Rollen in der Gesellschaft sind von vornherein festgelegt und vorgeschrieben. Selbst die Opposition des Spektakels hat in der Lebenswelt des Spektakels eine eingeschriebene Rolle. „Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt haben, verschmelzen in einen gemeinsamen Lauf, in dem die Einheit dieses Lebens nicht wiederhergestellt werden kann. Die teilweise betrachtete Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudo-Welt, Objekt der bloßen Kontemplation. Die Spezialisierung der Bilder der Welt findet sich vollendet in der autonom gewordenen Bildwelt wieder, in der sich das Verlogene selbst belogen hat. Das Spektakel überhaupt ist als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen.“556 Realität würde, so Debord, in der Gesellschaft des Spektakels hinter einer Scheinwelt von Werbung und anderer kunstvollgestalteter Propaganda verschwinden und gänzlich unsichtbar werden. Da diese Scheinwelt aber für die Realität eintritt würde sie als wahr empfunden werdem und mache sich real in allen Winkeln des Lebens bemerkbar. Das habe zur Folge, das Realität nur über artifizielle Repräsentationsformen wahrgenommen würde und man sich auch nur über diesen künstlichen Ersatz verständigen könnte. „Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bildervermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen 554 Grigat Stephan/Johannes Grenzfurthner (Hg.): Spektakel - Kunst - Gesellschaft: Guy Debord und die Situationistische Internationale, Berlin: Verbrecher Verlag 2006. S. 16. 555 Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Aus dem Französischen von Wolfgang Kukulies, Berlin: Tiamat Verlag 1996 556 Ebd., S. 1. 173 Personen.“557 Die hier im Zitat der Spektatelkritik formulierte Funktion der Bilder als Bindeglied zwischen Personen nimmt gewissermaßen das Internet vorweg und in dem Kapitel „Die Lebensline: Facebook“ werde ich diesbezüglich den Zusammenhang von der Verquickung von Repräsentation, Leben und Produktion näher ausführen. Die Entmaterialisierung des Kunstobjekts, als auch der Spektakelbegriff der S.I. und ihre Praktiken, die sich vorgenommen hatten Lebens-Zeit und Welt umzuformen skizzierten hier kurz die Verbindungslinien zur Unsichtbarkeit der Produktion und ihrer Produkte. Inwieweit künstlerische Praktiken (bspw. die Konzept-Kunst) und Forderungen (nach einer authentischen, freien und selbstorganisierten Lebensform) und die technologischen Experimente der Medienkünstler_innen nur eine (kritische) Antwort auf die sich formierende kapitalistische Informations- und Dienstleistungsgesellschaft waren oder die gegenwärtige neoliberale Politik (mit) hervorgebracht haben, lässt sich an den genannten Referenzen nicht eindeutig ablesen. Ich gehe davon aus, dass künstlerische Produktion kein Gegenbild zu allgemeinen Formen von Arbeit darstellt. Vielmehr hat es den Anschein, dass künstlerische Schaffensprozesse, angesichts der jüngsten Wandlungen im Kapitalismus, als fortschrittlichster Ausdruck innovativer Produktionsprozesse und Arbeitsbeziehungen gelten. Hinsichtlich der These, dass Arbeit allgemein durch Kritik558 bzw. subversive Praktiken und die scheinbar eingelöste Forderung der 68iger Generation nach mehr Selbstbestimmung nicht nur immaterieller, sondern kreativer und auch subjektiver geworden ist, kommen die Autor_innen Boltanski/Chiapello,559 Illouz560, Virno561 , Bologna562 , Menger563, Lazzarato564, Buchmann565 und von Osten566 zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen. In wieweit wurde die künstlerische Kritik selbst Teil von Regierungsinstitutionen? 557 558 Ebd., S. 3. Kritik, die sich gegen die Ausbeutung der fordistischen Massenarbeiter _innen richtete. 559 Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Michale Tillmann, Konstanz: UVK 2003. 560 Eva Illouz: Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism. Oxford: Polity Press 2007. 561 Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen. Aus dem Italienischen von Thomas Atzert, Berlin: ID 2005. 562 Vgl. Sergio Bologna: Die Zerstörung der Mittelschichten, 2006. 563 Pierre-Michel Menger, Profession artiste: Extension du domaine de la création, Paris: Textuel 2005. 564 Vgl. Maurizio Lazzarato: Die Missgeschicke der „Künstlerkritik“ und der kulturellen Beschäftigung. Aus dem Französischen von Stefan Nowotny, in: EIPCP, 01/2007, URL: http://eipcp.net/transversal/0207/lazzarato/de (03.09.3013). 565 Vgl. Sabeth Buchmann: Under the Sign of Labor, in: Alexander Alberro (Hg.): Art After Conceptual. Cambridge/Wien: MIT Press 2006, S. 179- 195. 566 Vgl. Marion von Osten: Kulturelle Arbeit im Post-Fordismus, in: Trend. Onlinezeitung. Hintergründe & Gegenstandpunkte, 12/01, URL: http://www.trend.infopartisan.net/trd1201/t321201.html (03.09.2013). 174 Hito Steyerl beschreibt in „Die Institution der Kritik“ drei Entwicklungsphasen der Integration der Kritik und ihrer Repräsentation innerhalb des Bereiches der Kunst bzw. der Kunstinstitution: „Wo [...] die erste Welle der Institutionskritik Integration in die Institution [...] produzierte, gelang der zweiten Welle höchstens die Integration in die Repräsentation. Aber in der dritten Phase scheint die einzige Integration, die leicht errungen werden kann, jene in die Prekarität zu sein.“567 Steyerls Analyse der ersten Phase der Institutionskritik beschränkt sich zwar auf den institutionellen Kulturbereich, jedoch steht dieser, so muss hinzugefügt werden, auch im Zusammenhang mit den sozialen Bewegungen Ende der sechziger Jahre, die ausgehend vom Widerstand gegen den Vietnamkrieg und von den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen eine breite allgemeine Institutionskritik (Presse, Ehe, Schule, Universität, Krankenhaus, Fabrik, Kolonisation etc.) hervorgerufen haben: Es ging um die Kritik an der Unterdrückung in der Familie, in der Fabrik, in der Universität bzw. allgemein die Unterdrückung, hervorgerufen durch autoritäre Strukturen. Hito Steyerls formulierte zweite Phase der Institionskritik bezieht sich auf einen Personenkreis, der in den achtziger Jahren wichtige Positionen in der Wirtschaft und der Politik erhalten hatte und deren Protagonist_innen im Kontext der 68erProteste sozialisiert wurden und nun das Erbe antraten – allerdings nicht im Sinne der ursprünglichen politischen Vorstellungen und Forderungen, aber im Rahmen der politischen Repräsentation ihrer Werte. Die Betonung dieser Werte liegt auf Autonomie, Kreativität, Spontanität, Individualität, Mobilität, die Neigung zum Informellen und Kommunikativen, die Fähigkeit, sich zu vernetzen. Mit dem Einzug und der Integration von Minderheitenpolitiken in die Institutionen begann, so Steyerl, die zweite Phase der Veränderung im Verhältnis von Kritik und Institution, nämlich die Transformation von Institutionskritik in Repräsentationskritik: „In diesem Sinne wurde die materielle Vertretung durch symbolische Darstellung ersetzt.“568 Die neue Beziehung von Institution und Kritik sei dem zufolge eher symbolisch als denn materiell. „Während man [...] sagen könnte, dass die früheren InstitutionskritikerInnen entweder in die Institution integriert wurden oder nicht, muss man das Fazit ziehen, dass die InstitutionskritikerInnen der zweiten Generation nicht in die Institution integriert wurden, sondern in die Repräsentation als solche.“569 Die dritte Phase ist Resultat aus den zwei vorherigen. Die Institutionen haben grundsätzlich Interesse an Kritik und der Darstellung von Minderheiten, allerdings 567 Hito Steyerl: Die Institution der Kritik, in: EIPCP, 01/2006, URL: http://eipcp.net/transversal/0106/steyerl/de/print (31.01.2013). 568 Ebd. 569 Ebd. 175 nur auf der Darstellungsebene ohne Strukturveränderung, als Ressource eines Kunstdiskurses, der auf Wissensproduktion, Research, post- und dekolonialen Gender- und Queer- etc. Konzepten aufbaut. Auf diese Weise werden zwar auf der einen Seite die Kritiker_innen von prekarisierten Lebensverhältnissen integriert, aber auf der anderen Seite werden genau die flexiblen Arbeitsstrukturen, die kritisiert werden, reproduziert (temporäre Projekte, kurzfristige Zu- oder Absagen, ungeregelte Arbeitsverhältnisse, teilweise unentlohnt, ohne Absicherungen). 5.2 Welche Unbehagen gehen mit der immateriellen Produktion einher? Der Anfang dieses Textes begann mit dem Unbehagen der Fabrikarbeiter_innnen, deren Arbeits- und Lebensalltag durch körperliche Schwerstarbeit und dem Mangel an Abdeckung der Grundbedürfnisse geprägt war. An dieser Stelle wird es nun um die Unbehagen gehen, die Resultat der immateriellen Produktionsverhältnisse sind. Im Zusammenhang von immaterieller Arbeit und gegenwärtigen Lebensbedingungen wird oft von Prekarisierung570 gesprochen. Als zusätzliche Prekarität, die zu dem allgemeinen „Prekär-Sein“571 des Lebens noch hinzukommt, bezeichne ich die ungleiche Verteilung der Ressourcen, die sich durch Machtkonstellationen auf unterschiedliche Gruppen und Individuen auswirken, indem bestimmte Leben als prekärer als andere befunden werden. Judith Butler führt diese Ungleichheit auf zwei Bestimmungskriterien zurück, einer Materiellen und der Wahrnehmung, dass nicht alle Leben als betrauerbar und dementsprechend wertvoll gelten.572 „Das nicht betrauerbare Leben ist das Leben, das nie als Leben angesehen wurde, und ist somit auch das unlebbare Leben.“573 Auch der französische Soziologe und Philosoph Pierre Bourdieu bezieht sich, wenngleich aus anderer Perspektive als Butler, auf eine durch die sozialen Machtkonstellationen erst hergestellte Prekarisierung der Lebensverhältnisse. Bourdieu (1998) thematisierte „die Prekarität (als) Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen.“574 Dem von mir hervorgehoben Wort Unsicherheit sind wir bereits im Eingangszitat von Mareike Teigeler begegnet: 570 Das französische Wort précarité wurzelt in dem lateinischen Adjektiv precarius, das nicht nur unsicher bedeutet (die häufigste Übersetzung ins Deutsche), sondern auch vorübergehend, notdürftig, auf Widerruf gewährt, durch Bitten erlangt. Im Mittellateinischen trägt es die Bedeutung in Lehnsabhängigkeit. (Duden, lateinisch-deutsch, 10. Ausg., Leipzig: Taschen Heinichen 1980). 571 Vgl. Judith Butler: In Prozesse von Prekarisierung eingreifen, in: DAS ARGUMENT 281, Heft 3, 2009, S. 434. Butler definiert ein grundsätzliches Prekär-Sein des Lebens, das durch Krankheit und Tod gefährdet ist und das ohne Bedarf an Obdach, Nahrung, oder ohne Abhängigkeit zur Gemeinschaft und Arbeit nicht lebensfähig ist. 572 Ebd, S. 434. 573 Ebd., S. 436. 574 Pierre Bourdieu: Prekarität ist überall. Aus dem Französischen von Andreas Pfeuffer, in: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz: UVK 1998, S. 96-102. 176 „Unbehagen stellt sich ein, wenn Bezugsrahmen verschwinden, wenn ein unsicheres Terrain beschritten wird, das keine Anknüpfungspunkte bietet. [...] Einen Ort der Unsicherheit, einen Ort der Irritation.“575 Die neuen Arbeitsbeziehungen, die erst einmal durch positive Eigenschaften wie Flexibilität, Kommunikation, Selbstorganisation und Eigenverantwortung bestimmt werden, weisen aber auch negative Aspekte auf: Unsicherheit, permanente Abrufbarkeit, Selbstverschuldung, Erschöpfung, u.a. Sie werden seit einigen Jahren als Prekarisierung der Lebensverhältnisse zusammengefasst. Die Unsicherheit bezieht sich auf die projektorientierten Arbeitsaufträge, die im Gegensatz zu der Festanstellung die Arbeitnehmer_innen ohne geregelte Arbeitsverträge und rechtliche Absicherungen auf sich selbst stellt. In ihrem Text „Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus. Oder: wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?“576 stellen Vassilis Tsianos und Dimitris Papadopoulos eine Liste von Merkmalen verkörperter Erfahrung von Prekarität auf, die ich hier ausschnitthaft wiedergebe: „ (a) Verletzlichkeit: die ständige Erfahrung der Flexibilität ohne jegliche Form des Schutzes; (b) Hyperaktivität: den Imperativ, sich ständig verfügbar zu halten; (c) Gleichzeitigkeit: die Fähigkeit, zur selben Zeit verschiedene Geschwindigkeiten und Rhythmen multipler Aktivitäten zu bewältigen; (d) Rekombination: die Kreuzungen zwischen verschiedenen Netzwerken, sozialen Räumen, und verfügbaren Ressourcen; [...] (g) Unruhe: dem Überfluss an Kommunikation, Kooperation und Interaktivität ausgesetzt zu sein und zu versuchen, damit umzugehen; (h) Unbehaustheit: die kontinuierliche Erfahrung der Mobilität über verschiedene Räume und Zeitlinien hinweg; (i) affektive Erschöpfung: emotionale Ausbeutung oder Gefühle als wichtiges Element der Kontrolle der Verwendbarkeit und multipler Abhängigkeiten [...]“577 Wir befinden uns in einem Feld der Unsichtbarkeit, auf dem sich immaterielle Arbeit und ihre negativen Eigenschaften wie bspw. Unsicherheit, Verletzbarkeit, und Einsamkeit ausbreiten, um in folge als Stress, Überforderung, Depression und Burn-out in Erscheinung zutreten. „Welche Instrumente stehen Dir zur Verfügung, um mit der Dir ungerecht erscheinenden Situationen umzugehen? Können wir Prekarität als gemeinsame Bezeichnung für unsere verschiedenen und singulären Situationen verwenden? Wie können wir nach gemeinsamen Namen suchen und 575 Mareike Teigeler: Unbehagen als Widerstand: Fluchtlinien der Kontrollgesellschaft bei Helmuth Plessner und Gilles Deleuze, S. 264 und S. 4. 576 Vassilis Tsianos/Dimitris Papadopoulos: Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus Oder: wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?, in: EIPCP, 10/2006, URL: http://eipcp.net/transversal/1106/tsianospapadopoulos/de (31.01.2013). 577 Vassilis Tsianos/Dimitris Papadopoulos: Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus Oder: wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?, in: EIPCP, 10/2006, URL: http://eipcp.net/transversal/1106/tsianospapadopoulos/de (31.01.2013). 177 gleichzeitig Singularitäten anerkennen, Allianzen bilden und dabei Unterschiede verstehen? “578 Diese und andere Fragen, die im Folgenden immer wieder auftauchen werden, bilden im nächsten Kapitel den Ausgangspunkt, um die Gruppe Precarias a la deriva aus Madrid vorzustellen. 5.3 Die umherschweifenden Prekären: Precarias a la deriva „Sprechend und reflektierend, die Videokamera und das Aufnahmegerät in der Hand, zogen wir los mit der Hoffnung, die Erfahrung und die Hypothesen, die wir daraus gewinnen würden, weitergeben zu können, wobei wir unsere eigene Kommunikation nicht nur als Mittel der Verbreitung, sondern als primäres politisches Material ernst nahmen.“579 Die situationistische Methode des Umherschweifens hat die Madrider Gruppe Precarias a la deriva 2003 für ihr Forschungsunternehmen reaktiviert und in den theoretischen Diskurs über prekäre Arbeitsformen als praktische Aktionsform eingesetzt. Sie haben die Praxis des durch den Zufall geprägten Umherschweifens des Flaneurs, des klassisch männlich bürgerlichen Subjekts, um einen situationsbetonten kollektiven femininen „Derive“ erweitert. Er führt sie durch die alltäglichen Räume der Teilnehmer_innen und anderer Prekarisierter und operiert mit dem Interviewgespräch als gemeinsame Schärfung der Wahrnehmung der Umgebung. In gewisser Weise begegnen wir an dieser Stelle Frigga Haugs Vorgehen des Besichtigens wieder, das eigene Leben gemeinsam mit Anderen besichtigen, um herauszufinden, was darin im Einzelnen geschieht. Beschränkt sich Haugs Ansatz jedoch auf das sprachliche, theoretische und das gemeinschaftliche Durcharbeiten, verlassen die Precarias a la Deriva die textuelle Ebene und begeben sich in den Stadtraum um prekäre feminisierte Arbeit580 zu untersuchen. „Uns interessiert eine Kommunikation, deren Äußerungen am Boden bleiben, von einem spezifischen Ort aus erfolgen, mit den Lebensformen, aus denen sie hervorgehen, unauflöslich verbunden sind und als ProduzentInnen von Subjektivität und Imaginärem fungieren.“581 578 Precarias a la deriva: Streifzüge durch die Kreisläufe feminisierter prekärer Arbeit. Aus dem Spanischen von Therese Kaufmann, in: EIPCP, 2004, URL: http://republicart.net/disc/precariat/precarias01_de.htm (31.01.2013). 579 Precarias a la deriva: Streifzüge durch die Kreisläufe feminisierter prekärer Arbeit, 2004. 580 Unter feminisierter Arbeit werden Arbeitsbereiche zusammengefasst, die herkömmlicherweise als typische Frauenarbeit stigmatisiert wurden und im Rahmen der Entwicklung zur sogenannten Informations- und Dienstleistungsgesellschaft auch z.B. Büro- und Pflegearbeit mit einbeziehen. 581 Precarias a la deriva: Frauen der Precarias a la deriva: Fragen, Illusionen, Schwärme, Meuten und Wüsten. Zu Untersuchung und Militanz der Precarias a la deriva, in: Grundrisse,Nr. 38. Zeitschrift für linke Theorie und Politik, 2004, URL: http://www.grundrisse.net/grundrisse38/fragen_illusionen_schwaerme_meuten_und_wuesten.htm 178 Ausgehend von der Erfahrung, sich als Prekarisierte582 bei dem spanischen Generalstreik vom 20. Juni 2002 nicht vertreten zu fühlen, bildete sich die Gruppe, um andere Aktionsformen zu erforschen und dem ursprünglich proklamierten Motto „Wir sind alle prekär“ genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Frage „Was ist dein Streik?“ wurde zum Motor, um Antworten und Praktiken zu suchen, die die Positionen von Personen, die nicht der klassischen Arbeiter_innen-Identität entsprachen zu markieren. Das Video „A la deriva, por los circuitos de la precariedad femenina“583 [Das Umherschweifen in den Kreisen der weiblichen Prekarität], das die verschiedenen Stationen der „Derives“ und die unterschiedlichen Aufnahmeformate audiovisuell zusammenfasst, entspricht in seiner fragmentierten Form dem Inhalt: Flexibilität und Flüchtigkeit, oftmals sind es die Stimmen der Sprechenden aus den Interviews, die die unterschiedlichen Bildästhetiken zusammenführen und zu einer Erzählung von vielen Stimmen vereinen. Verknüpfendes Bildelement bilden die Aufnahmen von Bahnfahrten, das Vorbeigleiten an Werbeflächen oder die gemeinsamen Spaziergänge durch die Stadt und den Alltag der befragten Personen. Im Bild des Transits, der Bewegung, der Flüchtigkeit, repräsentieren die Precarias a la Deriva auf diese Weise die Unsicherheit des flexiblen Arbeitsalltags und des prekären Lebens, den sie bei den gemeinsamen „Derives“ aufzeichnen. Die Praxis der „Derives“ konzentriert sich auf das Schaffen von Situationen und nicht auf das Konstruieren von bildästhetischen Momenten für die Kamera. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den anderen Filmbeispielen, die wir bisher vorgestellt haben, die größtenteils mit dem Aufführen konkreter Situationen für die Kamera operieren. „Die Deriva ermöglicht es, den Alltag in seiner politischen Dimension und als Ausgangspunkt von Widerstand zu verstehen, indem sie von der Erfahrung als epistemologischer Kategorie ausgeht. In diesem Sinne ist Erfahrung kein voranalytisches Konzept, sondern der zentrale Begriff, um die Strukturen täglichen Handelns und, was noch wichtiger ist, die Art und Weise zu verstehen, in der dem Alltag in seiner räumlichen und körperlichen Dimension Sinn gegeben wird. Es handelt sich nicht um eine Technik des Beobachtens im engeren Sinn, es wird nicht versucht, abzubilden, zu reproduzieren und sich so an die reale Erfahrung anzunähern.“584 Der repräsentative Charakter der „Derives“ und des Befragens von Beteiligten und Betroffenen manifestiert sich in keinem homogenen Stellvertreter_innen-Bild, (01.02.2013). Prekarisierte bezieht sich hier auf Arbeitslose, Pfleger_innen, Sexarbeiter_innen, Sozialarbeiter_innen, Freelancer_innen, Übersetzer_innen, Designer_innen, Journalist_innen, Forscher_innen, Professor_innen, Reinigungskräfte, Student_innen, Vagabund_innen 583 Precarias a la deriva: A la deriva, por los circuitos de la precariedad femenina [VHS] Madrid: Eskalera karakola 2003. 584 Precarias a la deriva: Projekt und Methode einer militanten Untersuchung. Das Reflektieren der Multitude. Aus dem Spanischen von Kathrin Herold/Peter Tabor, in: Sindominio.net, o.A., URL: http://www.sindominio.net/karakola/antigua_casa/precarias/precarias-fertig.htm (01.02.2013). 582 179 sondern konstruiert einen situationsbezogenen prozesshaften sozialen Raum. Die Praxis des Fragens dient dazu, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, die kennzeichnend sind für die Fülle von Singularitäten, die oft verstreut, einander unbekannt existierend, nebeneinanderliegend Merkmale gegenwärtiger Realität prekärisierter Arbeit definieren. Grundlegende Motivation der Gruppe war, der Vereinzelung und der Privatisierung von Unbehagen, hervorgerufen durch die neuen Arbeitsbedingungen, zu begegnen und mit der Praxis des Aus-Sich-Herausgehens Zwischenräume zu bilden, die der Individualisierung zum Trotz nach Überschneidungen von gemeinsamen Unbehagen suchen und sie formulierbar machen. „Aus sich herausgehen heißt, die Distanzen zu überwinden, die ein hyperfragmentierter, hypersegmentierter und hyper-kompetitiver sozialer Raum allenthalben vervielfältigt; es bedeutet den Versuch, Fragen zu stellen und sich Fragen zu stellen, um zu sehen, was passiert, wie die Anrede das Ich und das Du affiziert, wenn aus dem Zwischenraum etwas auftaucht, das in beiden und darüber hinaus widerhallt.“585 Mit dem Vorgehen, den eigenen Alltag als Dreh- und Angelpunkt für das Konstruieren von neuen Situationen auszuwählen und die eigene Subjektivität mit ins Spiel zubringen griffen die Precarias a la Deriva die feministische Praxis wieder auf, in der das Persönliche politisch wurde, die Mikro- und Makroebenen verbunden sowie die Theorie nicht mehr von der Praxis trennbar war. Auf die Weise erklärten die Precarias den eigenen Alltag den Kampf an. Die Gruppe ging anfangs von einer sehr vagen Definition von Prekarisierung aus. Basis bildete das Diskutieren über die Verschiedenheiten in ihren Leben in denen sich aber gemeinsame Eckpunkte in Bezug auf Zeit (Stress, die Unmöglichkeit zu planen, Instabilität, Überarbeitung, Intensivierung, Anhäufung), Raum (Mobilität, Grenzen, Ortsveränderungen, Sesshaftigkeit), Einkommen (materiell-unsichere Situation, Mangel an Zugang zu öffentlicher Versorgung, Instabilität) Kommunikation, Beziehungs- und Versorgungsnetze, Konflikte, Hierarchie, Risiko (Unsicherheit, Verletzbarkeit) und Körper (Disziplin, körperlicher Missbrauch, Lust) festmachen ließen. Das Erarbeiten der Kollektivität von der Gruppe und die performative Methode der „Derives“, das Kartographieren von Lebens- und Arbeitslinien, die durch die Stadt verlaufen und das gemeinsame Besichtigen des singulären Unbehagens, der fragmentierten, flexiblen und flüchtigen Arbeitssubjekte stellt einen kollektiven Raum her. Das Video dient als Diskussionsgrundlage um diesen Raum zu erweitern. Der Film ist online, ebenso die meisten Texte zu und von der Gruppe Precarias a la Deriva.586 585 Precarias a la deriva,: Fragen, Illusionen, Schwärme, Meuten und Wüsten, Zu Untersuchung und Militanz der Precarias a la deriva Frauen der Precarias a la deriva, 2004. http://www.grundrisse.net/grundrisse38/fragen_illusionen_schwaerme_meuten_und_wuesten.htm 586 Der Film der Precarias a la deriva ist Online mit deutschen Untertiteln: 180 5.4 Wer fürchtet sich vor immateriellen Arbeiter_innen? Der Film „Echt-Zeit“ von Maria Ruido Unter dem Titel „Wer fürchtet sich vor immateriellen Arbeiter_innen? “587 stelle ich nun folgend den Film „Tiempo Real“588 (Echt-Zeit) von Maria Ruido vor. „Obwohl unser Leben in Echt-Zeit stattfindet sind für uns zeitliche Ausslassungen im Film viel natürlicher und selbstverständlicher als Echt-Zeit-Sequenzen geworden. Die üblichen Erzählungen im Film sind voll von Auslassungen, die haben sich als absolut normal eingebürgert. [...] Echt-Zeit im Film ist schwer zu ertragen. [...] In dem Moment, in dem ich den Film "Tiempo Real" produzierte, erschien es mir interessant auf Echt-Zeit als Metapher zurückzugreifen, als eine unangenehm empfundene Zeitstruktur, die mit der Arbeit der Kulturproduzent_innen zu tun hat, aber in kinematographischer Form, weil es [...] von dem Unbehagen innerhalb des kapitalistischen Systems erzählen kann.“589 In dem 1975 von Chantal Akerman gedrehten Film „Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“590 sitzt die Protagonistin Jeanne Dielman minutenlang frontal zur Kamera und schält Kartoffeln. Diese Szene taucht fragmenthaft und verlangsamt in Maria Ruidos Film „Tiempo Real“ wieder auf. Sie hat die quälende Echtzeit der verrichtenden Hausarbeit von Jeanne Dielman verlangsamt angeeignet und gleichzeitig gekürzt (geschnitten, fragmentiert). Mit diesem Vorgehen nimmt Ruido historischen Bezug auf das vorausgegangene Repräsentationsformat (die Echtzeit-Einstellung von Chantal Akerman) und einer klassischen Form von immaterieller Arbeit (Hausarbeit). „I believe that traditional dramatic forms can no longer work for new contents. I mean the language of images. The decoding of this language varies according to the era.“591 Ruidos Verwenden von der Szene mit Jeanne Dielman verweist, meiner Meinung nach, auf ein Szenario, das außerhalb des Filmbildes liegt und der Situation der Künstlerin selbst entspricht: die Filmemacherin, als Kulturproduzentin von immaterieller Arbeit am Montagetisch. Am Schneidetisch oder an ihrem Personal Computer fügt sie die einzelnen Fragmente des Filmes zusammen. Der Montage-Ort könnte das Atelier, die Küche, URL: http://en.labournet.tv/video/6204/drifting-circuits-female-precarity?caption=ger (01.02.2013). Vgl. Text von Vassilis Tsianos/Dimitris Papadopoulos: Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus. Oder: wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?, 2006. 588 María Ruido: Tiempo Real, [DVD], Spanien: Fundació La Caixa 2003. 589 Kronotop: Tiempo Real…(Maria Ruido), in: Kronotop.org. Plattform für Videointerviews über Kunst, Politik und Aktivismus, 2010, [Transkript Kronotop], URL: http://www.kronotop.org/folders/maria-ruido/ (09.09.2013). Siehe auch Transkription im Anhang 590 Chantal Akerman: 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles, [DVD], Frankreich: Diana Elbaum 1975. 591 Maria Ruido: Real time. Images, words and political praxes from the bodies of precariousness: notes for a discourse theory, in: word and works. Homepage der Künstlerin, 2003, URL: http://www.workandwords.net/en/projects/view/488, (01.02.2013). 587 181 der Schreibtisch oder ein Filmschnittzentrum sein. Vergleichbar mit Dielmans Tätigkeiten, die Zutaten für das anzurichtende Essen einzuholen, arrangiert (dis)organisiert und (re)okkupiert Ruido das unterschiedliche Material des Videos, (Archivaufnahmen, aus dem Internet downgeloaded oder aus einem Archiv entliehen, die Interviews, die Fotos in den Strassen, die Aufnahmen der Baustellen). In ihrem vorherigen Film „Memoria interior“ (Inneres Gedächtnis)592 taucht tatsächlich ein solches Bild auf. Ruido sitzt mit einem Notizbuch am FilmMontagetisch und zeigt uns den Ort, an dem die Herstellung des Videos stattfindet. „Memoria interior“ entspricht viel eher den Merkmalen eines klassischen autobiografischen Films, da sie sich mit ihrem eigenen Leben beschäftigt bzw. der Abwesenheit ihrer Eltern, die als spanische Arbeitsimmigranten in Fabriken in Deutschland arbeiteten, während die Filmemacherin selbst mit ihren Geschwistern überwiegend bei den Großeltern in Galizien aufwuchs. Anhand von Fotos, Briefen, Interviews und Begehungen der Orte, an denen die Eltern gearbeitet haben, beschreibt sie die Probleme und Sorgen ihrer Kindheit und Jugend, die durch die Abwesenheit der Eltern geprägt war. Kritisch beschreibt sie, wie das Nachkriegsdeutschland, die spanischen Arbeitsimmigrant_innen zögerlich empfing und als Randgruppen isoliert in Arbeitskolonien steckte. Sie geht der sehr persönlich erscheinenden Frage nach, an welchem Ort verbrachten meine Eltern die meiste Zeit ihres Lebens? Ruidos Untersuchung beschreibt mehr als nur den nicht bekannten Ort der Fabrik und den familiären Zusammenhang. Sie stellt im gleichen Moment eine Geschichte der spanischen Arbeitsimmigration in Deutschland dar, die zu weiten Teilen dem Nachkriegsdeutschland erneut zu einer mächtigen Wirtschaftsposition verholfen hat. „Tiempo Real“ kann als eine Fortsetzung mit der Beschäftigung von der Geschichte der Arbeit gesehen werden, allerdings mit dem Unterschied, dass sich der autobiografische Raum nicht explizit im Ablauf des Filmes entfaltet, sondern Ruido uns ihre Gedanken und Überlegungen zu den momentanen prekären Arbeitssituationen, nämlich denen der Kulturproduzent_innen, in der Gegenwart einführt. Hierfür bündelt sie eigene Überlegungen und die anderer Künstler_innen, Frauen und Autor_innen, um die Merkmale der gegenwärtigen Arbeitssubjekte und ihre Lebensbedingungen vorzustellen. Sie selbst übernimmt dabei die Rolle der Fragenstellerin und der Kommentatorin, und ihre Stimme verbindet Texte anderer Personen, die insgesamt zu einem polyphonen Ich der Filmemacherin werden. Wiederholt hinterfragt sie die Möglichkeiten der Intervention bzw. Politisierung durch Filmbilder. Der Film besteht aus verschiedenen Elementen, Archiv-Fotos von Innenaufnahmen von Fabrikarbeiter_innen, Videoaufnahmen des ehemaligen Industriegebiets Poble Nou in Barcelona, das gegenwärtig zu einem Hightech- und Loftviertel umgemodelt wird, und Interviews (u.a. mit der befreundeten Gruppe Precarias a la Deriva, dem Künstler_innen Duo Marta de Gonzalo und Publio Pérez Prieto, der Künstlerin-Kollegin Laurence Rassle, etc.). Außerdem fügt Ruido, wie bereits erwähnt, an verschiedenen Stellen Ausschnitte aus Chantal Akerman Film “Jeanne 592 María Ruido: Memoria Interior, [DVD], Spanien: Ministerio de Cultura 2002. 182 Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles” ein. Kronotop: „Reproduzierst Du nicht mit dem Setting, das Du für die Produktion des Films gewählt hast, genau das was Du kritisierst?“ Maria Ruido: „Vielleicht. Es ist zwar wahr, dass nicht alle Personen die als Befragte im Film vorkommen, Freundinnen sind, aber ich bin über diese Netzwerke von Freundinnen, in denen wir uns permanent bewegen, jeweils zu den befragten Frauen gestoßen. Ja genau, im Grunde kann man das so sagen: ich verwende dieselben Mechanismen, die ich kritisiere. Ich glaube, in einem Film gibt es keine Kritik, es gibt keine Alternative, ich wüsste nicht, welches die Form sein könnte die man etablieren könnte, die die Grenzen von Arbeit und Leben so wie wir es leben, bewältigen. Ich kenne persönlich niemanden, der eine totale Trennung von seiner Arbeit und seinem Leben praktiziert, aber in unserm Fall ist es sehr heftig, da es unsere Beziehungen betrifft, die sich unmittelbar in Arbeit verwandeln, produktiv gemacht werden [...] dass wir unsere eigenen Freunde oder Familie (aus) nutzen, um zu arbeiten oder die Art und Weise wie wir Leben mit ihnen in Arbeit übersetzen. Ich vermute diese Situation macht das transparent…das, was wir hier gerade machen [das Interview]…das wird später reproduziert.“ Maria Ruidos Essayfilm stellt ein entsprechendes Beispiel zu Hito Steyerls eingangs erwähntem Text „The Essay as conformism, some notes in global image Economies“ dar und zu ihrer Frage, inwieweit das Essay mit seiner komplexen, oft geschichteten, fragmentierten und subjektiven Form im gewissen Sinne perfekter weise die neoliberalen Subjekte reproduziert, die es beschreibt. Der Ausschnitt, unseres Interviews mit Ruido und Hito Steyerls These, dass wir durch bestimmte künstlerische Formen (in diesem Fall das filmische Essay) die postfordistischen Bedingungen reproduzieren, die wir gleichermaßen kritisieren und adressieren wollen, führt uns das Dilemma der Ausweglosigkeit593 von gegenwärtiger Kapitalismuskritik und ihren künstlerischen, subversiven Widerstandsformen vor Augen: Heterogenität (bspw. des Materials oder der versammelten Stimmen), Fragmentiertheit, Protokollierung, relationale Arbeit und permanente Differenzierung entsprechen den Produktionsprozessen in der neoliberalen Logik des Kapitalismus. 593 There Is No Alternative war der politische Slogan der britischen Premierministerin Margaret Thatcher Anfang der achtziger Jahre und markierte den Beginn ihrer Politik durch wirtschaftsliberale Reformen wie die Privatisierung von Staatsunternehmen nach den Formeln der so genannten „Chicago-Boys“ (Milton Friedman, Friedrich August von Hayeks etc.) und verdeutlicht die politische Situation, die sich nach dem Berliner Mauerfall und dem endgültigen Zerfall des Sozialismus in der Sowjetunion als post-politische Situation zuspitzt: es gibt, laut Vertreter_innen der neoliberalen Politik, keine Alternative zum Kapitalismus. 183 Lose definiert, stellt der Neoliberalismus eine politische Ordnung im Kapitalismus dar, die dem Freihandel und den offenen Märkten größt mögliche Privilegien einräumt; die sich zu einer Maximierung der Machtposition des privaten Sektors in Bezug auf die Festlegung von Prioritäten entwickelt hat und zu einer Schwächung der Rolle des Öffentlichen, des Sozialen und der Funktion des Staates als Schutz bzw. Regulierungsorgan. Diese Regierungsform, der nun auch keine sozialistische Regierungsform mehr gegenübersteht, hat auf radikale Weise die geopolitische und soziale Landkarte der letzten dreißig Jahre verändert und auch die Ausrichtung von sozialen bzw. avantgardistischen ehemals linken Bewegungen. „There is no strong ideology, there is no real power with differences to the strong ideology, and in fact there is no clear vision of artistic avantgarde, so all the components of this history have disappeared. So the temptation is that in every field where we create something, we decide that the field is by itself also a political one. And I think all our problem today is to refuse this tempation, is my position. To refuse this position and to say that certainly, art, work of art can be a subjective anticipation of some political event. [...] Art can be a preparation, a subjective preparation to the reception of a political event, because art is really an effective subjective process, the transformation of subjectivity.“594 Badiou appelliert an die Künstler_innen, sich dieser ausweglosen Situation zu stellen und sie zu politisieren. Frühestens seit Seattle 1999 und spätestens seit 2011 wird die dominierende Regierungsform des globalen Wirtschaftskapitals von sozialen Bewegungen, künstlerischen Formen und vielen tausend Menschen öffentlich kritisiert. „I think it’s a necessity to create the common space. The first common space was precisely the existence of strong ideology and strong organizations. In the absence of all that the common space must be a practical common space, a real proximity. And so I think the artists must search and find the form of a concrete relationship with some local political experiences which exist today. [...] This could be the mobilizaiton of minorities, could be what you want. But I think itʼs not possible to be at a distance from all that. We have a new imperative for artists, for possibility of militant art, which is to be in effective relationship with all that. In fact my proposition for this first point is to substitute an ideological proximity by concrete or real proximitiy. In the abscence of the strong ideology we must be really near to the local experiences in the field of politics [...]“595 594 Alain Badiou: Does the Notion of Activist Art still have a Meaning? in: Katherine Pickard: Transkription des Videos von der Veranstaltung „A Lacanian Ink Event“ in der Miguel Abreu Gallery New York, 2010, URL: http://www.lacan.com/thesymptom/?page_id=1580 (01.02.2013). 595 Ebd. 184 Unter dem gemeinsamen Nenner No nos representan (Die repräsentieren uns nicht) versammelten sich 2011 tausende von Personen auf den Hauptplätzen in ganz Spanien. Doch wer sind „Sie“ und wer sind „Wir“ und in welcher Beziehung steht das „Wir“ zu dem „Ich“ und dem Unbehagen über die gegenwärtige Wirtschaftskrise? Lässt sich dieses „Wir“ (selbst-)repräsentieren? Um welche Form(en) von Unbehagen handelt es sich? Bevor ich zu der Untersuchung von gegenwärtigen, künstlerischen und politischen Selbst-Repräsentationen übergehe, die sich mit den vorherigen Fragen auseinandersetzen müssen, setze ich den Fokus auf die These, dass das Private, das einst als politisches Motto eine gesellschafttransformierende Wirkung hatte, Teil der neoliberalen Wirtschaftspolitik geworden ist. 6. Ökonomisierung des Privaten „Big Brother„ ist eine konsequente Fortsetzung von '68, meint Rainer Langhans, Begründer der Kommune 1.“596 Es gibt viele Beispiele von neuen technologischen Medienformaten audio-visueller und narrativer Selbst-Repräsentation, in denen das Persönliche in die Öffentlichkeit tritt, reproduzierbar und käuflich wird: Reality Shows, Webcams, Chat Foren im Internet, Videoplattformen, Life-Talks, Handy-Aplikationen etc., alles dreht sich um die Kommunikation und die Darstellung von persönlichen Geschichten, sei es Beziehung, Schönheit, Vorführen von Kuriositäten, etc. Auch die in den vergangenen Jahren auftauchenden Markennamen von Produkten wie ipad, ipod, imovie, itunes597 , Youtube etc. verweisen darauf, dass sich alles um die Wiedergabe eines „I“ [Ich] dreht oder um die Personalisierung eines Produktes, das sich auf die eigenen Bedürfnisse zuschneiden lässt. 6.1 Die Bildagentur Plainpicture: „In Wahrheit ist nur die Wirklichkeit spannender“ Das erste Beispiel konzentriert sich auf die Bildwerdung des privaten Lebensumfeldes und ist ein Projekt, das in meinem nahen kollegialen Umfeld entstanden ist. Drei ehemalige HfbK-Kunsthochschulabsolventen gründeten die Online-Datenbank Plainpicture mit Fotos, die authentisch sind. Von dem Beispiel ausgehend, das zeigt wie das Private marktkompatibel wird, geht es direkt in die Blogosphäre mit dem Fokus auf das Social-Media Unternehmen Facebook. „In Wahrheit ist nur die Wirklichkeit spannender“598 Mitten in den Wehen des Dotcomcrash und der Finanzkrise gründeten 2000 die 596 Christa Ritter: Das ist eine utopische Situation, in: Die Welt, 06/11/00, URL: http://www.welt.de/print-welt/article542435/Das-ist-eine-utopische-Situation.html (01.02.2013). 597 Vgl. die Produktserie von Macintosh- Computer: O. A. : iLife, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, 17/07/2008, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/ILife und http://www.apple.com/de/ilife/ (01.02.2013). 598 Plainpicture: Werbeslogan der Agentur aus dem Jahre 2003. 185 drei durch Jobs in Werbeagenturen erfahrenen HfbK-Kunsthochschulabsolventen Astrid Herrmann, Valentin Alscher und Roman Härer (Studenten der Hochschulprofessoren und freien Künstlern KP Brehmer, Bogomir Ecker und Claus Böhmler) die Fotoagentur Plainpicture599. Die grundlegende Firmenidee von Plainpicture, die zu ihrem Markenzeichen wurde, war, den Kunden von Bildagenturen authentisches Fotomaterial, Real-Life-Fotos im Online-Archiv anzubieten: Authentizität anstelle von inszenierten, nachgestellten Motiven. Die Agentur arbeitet seit je her nicht nur mit Fotografen zusammen, sondern auch mit sogenannten Spontan-Fotografen: „Das sind Menschen, die immer ihre Kamera dabei haben und eine spannende Situation sofort festhalten“600 , sagt Valentin Alscher. Nicht selten reichen Bildredakteur_innen, Grafiker_innen und Art-Direktor_innen, die durch ihren Job auf Plainpicture aufmerksam wurden, Bilder aus ihrem privaten Leben ein. „Lass Deine Familie für dich arbeiten“ war eines der ersten Slogans eines Flyers von Plainpicture, um neue Fotograf_innen für die Agentur zu akquirieren. Damit ist gemeint, dass der Fotograf /die Fotografin sein/ihr eigenes Umfeld als repräsentative Funktion des Lebens allgemein auswählt, um ohne Kosten für teure Modelle, Castings und Studioaufnahmen zu produzieren. Die Real-Life-Bilder sind Ausschnitte aus dem Alltag und dem persönlichen Umfeld. Das private Glück des normalen Menschen wird auf diese Weise zur Metapher für das allgemeine Leben schlechthin und birgt ein hohes Identifikationspotenzial für die Verbraucher_innen und die Kunden von Plainpicture. „Die Leute finden unsere Idee spannend, man merkt, dass die Bilder ein höheres Identifikationspotenzial besitzen als die üblichen Werbefotos“, so Herrmann. „Mittlerweile ist der Authentizitätsbegriff schon etwas strapaziert und natürlich nicht mehr neu. Zahlreiche Agenturen werben mit Begriffen wie Echtheit, Natürlichkeit etc.“601 Das Beispiel von Plainpicture zeigt, dass nach ihrem Firmenkonzept theoretisch jeder fotografisch aufgenommene Moment des Lebens in ein Produkt verwandelt werden kann. Hier finden wir das systemkritische Motto der 68iger Bewegung Das Private ist politisch umgeformt in Das Private ist abgebildet und marktkompatibel wieder. Das Zum-Ausdruck-Kommen in Bezug auf die Echtheit und Authentizität des Motivs basiert auf einer geschäftsregulierenden Grundlage: Modelrelease, Veröffentlichungsrecht und Bildauswahl behält sich Plainpicture vor. Die subjektive Sichtbarmachung und darstellende Repräsentation von Alltag konvertiert in ein fotografisches Stilmittel und eine lukrative Geschäftsidee (Markenzeichen). Nicht nur der Stil sondern auch die Organisationsform der Herstellung eines Bildes ist für Plainpicture vermarktbar. Die Werbekampagne des spanischen Autoherstellers SEAT aus dem Jahr 2008 verwendete das Konzept von Plainpicture andersherum: Zur Einführung der neuen Generation des Kleinwagens Ibiza machte der Autohersteller seine 599 600 Plainpicture: Homepage der Bildagentur: URL: http://www.plainpicture.com/de/ (01.02.2013). O. A. : Die neue Rolle des Kreativen, in: PAGE. Das Magazin für Kreative und Medienprofis, Ausgabe 03/03, S. 24. 601 Astrid Herrmann, zitiert nach A.S.: Transkript eines von mir geführten Video-Interviews, unveröffentlicht. 186 Mitarbeiter_innen zu Werbestars. In dem TV-Spot zeigt die Herstellerfirma die Angestellt_innen in gestyltem Look neben dem Produkt. Auch hier entdecken wir bei den Abgebildeten, ähnlich wie bei Plainpicture, eine Doppelrolle: als Arbeiter_innen von SEAT und als Repräsentant_innen von SEAT – Produkt und Produzent_innen machen gemeinsame Sache. 6.2 Selbst-Repräsentationen im Internet: Digitale Widerstände gegen prekarisierte Lebenslagen Um gegenwärtige Formen von Subjektkonstitution und Selbst-Repräsentationen im Zusammenspiel mit neuen Kommunikationstechnologien zu verstehen, muss man sich auf einen veränderten Begriff von Produzent_innen einlassen, der erlaubt, ihre Einsatzorte in den sozialen Netzwerkmedien zu untersuchen. Als Fallbeispiele werde ich näher auf Blogs als digitale Logbücher und das Online-Unternehmen Facebook eingehen, das in seiner Vorreiterrolle als gegenwärtiges marktführendes Socialmedia-Enterprise in der digitalen Wirtschaft maßgeblich an der Formung von Konsument_innen und Produzent_innenverhalten mit beteiligt ist. Das Web 2.0 wird zunehmend von seinen Nutzer_innen selbst mitgestaltet und beseelt. Die persönlichen, zumeist statischen Html-basierten Homepages, die in ihrer Funktion noch einer digitalen Visitenkarte ähnelten, wurden mit Arbeitsproben, persönlichen Interessen und Meinungen, beziehungsweise Lebensläufen angereichert. Sie wurden zu einem späteren Zeitpunkt durch die interaktiven Weblogs, Vlgos, Fotologs, kurz Blogs genannt, in verschiedenen Ausführungen erweitert. Der Begriff Blog oder auch Web-Log wird aus der Wortkreuzung mit dem englischen Wort World-Wide-Web und Log für Logbuch gebildet. „ [...] a blog is a type of online diary. Blogs are distinguished from regular webpages by their emphasis on fresh up-to-date content [...] and their high level of interactivity and interconnectivity. [...] Early blogs almost always belonged to individuals, and were written in a personal capacity, but there are now many blogs that are written collaboratively or as the official voice of a corporation, political group, or newspaper.“602 Ab 1999 wurde der Zugang und die Oberfläche von blogging für Anwender_innen durch kommerzielle Service-Unternehmen wie Blogger.com von Pyra Labs mit benutzer_innen-freundlichem Interface einfacher. Service Leistungen dieser neuen Online-Agenturen wie Flickr und YouTube, die offene APIs603 verwenden, erlauben Blogger_innen ihre hochgeladenen Fotos und Videos mit einfachen copy-paste Funktionen oder einer Embedded602 Abigail Schoneboom: Hiding Out: Creative Resistance Among Anonymous Workbloggers, [PHD Dissertation], New York: The City University of New York 2008, URL: www.abbyschoneboom.com/pdfs/diss/schoneb_hiding_all.pdf (01.02.2013). 603 API ist eine Programmierschnittstelle [englisch: application programming interface] oder ein Programmteil, das von einem Softwaresystem zur Anbindung an ein anderes System zur Verfügung gestellt wird. 187 Programmierung in den Blogpost zu integrieren. Auf diese Weise verwandeln sich Blogs in multimediale, manchmal tagebuchartige Informations- und Kommunikationsmedien. Im Gegensatz zur klassischen Autobiografie ermöglichen Blogs das Interagieren der Leser_innen mit der Schreiber_in und mit anderen Blogleser_innen. Es gibt unendlich viele Beispiele von Selbst-Repräsentationen in Form von Lifewriting-Blogs. Der Fokus in dieser Arbeit liegt auf Selbst-Repräsentation von Unbehagen und in sofern verschiebt sich die Auswahl von Beispielen in genau diese Richtung. Michael Keren, Autor von dem Buch „Blogoshere, the new political Arena“604 analysiert, warum ausgerechnet persönliches Leiden in Blogs vermehrt Ausdruck finden. „ [...] it can be expected that many people suffering from physical or mental illness are comforted by the opportunity offered by blogs to post queries, gain and share information, give and get emotional support, and share moments of agony, fear, joy and happiness with others. There are thousands of blogs by persons afflicted with cancer, leukemia, depression, and other illnesses.“605 In den von mir vorgestellten Beispielen geht es nicht um Leiden wie bei Keren, die in Zusammenhang mit Krankheiten stehen, sondern vielmehr um Unbehagen, hinsichtlich ganz bestimmter Situationen. 6.2.1 Die Blogs Quartieren.org und Annalist.noblogs.org als Beispiele des digitalen Logbuchs „Ich möchte mir einfach mit meiner Geschichte selber Recht geben und mich selber vertreten.“606 In diesem, relativ kurzen, Abschnitt werden zusammenfassend unter der Überschrift „Digitale Widerstände“ drei Autorinnen vorgestellt, die sich mit prekarisierten Lebenslagen in Texten auf Blogs auseinandergesetzt haben. Therese Roth und Anne Roth schreiben jeweils selbst in ihren Blogs und Abigail Schoneboom hat in ihrer Dissertationsarbeit „Hiding out: Creative Resistance among anonymous work-bloggers“ widerständige Blogtexte von anderen genauer analysiert. Im Mai 2010 traf ich Therese Roth, Schriftstellerin607 und Radiomacherin in Hamburg, um sie zu ihrem Blog http://www.quartieren.org zu befragen. Unsere Verabredung fand bei ihr in der Wohnung statt. Uns begleiteten die mitgebrachten Fragen, eine Videokamera, ein Audioaufnahmegerät, Tee und selbstgebackene Brötchen. Auf „Quartieren. Kleine Vögel gegen ARGE, flatternd frontal flüchtend“608 604 605 Michael Keren: Blogosphere The New Political Arena, Plymouth: Lexington Books 2006. Ebd., S. 119. 606 Interviewzitat: Therese Roth, unveröffentlicht, TC: 00: 29.53. 607 Therese Roth: Nervenkostüme und andere Unruhen, Bremen: Thealit 2009. 608 Die Vögel, sagt Roth in dem Interview, waren anfangs Telefonzeichnungen, die sie während der Gespräche mit Freunden und mit Behörden auf einem Skizzen-Block machte, vermutlich weil das 188 schreibt Roth über ihre Erfahrungen mit verschiedenen deutschen Behörden und Anträgen, ARGE (Arbeitsagentur), KSK (Künstlersozialkasse), Hartz IV (Sozialhilfe) u.a. Sie bezeichnet das Schreiben über die prekäre Lebenssituation als eine Beobachtung hinter der künstlerischen Produktion. Der Blog ist für sie KonzeptKunst. „Eine Konzeptkunst, so Roth, die mit mir arbeitet und eben nicht mit Wilhelmsburgern [...]“609 . In den Texten auf dem Blog, die nach Tagen und Zeiten chronologisch in dem Zeitraum von 30. März 2010 - 28. August 2010 angeordnet sind, schreibt Roth über die normativen Ansprüche, die seitens des Staates an sie herangetragen werden und in Form von Anschreiben ins Haus „flattern“. Die Blogeinträge verdeutlichen Roths Verweigerungshaltung gegenüber den vorherrschenden, diktierenden Behörden - einem bürokratischen Diskurs, dem sie sich nicht unterwerfen möchte. Blogfragment „in den kommenden monaten möchte ich auf dieser seite, aus der indivduellen erfahrung eine gemeinschaftliche machen. es sind schon einige artikel geschrieben worden, in denen journalisten sich einfühlten und auch mal zwei monate von hartz IV gelebt haben, um darüber zu berichteten. [...] ich möchte aus der innenperspektive der alltäglichen unterwerfung heraus sprechen, nicht über das, wie es anderen ergeht oder ergehen könnte, sondern dass was mit mir passiert und sicher kein einzelfall ist. gegen die existenzielle bedrohung durch gesellschaftliche mechanismen, die solidarität durch kontrolle zu ersetzen versuchen.“610 Roth definiert ihren Blog im Unterschied zum Tagebuch als ein Logbuch „weil das Tagebuch einen komplett anderen Adressaten hätte, nämlich mich selbst“. Als Radiomacherin und publizierende Schreiberin schreibt Roth die Blogeinträge mit einem Bewusstsein für eine Öffentlichkeit, die ihren Sendungen und Texten folgt „ [...] insofern würde ich Tagebuch als Begriff eher ablehnen, sondern eher sagen das ist sowas wie ein Logbuch oder eine Chronik dessen was da passiert.“ Selbstbeschreibung Therese Roth, Blogeintrag: März 2010 „vor jahren habe ich als köchin gearbeitet. leider hielt mein nervenkostüm den stress nicht aus, und ich brach mitten in der Zwitschern der Vögel im Garten sehr präsent ist. Als bei der KSK und anderen Anträgen immer nach ihrem künstlerischen Werk gefragt wurde, entschied sie sich, den Vögel in Form von verkaufbarer Flachware einen ökonomischen bzw. bürokratischen Wert zu geben. 609 Roths Bezugnahme auf „Kunst mit Wilhelmsburgern“ bezieht sich auf ein staatlich gefördertes Aufwertungsprojekt mit Kunst im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, Veddel. O. A.: Probewohnen in Wilhelmsburg - Kunstplattform, in: Internationale Bauausstellung. IBA Hamburg, URL: http://www.iba-hamburg.de/themen-projekte/kreatives-quartierelbinsel/kunstplattform/projekt/kreatives-quartier-elbinsel-2.html (01.02.2013). 610 Therese Roth: < °°plan, in: Quartieren.org. Quartieren. Kleine Vögel gegen ARGE flatternd frontal flüchtend, 2010, URL: http://www.quartieren.org/blog/?page_id=66, (24.10.2012). 189 vorweihnachtszeit mit angstattacken zusammen. die hatte und habe ich fortan chronisch. bei zu viel stress schaltet sich die angst ein. trotz mehrerer therapien. in den jahren nach der ersten panikwelle pflasterten neurologInnen, psyschiaterInnen, hausärztInnen und therapeutInnen meinen weg in ein leben fern vom kochen. ich lernte html. ich arbeitete in projekten. ich lernte pressetexte. ich veranstaltete veranstaltungen. ich machte radio. ich brachte mir programmieren bei. ich fing an zu schreiben. ich konnte keine wege ohne taxi und mindestens einmal am tag erwischte mich die angst so, dass ich nicht weiter konnte. ich kauerte und lag in fussgängerzonen und bahnhofseingängen, in grünanlagen und einkaufsläden zusammen-gekrümmt vor angst. gedemütigt von meiner schlechten öffentlichen performance. ich meldete mich zweimal arbeitslos. nach dem ersten mal machte ich mich selbständig und endete mit einem kleinen berg von schulden. jetzt bin ich seit ca. 5 jahren transferleistungs-empfängerin mit einem attest. das attest besagt, dass ich arbeiten kann, aber nur von zuhause aus. als webdesignerin, transkriptesse, schreiberin und so, bedeutet das ja eigentlich keine große einschränkung in zeiten der telearbeit. nur leider ist der markt voll, und die arge hat mir in 5 jahren auch nur zwei stellen, für die ich jeweils eine stunde fahrtweg überwinden müsste, angeboten. das verbietet sich bei meiner geschichte von selbst. stress und draußen ist nichts was ich kann. statt mir also arbeitsplätze zu vermitteln, möchte mein derzeitiger jobcenterserviceagent, dass ich meine hausärztin von der schweigepflicht entbinde, zum amtspsychiater gehe mich arbeitsunfähig melde. mir scheint das falsch, und mit dem projekt möchte ich dem etwas entgegensetzen.“611 Blogleserin, Kommentar: trudi, 7. März 2011 um 10:38 Uhr „Hi. mich würde mal interessieren ob das amt dich jetzt zum Amtsarzt geschickt hat oder nicht? Wie ging es weiter. gerne auch per Mail (bin in einer ähnlichen Situation).“612 Im Laufe der Monate, mit Unterstützung von Freund_innen und Blogleser_innen, findet Roth eine Möglichkeit sich durch die bürokratischen Erniedrigungen der Behörden durchzuarbeiten, ohne sich arbeitsunfähig melden zu müssen. Therese Roth, Antwort auf Trudi: 8. März 2011 um 16:21 Uhr „hallo trudi, nein, sie haben mich nicht zum amtsarzt geschickt. das war ein sehr interessantes moment für mich. kaum war ich bereit jetzt alles auf eine karte zu setzen, notfalls auf die bezüge zu 611 Therese Roth: <°° zwei, in: Quartieren.org. Quartieren. Kleine Vögel gegen ARGE flatternd frontal flüchtend, 23/03/2010, URL: http://www.quartieren.org/blog/?p=12 (01.02.2013). 612 Therese Roth: < °° situation, in: Quartieren.org. Quartieren. Kleine Vögel gegen ARGE flatternd frontal flüchtend, 07/03/2011, URL: http://www.quartieren.org/blog/?page_id=2 (01.02.2013). 190 verzichten und meine wohnung zu besetzen, wenn ich mir die miete nicht mehr leisten kann hat sich auf einmal die situation gebessert. jededenfalls haben sie keine forderung mehr in diese richtung geschickt.“613 Auch unser Videointerview findet in einem Blog-Eintrag Erwähnung und reflektiert den kommunikativen Aspekt des Projektes. „letzten dienstag wurden die kleinen vögel videointerviewt und davor und danach kam es zu vielen diskussionen über das projekt unter anderem auch auf dem facebook-account. stichworte davon sind: kollektive strukturen/ individualistische momente. was bringen kollektive für ihre mitglieder? was nützt einzelkämpferei? [...] welche wege könnte man gemeinsam finden, um ein recht auf stadt, also ein recht auf teilhabe an der gesellschaft, an den diskussionen, am reichtum, am wissen für alle, und hier sind weltweit alle gemeint, herzustellen.“ 614 Roth hat mit ihrem Blog eine Netzöffentlichkeit geschaffen, die mit den herkömmlichen Medien in der Form nicht möglich gewesen wäre. Grundsätzlich wird für das Schreiben in einen Blog ein Computer mit Internetanschluss benötigt, um die Einträge auf Blogseiten zu posten. Texte über Erlebtes zu schreiben, ist für die Schreiber_innen sehr hilfreich, denn auf die Weise ordnen sich die widerfahrenen Ereignisse und sie lassen sich beim erneuten Lesen nochmals überdenken. Im Idealfall kodieren sie die soziale Wirklichkeit um. Durch die Kommentare anderer User_innen interagiert der geschriebene Text direkt mit der sozialen Wirklichkeit der Blogger_in und kann ihr/sein Verhalten oder seine/ihre Emotionen mit beeinflussen. Bei den beiden Beispielen, die ich ausgewählt habe, handelt es sich tendenziell um protokollarische Blog-Einträge, die sich eher als authentisch, im Gegensatz zur fiktiv-inszenierten Identität der Schreiber_in, bezeichnen lassen. Auf der Blogseite http://annalist.noblogs.org von Anne Roth beschreibt sie sich als eine in Berlin lebende Medien- und Netzaktivistin, Diplom-Politologin, Mutter von zwei Kindern und als Partnerin von Andrej Holm. Holm wurde am Juli 2007 um 7 Uhr morgens in der gemeinsamen Wohnung als tatverdächtiger Terrorist festgenommen. „Zwei Monate nach dem Überfall des BKA auf unsere Wohnung begann ich über meinen Alltag mit der Terror-Fahndung zu bloggen. Ich wäre wohl vorher nicht auf den Gedanken gekommen, mein Privatleben einer anonymen Öffentlichkeit zu präsentieren. Aber mein Privatleben gab es nicht mehr, also konnte ich es genauso gut für diejenigen Menschen aufschreiben, die uns mit mehr Sympathie- oder wenigstens echtem Interesse613 614 Ebd. Therese Roth: <ºº achtzehn, in: Quartieren.org. Quartieren. Kleine Vögel gegen ARGE flatternd frontal flüchtend, 26/05/2010, URL: http://http://www.quartieren.org/blog/?m=201005. 191 begegneten, als es BKA und Bundesanwaltschaft (BAW) taten. Ich schrieb über verrückte Begründungen der Staatsanwaltschaft, über seltsames Verhalten verschiedener Geräte unseres Haushaltes (meist Telefon), über das Gefühl, das ‚immer jemand dabei ist‘.“615 Thereses Roths und Annes Roths Unbehagen sind sehr unterschiedlich und doch haben sie gemein, dass staatliche Instanzen in ihren Alltag eindringen, um aus ihnen Personen zu machen, die sie nicht sind: aus Therese eine kranke arbeitsunfähige Hartz VI- Empfängerin und aus Anne Roth die Lebensgefährtin eines Terroristen616 . Bei Therese Roth äußert sich das in den Beschreibungen und Auseinandersetzungen mit den Behördenbriefen, während Anne Roth bspw. die technischen Geräte beschreibt, mit denen sie vom Staat überwacht wurde. Bei Anne Roth handelt es sich um einen persönlichen Tatsachen-Bericht während Therese immer wieder die Vögel als Metapher verwendet, die freiheitsliebend flattern und flüchten. Beide Blogs appellieren an eine Öffentlichkeit, die erst durch das Schreiben bzw. das Bloggen der Texte über die eigene Lage geschaffen werden muss und sich als Funktion des Gegenanschreibens gegen die staatlichen Institutionen richtet. Die Blogs sind WordPress617-Blogs. Diese Informationen definieren den Produktionszusammenhang der Autor_innen und einen bewussten Umgang mit der Entscheidung, wo die eigenen Daten abgelegt werden bzw. in welchem Erscheinungsbild (Designmaske oder Thema) sie auftauchen. Im nächsten Kapitel erläutere ich kurz, dass inzwischen auch Aktivist_innen bzw. politisierte Blogschreiber_innen in sozialen Netzwerken multinationaler Unternehmungen wie Facebook partizipieren mit der Hoffnung, so eine größere Öffentlichkeit zu bilden. 6.2.1 Workbloggers (Arbeiter-Blogger_innen) Die Soziologin Abigail Schoeneboom untersucht in ihrer Dissertationsarbeit „Hiding out: Creative Resistance among anonymous work-blogggers“618 verschiedene Formen des Widerstands von Lifeblogger_innen, d.h. Angestellten, die während der Arbeitszeit in Büros in ihren Blogs schreiben und über Unbehagen am Arbeitsplatz berichten. Schoneboom bezieht sich nicht explizit auf autobiografische Texte sondern auf Personen, die im Grunde doppelt arbeiten: 615 Anne Roth: Überwachung im Alltag, in: Annalist.noblogs.org. Innenansichten, 03/ 10/2007, URL: http://annalist.noblogs.org/post/category/uberwachung-im-alltag/page/6/ (10.10.2012). 616 Die Bundesanwaltschaft fand nach dem Juli 2007 nichts, das den Vorwurf auf terroristische Aktion erhärtet hätte, aber ermittelte noch bis zum 5. Juli 2010 weiter. 617 WordPress basiert auf der Skriptsprache PHP und benötigt eine MySQL-Datenbank. Es ist eine freie Software, die unter der GNU General Public License (GPL) lizenziert ist. Die GNU General Public License ist eine von der Free Software Foundation (FSF) veröffentlichte Freie-SoftwareLizenz mit Copyleft für die Lizenzierung von freier Software, die ihren Ursprung im GNU-Projekt hat. 618 Abigail Schoneboom: Hiding Out: Creative Resistance Among Anonymous Workbloggers [Doctoral Dissertation] Doctor of Philosophy, New York: University Press 2008. 192 Schreiber_innen, die teilweise als Büroangestellte und Schriftsteller_innen tätig sind. Sie beschreibt den Fall von der in Los Angeles lebenden Web-Designerin Heather B. Hamilton, die im Februar 2002 aufgrund ihrer geposteten Kommentare619 über die Firma, in der sie arbeitete, entlassen wurde. Hamilton postete die Kommentare auf ihrem Blog Dooce®, auf dem sie allgemein über Lifestyle und ArbeitsLebenssituationen schreibt. In einer größeren Fan- und Bloggergemeinde erreichte das Adjektiv „doocing“ inzwischen eine gewisse Popularität um Blogger_innen zu bezeichnen, die aufgrund kritischer Äußerungen von ihrer Arbeit entlassen wurden. Nach Hamiltons Entlassung wurde sie mit E-Mails und Kommentaren von ihren Leser_innen überschüttet. Schoneboom bewertet Dooce’s Blog als extrem gut geschrieben, respektlos und lustig. Hamiltons berufsbedingt trendige und hippe Lifestyle-Lebenseinstellung als gut bezahlte Web-Designerin in einem USamerikanischen Hightech-Unternehmen drückt sich auch in ihren Posts aus. Sie ist Teil einer Branche, die sie selbst mitgestaltet. Ihr Blog Dooce ist Trade Mark geschützt und sie hat aus ihrer Nebenbeschäftigung des Bloggens inzwischen Kapital gemacht: sie definiert sich als professionelle Bloggerin. Schoneboom interpretiert Hamiltons Kommentare als Möglichkeit, sich von ihrer Arbeit bzw. Situation in ihrer Arbeit zu distanzieren und durch zynische und lustige Beschreibungen zu persiflieren. Zwei weitere Beispiele in Schonebooms Forschungsarbeit sind die Blogger Petit Anglaise620 und der britische Angestellte Joe Gordon,621 der mit seinem Fall eine breite Öffentlichkeit erreichte und verschiedene Prozesse vor dem Arbeitsgericht gewann. Die beiden von mir vorgestellten und Schonebooms untersuchten Beispiele stellen, authentische Schreiber_innen- positionen dar: die Autor_innen benutzen ihre „richtige“ Identität als Kulturproduzentin, Medienaktivistin, Web-Designerin oder Angestellte, um ihre Lebens- und Arbeitssituation zu beschreiben. Ganz anders verhält es sich bei dem Blog „A Gay Girl in Damascus“, der inzwischen schon aus dem Netz verschwunden ist. Hier handelte es sich um den Versuch des US-Amerikaners Tom MacMaster, unter fiktiver Identität eine Öffentlichkeit für die Situation von Homosexuellen in Syrien herzustellen.622 Er schrieb unter dem Namen einer Frau, als die syrisch-amerikanische Bloggerin Amina Abdallah Arraf al Omari. Auf dem Blog ging es um ihre schwierige Situation als bekennende Homosexuelle, Muslimin und Sunnitin in Syrien. Seit dem 19. Februar 2011 folgten 142 Posts und eine immer größere Netzöffentlichkeit nahm Anteil an Aminas Leben. 619 Heather B. Hamilton: The Proper Way to Hate a Job, in: Docce, 20/01/2002, URL: http://dooce.com/archives/daily/01_17_2002.html (01.02.2013). 620 Blog von Petit Anglaise: URL: http://petiteanglaise.com/2011/01/31/signed-booksanyone/#comments, (01.02.2013). 621 Blog von Joe Gordon: URL: http://www.woolamaloo.org.uk/2005/01/those-who-profess-to-favorfreedom-and.htm (01.02.2013). 622 Zitat Tom MacMaster: „I only hope that people pay as much attention to the people of the Middle East and their struggles in thıs year of revolutions. The events there are beıng shaped by the people living them on a daily basis. I have only tried to illuminate them for a western audience“, in: Max Read: ‚A Gay Girl in Damascus‘ Is Actually a Married Guy in Edinburgh, in: Gawker, 12/06/2011, URL:http://gawker.com/5811169/a-gay-girl-in-damascus-is-actually-a-married-guy-in-edinburgh (01.02.2013). 193 Erst als sie angeblich von bewaffneten Männern verschleppt (es deutete sich an, dass es Sicherheitskräfte der Regierung waren, da sie bereits bedroht worden war) wurde (Aminas Cousine Rania O. Ismail postete über den Vorfall), kamen Zweifel über die Echtheit ihrer Existenz auf. MacMaster verwendete als Amina schreibend ein Foto, das er von einem fremden Facebook-Profil entnommen hatte. Es stellte sich heraus, dass es sich bei der Frau um die Kroatin Jelena Lecic623 handelte, die nichts mit dem Blog oder MacMaster zu tun hatte. Der Blog „A Gay Girl in Damascus“ wurde nach Aufdeckung der fiktiven Identität der „Amina Abdallah Arraf al Omari“ scharf kritisiert. Blog-Leser_innen fühlten sich in ihrer Anteilnahme betrogen und es wurde das In-Gefahr-Bringen von syrischen Aktivist_innen kritisiert. Bloggen steht der in dieser Arbeit mehrfach hervorgehobenen Praxis des autobiografischen Schreibens nahe, allerdings mit dem Unterschied zur Autobigrafie in Buchform, das unterschiedliche mediale Formate (Video, Fotos, Sound, etc.) in den Blogtext eingebunden werden können und das der kommunikative Aspekt des Bloggens eine neue Funktion darstellt, um eine größere Öffentlichkeit zuerreichen. 623 Elizabeth Chuck: Londoner says missing Syrian blogger stole her identity, in: ABC NEWS, 06/08/2011, URL: http://www.msnbc.msn.com/id/43326770/ns/world_newsmideast_n_africa/t/londoner-says-missing-syrian-blogger-stole-her-identity/#.UONgCbZK7YO (01.02.2013). 194 6.3 Autobiografische Daten im Internet: Kommerzialisierung des Sozialen „Das Blättern, das für das Web 1.0 typisch war, entfällt.“624 Das Blättern der Web-Benutzer_innen im angeführten Zitat ist vergleichbar mit dem Verhalten einer Buchleser_in: dem Umblättern der Seiten in einem Buch. Zu Anfang dieser Arbeit erwähnte ich die Arbeiterin Adelheit Popp, die ihr Vesperbrot in eine Zeitungsseite einwickelte, um die Information zur miserablen Situation der Fabrikarbeit unter die Kolleg_innen zu bringen: „ [...] und dann ging das Blatt von Hand zu Hand“625. Der Terminus Web-Seite verweist indirekt auf das beschriebene Blatt in einer Zeitung oder in einem Buch. Wie gestaltet sich also das Web 2.0 wenn das Blättern entfällt? Wie der Begriff soziale Medien schon impliziert, handelt es sich um Medien, bei denen die Verbindung und Kommunikation von verschiedenen Personen möglichst einfach gestaltet sein soll und leicht zu handhaben ist. Zu diesen sozialen Medienformaten gehören bspw. Bloggen, Microbloggen, Peer-to-PeerTechnologien, Chat-Foren, interaktives Computerspielen, E-Mails, virtuelle Welten und soziale Netzwerkplattformen wie u.a. Facebook. Mitte der neunziger Jahre wurden sogenannte programmierte Informational-WebZähler eingesetzt, um die Anzahl der Aufrufe bzw. die „Hits“ (das „Aufschlagen“) einer Web-Seite zu dokumentieren und demografische Statistiken der allgemeinen Internetwebseitennutzung zu erstellen. Die Hits stellten gewissermaßen eine sehr reduzierte Form dar, das Interesse an Inhalten der Nutzer_innen wiederzuspiegeln. Hits, die das Nutzer_innenverhalten reflektieren und Indikator für die Beliebtheit einer Webseite sind, bildeten also die Grundlage für die erste Web-Ökonomie, die sogenannte „Hit Economy“626. Es wurden Online-Werbeflächen basierend auf Seitenaufrufen verkauft. Ende der neunziger Jahre wurde das Hit-System durch das Link-System (auch PageRank genannt) und später durch das TrustRank-Prinzip ersetzt. Der von Google als Suchmaschine entwickelte PageRank627 Algorithmus ähnelt in seiner Struktur dem akademischen Zitationssystem und basiert auf der Bewertung von Links als maßgeblicher Relevanzindikator einer Webseite. Mit dem 2005 installierten Social Buttons weicht die Gewichtung der relevanten Links einer sozialeren Struktur, in der die User_innen direkt selbst bestimmen, ob eine Webseite von ihnen als relevant befunden wird oder nicht. Susanne Lummerding stellt fest, dass diese Veränderung „als grundlegenden Paradigmenwechsel nicht 624 O.A. : Generation Google, Web 2.0 - ein neues Internet?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03/03/2006, URL: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/generation-google-web-2-0-ein-neuesinternet-1306216.html (23.05.2012). 625 Anna Altmann: Jugendgeschichte einer Fabrikarbeiterin (1852-70), in: Wolfgang Emmerich (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. 1. Bd., Hamburg: Rowohlt 1974/75, S. 127-137, S. 127. 626 Vgl. Carolin Gerlitz: Die Like Economy. Digitaler Raum, Daten und Wertschöpfung, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld: Transcript 2011, S. 101-123, S. 104. 627 Im Jahre 2004 wurde der PageRank Algorithmus von dem sogenannten TrustRank-Algorithmus abgelöst, es handelt sich dabei um eine Suchmaschinen immanente Anwendung, die verlinkte Spamseiten selektiert und die Popularität von Links durch Vertrauens- Kriterien bestimmt. 195 nur für die Strukturierung der Datenbestände und Suchverfahren im Web, sondern für Wissensgenerierung und Kommunikation bzw. Vergesellschaftung generell“628 zu betrachten ist. Es hätte, so Lummerding, eine Verlagerung von der Messbarkeit durch die Bewertung von Links (geprägt durch den Googles- PageRank Algorithmus) „hin zu einer Operationalisierung gewerteter sozialer Beziehungen (maßgeblich repräsentiert durch das TrustRank-Prinzip oder [...] Social Plugins) “ stattgefunden. In diesem Sinne ist auch die These von der Marketingexpertin Joanna Shields zu verstehen, wenn sie behauptet, dass es in der vergangenen Dekade um „Suche“ ging, die maßgeblich von Google geprägt wurde, und dass die kommenden Jahre unter dem Motto „Sozial“ zu verbuchen sein werden, hauptsächlich beeinflusst durch Facebook.629 Mit dem Open-Graph-Protokoll und dem allgegenwärtigen Like-Button entwickelte Facebook den entscheidenden Schritt hinsichtlich des Partizipierens von allen Netzwerk-Benutzer_innen: durch eine weitgehende Personalisierung der Bewertungen von Inhalten durch den Like-Botton (Link) können eben nicht nur Webseitenbetreiber_innen oder Expert_innen ihre Empfehlung abgeben um einen Webseite Bedeutung beizumessen, sondern eben jeder und jede Benutzer_in. Bruno Latour beschreibt, dass Benutzer_innenverhalten, das oftmals aus Empfehlungen, Bestellungen, Bestätigungen und Auf-der-Suche-Sein besteht und gleichzeitig auch ein Spuren-Hinterlassen ist, als ein neues Forschungsfeld. „I am sure that this accumulation of traces has enormous effects for the entertainment industry, for specialists in marketing, advertising, intelligence, police and so on, but another consequence is worth pointing out. The precise forces that mould our subjectivities and the precise characters that furnish our imaginations are all open to inquiries by the social sciences. It is as if the inner workings of private worlds have been pried open because their inputs and outputs have become thoroughly traceable.“630 Das foucaultische Konzept der Gouvernementalität, das die Analyse von der Führung der Führungen vorschlägt, ließe sich an dieser Stelle heranziehen, um nach den verschiedenen „traces“ und ihren Relationen zwischen Subjekt, Wissen und Macht zu befragen: Wie werden Menschen dazu gebracht, sich selbst darzustellen? Wie ist eine vorgegebene Option strukturiert, die die Grundlage schafft, bestimmte Inhalte zu in Umlauf zu bringen? Wie werden Benutzer_innen durch Programmiermasken in ihrem Verhalten beinflußt? Welches Wissen müssen 628 Susanne Lummerding: Facebooking – What You Book is What - You Get - What Else? in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld: Transcript 2011, S. 199-216, S. 201. 629 Marek Hoffmann: Facebooks Joanna Shields: 'Der 'Social Graph' ist unser stärkstes MarketingTool', in: Basicthinking.de, 16/09/2010, URL: http://www.basicthinking.de/blog/2010/09/16/facebooks-joanna-shields-der-social-graph-ist-unserstaerkstes-marketing-tool-demexco/ (01.02.2013). 630 Bruno Latour: Beware your imagination leaves digital traces, in: Times Higher Literary Supplement, 06/04/2007, URL: http://www.bruno-latour.fr/node/245 (01.02.2013). 196 Benutzer_innen bereits mitbringen oder welches Wissen erhalten sie durch die Verwendung von sozialen Kommunikations-Plattformen wie bspw. Facebook?631 6.3.1 Facebook: Die Lebens-Timeline „People use Facebook to stay connected with friends and family, to discover what’s going on in the world, and to share and express what matters to them.“632 Das im Februar 2004 Online gegangene kommerzielle, soziale Netzwerk Facebook633 interessiert uns in Hinblick auf die Einbindung der Lebensläufe seiner Benutzer_innen in der Funktion als sozial-kommunikative Selbst-Repräsentation. Wie steht es mit Unbehagen: wird diese Plattform genutzt, um innerhalb des eigenen Profils bzw. der Pinnwand, die wie ein Lebenslauf aufgebaut ist, für bestimmte Unbehagen eine politische (Netzwerk)- Öffentlichkeit zu schaffen? Generell lässt sich die Lebenswelt einer Person durch verschiedene Modi von Repräsentation mitteilbar machen, aber sie ist, genaugenommen, von außen nicht erlebbar. Diese Lebenswelt, die aus Empfindungen, Erinnerungen, Handlungen, und Einstellungen einer Person besteht ist erst einmal für andere unsichtbar634 , Facebook, so könnte man meinen, versucht, Lebenswelten kommunizierbar bzw. (er)lebbar zu machen: Es wird dazu eingeladen, die eigene Lebenswelt mithilfe spezifischer Präsentations- bzw. Kommunikationsmittel zu gestalten, um auf diese Weise für sie eine neue Sichtbarkeit zu schaffen, an die man sich als „befreundete“ Benutzer_innen anschließen kann. Auch der Vergleich mit dem privaten Fotoalbum zeigt den Unterschied zu bisherigen Selbst-Darstellungen auf. Das private Fotoalbum erreicht einen kleinen aber vor allem einen überschaubaren Kreis von Personen, Familie, Freunde, Bekannte. Bei Facebook tritt das Persönliche in eine unendlich große, unkontrollierbare Netzöffentlichkeit, deren Teilnehmer_innen, wenn sie möchten, sich die Fotos jederzeit und an jedem Ort mit Internet-Verbindung runterladen können. Die Benutzer_innen von Facebook verfügen über eine Profilseite, auf der er/sie 631 Vgl. Carolin Wiedemann: Selbstvermarktung im Netz, Eine Gouvernementalitätsanalyse der Social Networking Site ‚Facebook‘, Saarland: Saarland University Press 2010. S.33. 632 O.A.: Key-Facts, in: Newsroom Facebook, URL: http://newsroom.fb.com/Key-Facts (01.02.2013). 633 Das Online Unternehmen Facebook ist 2004 von dem US-amerikanischen Harvard-Absolventen Mark Zuckerberg gegründet worden und verzeichnete bis Ende März 2012 901 Millionen Benutzer_innen. Mehr als 125 Billion hergestellte Freund-Verbindungen, 300 Millionen hochgeladene Fotos pro Tag innerhalb von 3 Monaten bis Ende März. 3,2 Billionen „Like“ (Ich mag) - Kommentare in mehr als 70 Sprachen. 80% der aktiven Benutzer_innen sind außerhalb der USA. Vgl.: O.A.: Facebook Infografik und Statistiken, in: Allfacebook.de. Der inoffizielle Facebook Blog, 23/03/2012, URL: http://allfacebook.de/zahlen_fakten/facebook-infografik-und-statistiken (22.07.2012). 634 Vgl. Thorsten Benkel: Die Strategie der Sichtbarmachung. Zur Selbstdarstellungslogik bei Facebook, in: Nils Zurawski/Jan-Hinrik Schmidt/Christian Stegbauer (Hg.): Phänomen „Facebook“. Sonderausgabe von kommunikation@gesellschaft, Jg. 13, Beitrag 3. S. XX S. 4 197 Fotos oder Videos hochladen, um sich darzustellen. Auf der Pinnwand des Profils besteht die Möglichkeit von Besucher _innen des Profils, öffentlich sichtbare Nachrichten zu hinterlassen. Alternativ zu öffentlichen Nachrichten können sich Benutzer_innen persönliche Nachrichten schicken oder chatten. Innerhalb der Pinnwand lassen sich auch Webcam-Echtzeit-Applikationen wie bspw. das VideoLife-Streaming von Bambuser635 einbauen, so dass die Pinnwand sowohl eine Mischung aus geschriebenen Gedanken, Kommentaren befreundeter Benutzer_innen, geposteten Informationen (bspw. Online-Zeitungsartikel, eigenen Fotos und Videos, Ankündigungen von Bildern o.ä.) als auch den Life-Aspekt (Video-Streaming) darstellt. Anhand der Beobachtung meines Facebook-Kontos konnte ich feststellen, dass „befreundete“ Künstler_innen-Kolleg_innen das Netzwerk überwiegend nutzen, um ihre künstlerische Arbeit vorzustellen bzw. öffentlich zu machen. Sie posten Ausstellungs-Eröffnungen, Verkauf, Konferenzen, Buchbesprechungen, kunstspezifische Artikel oder berichten über die Fertigstellung neuer künstlerischer Arbeiten. Dazu im Unterschied posten politische Aktivist_innen tendenziell eher Nachrichten, Aufrufe und Mobilisierungen. Postet eine/r Benutzer_in eine Nachricht, sei es eine Ausstellungseröffnung oder sei es eine Demonstration, so wird dieses Ereignis Teil der Lebenslinie der Benutzer_in und im gleichen Moment Teil einer Öffentlichkeit zwischen „befreundeten“ Benutzer_innen. Die vorgegebene Option „Lebensereignis“ ermöglicht den Benutzer_innen verschiedene Situationen in ihrem persönlichen Leben zu markieren ( bspw. „neue Arbeitsstelle“, „beendete Beziehung“, „Verlust eines geliebten Menschen“, „Knochenbruch“ oder „anderes Lebensereignis“). Hierzu werden detaillierte Informationen (Datum, Ort, begleitende Person, etc.) abgefragt und verlinkt. Dieses Lebensereignis erscheint dann öffentlich an der Pinnwand, die sich als chronologische Lebens-Timeline ordnet. Während ich die Materialien für dieses Kapitel zusammentrage und zu schreiben beginne, geht das Internet-Unternehmen Facebook an die Börse. „Ausgabepreis 38 Dollar pro Aktie. Facebook startet Rekord-Börsengang“, titelt Der Spiegel am 17.5.2012 die Headline seiner Online-Nachrichten. Zwei Tage hält sich die Schlagzeile als Neuigkeit an oberster Stelle der täglichen Online-Ausgabe und ordnet alle anderen Nachrichten vertikal unter sich. So auch die, zum gleichen Zeitpunkt stattfindenden, jedoch verbotenen, Proteste im Frankfurter Bankenviertel „Occupy Frankfurt“. Die spanische Tageszeitung El Pais setzte, ähnlich wie Der Spiegel, den Börsengang von Facebook auf die erste Seite seiner Online-Seite. Zur selben Zeit wird auf persönlichen Facebook-Pinnwänden die Nachricht gepostet, dass die spanische Bank La Caixa allen Kommunikationsmedien verboten hat, über die Proteste vor den zwei La Caixa-Gebäuden zu berichten, sollte dies doch geschehen, würde die Bank ihre Werbeanzeigen aus den entsprechenden Medien zurückziehen. 635 Bambuser, Online-Streaming-Anbieter, URL: http://bambuser.com/ (09.08.2013). 198 An dieser Stelle gehe ich nicht näher auf die lokale Themenverdrängungspolitik der beiden Tageszeitungen ein, vielmehr weisen die Einträge auf persönlichen Facebook-Pinnwänden über aktuelle Ereignisse, die in den gängigen NachrichtenMedien nicht erwähnt werden, auf eine Veränderung in der Medienlandschaft hin. Zum einen beruht der Marktwert von Facebook auf den sozial-kommunikativen persönlichen Interaktionen zwischen Millionen von Facebook Benutzer_innen und zum anderen stellt es gleichzeitig, in einigen Fällen, einen alternativen, Kommunikations-Kanal für politische Ereignisse (bspw. der Bankenkrise und der Proteste) dar. Kurz gesagt, je mehr Menschen gegen die Banken protestieren und darüber in ihren Facebook-Accounts kommunizieren, desto höher steigt der Popularitäts- und schlussendlich der Marktwert von Facebook. Zum einen werden die Proteste von den allgemeinen Medien „privatisiert“ (indem nicht über sie berichtet wird), um dann durch eine private Plattform wie Facebook wieder eine Netzöffentlichkeit zu schaffen. Betrachten wir die öffentliche Pinnwand bzw. Timeline etwas näher. Bei der jährlichen f8-Facebook-Konferenz im September 2011 präsentierte der Gründer Marc Zuckerberg das neue Design der Plattform in San Franzisco wie folgt: „Facebook introduces radical new profile design called Timeline: The story of your life. The new Timeline takes the place of your profile and provides a realtime stream of everything you’ve done, all the way back to your „birth„. Timeline is the story of your life: all your stories, all your apps and a new way to express who you are. The timeline is a realtime stream that shows you all of the events, images and posts that are important to you, while hiding the items that it feels are not important. A sort of ‚automatic autobiography‘. If you missed an important event in your Timeline, you can go back and insert it at the appropriate point.“636 In der Wort-Kombination „automatischer Autobiografie“ verdeutlicht sich ein Repräsentations-Diskurs, den ich für diese Arbeit entschieden zurückweise. In dem Konzept des Automatischen verbirgt sich nämlich das Verständnis von objektiver, rationaler und technischer Wiedergabe, das sich durch die Apps und Plug-ins ins Technische verselbständigt, ähnlich den „Livelogging-“ und „Lifecasting-“ Devices637, die die technische Wunschvorstellung des verkabelten Chronisten wiederspiegeln. Alles wird aufgezeichnet bzw. in Lifestreams638 direkt übertragen. Angefangen bei den gewöhnlichen Aktivitäten, Begegnungen, Gesprächen, 636 Matthew Panzarino: Facebook introduces radical new profile design called Timeline: The story of your life, in: The Next Web. Online-Magazin, 22/09/2011, URL: http://thenextweb.com/facebook/2011/09/22/facebook-introduces-timeline-the-story-of-yourlife/ (01.02.2013). 637 Lifecasting ist eine Rund-um-die-Uhr-Sendung der Ereignisse im Leben einer Person durch digitale Medien. Lifecasting kann über das Internet übertragen werden und tragbare Technologien mit einbeziehen 638 Streaming Media ist der Oberbegriff für Audio- und Videostreaming (auch bekannt als Webradio und Web-TV) und bezeichnet aus einem Rechnernetz empfangene und gleichzeitig wiedergegebene Audio- und Videodaten. Den Vorgang der Datenübertragung selbst nennt man Streaming, und übertragene („gestreamte“) Programme werden als Livestream oder kurz Stream bezeichnet. 199 Mahlzeiten über das gesamte Mediennutzungsverhalten, bis hin zu Standort- und Bewegungsprotokollen und dem eigenen Puls. Mit multimedialen Selbst-Aufzeichnungs- und Verlinkungstechnologien (bzw. dem Share-Button, um Inhalte mit „Freunden“ zu teilen) kann die Benutzer_in sichtbar machen, was er/sie liest, fühlt, denkt, isst, kritisiert, befürwortet etc. Es handelt sich nicht um Selbst-Abbildungen, sondern um Bilder von konstruierten Ich-Idealen. Dementsprechend heißt Selbst-für-andere-Sichtbarwerden sich so zu kreieren wie man möglicherweise gerne wäre. Die Abbildungen skizzieren ausschnittshaft Image- und Lebensstilkonstruktionen der Benutzer_innen, die aus den unterschiedlichstn Medien und Applikationen zusammengebastelt werden.639 Zu persönlich oder gar intim in Bezug auf Unbehagen wird es jedoch auf Facebook nicht. Thorsten Benkel spricht in diesem Zusammenhang von einer „Authentizität zweiter Ordnung“640, da die Lebensprofile oftmals beschönigend ausgeschmückt werden: sichtbar würde nur das, was sichtbar werden soll. Insofern ist die Begleiterscheinung, so formuliert es Benkel, eine zwangsläufige Verschleierung jener Lebensaspekte, die vielleicht weniger positiv sind und sich einer Facebooklogischen Lebenslinie entziehen. In ihrer Magisterarbeit analysiert Carolin Wiedemann die Methoden, wie Facebook Handlungen von Benutzer_innen lenkt bzw. vorstrukturiert. Sie untersucht die Netzwerkplattform als Regierungsprogramm641, das die Benutzer_innen dazu anleitet, sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu verhalten. Ich gehe an dieser Stelle nur auf einen Aspekt der regulierenden Funktion bei Facebook ein, der aber einen ganz wesentlichen Hinweis in Bezug auf die Vorstellung von sozialer Wirklichkeit des Facebook-Unternehmens gibt und der in Relation zu Lejeunes authentischem Referenzbegriff innerhalb der Autobiografieforschung steht: der Name. Bei der Registrierung (Eröffnung eines Kontos bei Facebook) wird der Name und Nachname abgefragt. In den Geschäftsbedingungen steht: „Facebook-Nutzer geben ihre tatsächlichen Namen und Daten an. Du wirst keine falschen persönlichen Informationen auf Facebook bereitstellen oder ohne Erlaubnis ein Profil für jemand anderes erstellen. Du wirst nur ein persönliches Profil erstellen. Deine Kontaktinformationen sind korrekt und du wirst sie auf dem neuesten Stand halten.“642 „Facebook believes in a ‚real name culture‘ leads to more accountability and a safer and more trusted environment for 639 Thorsten Benkel: Die Strategie der Sichtbarmachung. Zur Selbstdarstellungslogik bei Facebook, in: Nils Zurawski/Jan-Hinrik Schmidt/Christian Stegbauer (Hg.): Phänomen „Facebook“. Sonderausgabe von kommunikation@gesellschaft, Jg. 13, Beitrag 3. S. XX 640 Ebd., S. 7. 641 Carolin Wiedemann: Selbstvermarktung im Netz, Eine Gouvernementalitätsanalyse der Social Networking Site ‚Facebook‘, Saarland: Saarland University Press 2010. 642 Vgl. die Geschäftsbedingungen von Facebook, URL: http://www.facebook.com/legal/terms (01.02.2013) 200 people who use Facebook.“643 Das Appellieren an den echten Namen bzw. die „Klar-Namen-Kultur“ verdeutlicht den Authentizitäts-Diskurs von Facebook. Im folgenden Zitat begründet Mark Zuckerberg diesen Diskurs. „You have one identity [...]. The days of you having a different image for your work friends or co-workers and for the other people you know are probably coming to an end pretty quickly [...]. Having two identities for yourself is an example of a lack of integrity.“644 Zuckerberg formuliert hier ein Subjekt, dass auf einer einzigen und wirklichen Identität basiert, einem Geschlecht (männlich oder weiblich) und vermutlich auf nur eine Nationalität festgelegt ist. Damit schließt er Subjektkonstruktionen aus, die sich nicht in diese heteronormativen oder nationalistischen Diskurse einordnen lassen. Die Geschäftsbedingung der Klar-Namen Angabe bei Facebook, ist ähnlich wie Lejeunes Betonung des Autor_innen-Names eine Art polizeiliche Kontrollund Einordnungsinstanz, die über die „Wahrheit“ bzw. „Authentizität“ des Hervorbringers/der Hervorbringerin des Accounts richtet. „Mit dem Zwang zum bürgerlichen Namen, der für die Social Networks konstitutiv ist, wird eine Verbindung zwischen Onlineund Offline-Welt etabliert, seitdem gilt Anonymität als nicht mehr zeitgemäß. Trotz aller vermeintlichen Leichtigkeit umgibt die Plattform damit eine Aura der Ernsthaftigkeit und ‚Authentizität‘, die es von den experimentellen Zugängen der frühen virtuellen Räume fundamental unterscheidet.“645 Mit den „frühen virtuellen Räumen“ bezieht sich der Autor des Zitats auf Sherry Turkles Analyse Mitte der neunziger Jahre. Turkle, die die ersten NetzCommunities analisiert hat und über das Experimentieren mit multiplen Identitäten in den ersten Netz-Communities geschrieben hat, stellte die These auf, dass die vielfältigen „Patchworkidentitäten“den Benutzer_innen ermöglichen, sich vom eigenen Selbst zu lösen. In dieser Zeit definieren verschiedene Autoren646 einen „Befreiungsdiskurs“647 , der sich durch den digitalen Cyberspace nicht nur 643 Markus Beckedahl: Realnamenpflicht bei Facebook, in: Netzpolitik.org. Plattform für digitale Bürgerrechte, 09/03/2011, URL: http://netzpolitik.org/2011/realnamenpflicht-bei-facebook/ (01.02.2013). 644 Danah Boyd zitiert Marc Zuckerberg in: Facebook and ‚radical transparency‘ (a rant), in: Apophenia. Making connections where none previously existed, 14/05/2010 URL: http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2010/05/14/facebook-and-radical-transparency-arant.html (01.02.2013) 645 Oliver Leistert: Identifizieren, verbinden, verkaufen, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld: Transcript 2011, S. 7-31, S. 9. 646 Vgl. John Perry Barlow: A Declaration of the Independence of Cyberspace, in: Projects.eff.org, Electronic Frontier Foundation, 08/02/1996, URL: https://projects.eff.org/~barlow/DeclarationFinal.html und Howard Rheingold: The Virtual Community: Homesteading on the Electronic Frontier, Massachusetts: MIT Press 2000. 647 Vgl. Ramón Reichert: Amateure im Netz. Selbstmanagment und Wissenstechniken im Web 2.0, Bielefeld: Transcript Verlag S.9. 201 räumlich sondern auch auf die Subjektkonstitution bezog. Donna Haraway648 definierte die Benutzer_innen von Online-Foren und Netzcommunities als Cyborgs und verglich sie mit Chimären, Hybriden und Monstern.649 Die Benutzer_innen bzw. Anwender_innen von diesen vielfältigen und hypriden Identifikationsformen würden, so formuliert es Yvonne Volkhart, auf die Weise eine verrückende, verschiebende Identitätspolitik des Nicht-Authentischen und der „un/an/geeigneten Anderen“ 650 praktizieren. Paradoxerweise ist innerhalb des Rahmens von Authentizität (die Facebook Namenspolitik läßt als „es gibt nur eine wahre Realität“ zusammenfassen) die permanente Selbst-Entwicklung, Selbst-Konstruktion und die kreative Veränderung des eigenen Selbst erwünscht. Auch die anonymen Autor_innen fallen aus der Klarnamensregelung heraus, denn der Begriff des Anonymen steht den multiplen Identitäten insofern nahe, als dass sich die Autor_innen hinter einem neuen Namen oder dem Anonymen, wie hinter einer Maske, verstecken können oder spielerisch mit vielen Namen unterschiedliche Identitäten konstruieren können. Dana Boyd hebt das Recht auf Anonymität vor und verurteilt die KlarNamenspolitik von Facebook: „The people who most heavily rely on pseudonyms in online spaces are those who are most marginalized by systems of power. ‚Real name‘ policies aren’t empowering; they’re an authoritarian assertion of power over vulnerable people.“651 Boyd hat auf verschiedenen Internet-Seiten Stimmen von Benutzer_innen gesammelt, die sich zu der „Klar-Namen“-Debatte äußern: - „I started using [this name] to have at least a little layer of anonymity between me and people who act inappropriately/criminally. I think the ‚real names‘ policy hurts women in particular.“ - „We get death threats at the blog, so while I’m not all that concerned with, you know, sane people finding me. I just don’t overly share information and use a pen name.“ - „This identity was used to protect my real identity as I am gay and my family live in a small village where if it were openly known that their son was gay they would have problems.“ 648 Donna Haraway: Monströse Versprechen. Coyote- Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft, Hamburg: Argument 1995, S. 21. 649 Vgl. Yvonne Volkart: Monströse Körper: Der verrückte Geschlechtskörper als Schauplatz monströser Subjektverhältnisse, in: Medien Kunst Netz. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, 2001, URL: http://www.medienkunstnetz.de/themes/cyborg_bodies/ (01.02.2013). 650 Ebd. 651 Dana Boyd: ‚Real Names‘ Policies Are an Abuse of Power ), in: Apophenia. Making connections where none previously existed, 04/07/2011. URL: http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2011/08/04/real-names.html (01.02.2013) 202 - „I go by pseudonym for safety reasons. Being female, I am wary of internet harassment.“652 Trotz der vorgegebenen Geschäftsbedingungen hinsichtlich der Nennung des bürgerlichen Namen und der Gesichtserkennungsfunktion der Profilbilder, gehen viele Benutzer_innen von Facebook spielerisch mit ihren Profilen um und verstoßen auf diese Weise gegen die heteronormativen „Klar-Namen“- Richtlinien (Wahl zwischen männlich oder weiblich) von Facebook mit dem Risiko, ohne Ankündigung „gelöscht“ zu werden. 6.3.1.1 Finanzielle Verwertung der autobiografischen Daten der Benutzer_innen Ausgehend davon, dass die Daten in der Facebook-Timeline zum Leben der Benutzer_innen gehören, nenne ich sie autobiografische Daten. Wie aber werden diese autobiografischen Daten von Facebook finanziell weiterverwertet? Zwei wichtige Instrumente für das Facebook-Unternehmen sind das bereits erwähnte Open Graph Protocol und das Social Graph. Das Open Graph Protocol basiert auf der Idee, sämtliche Online-Aktivitäten „sozialer“ zu gestalten, das heißt konkret, Facebook-externe Webseiten mit der Plattform zu verknüpfen und die Aktivitäten der Nutzer_innen mit Facebook-Profilen zu verlinken. Das Open Graph Protokoll ist eine offene Schnittstelle, die beispielsweise aus dem populären Like-Button (Mir-Gefällt-Button) besteht, der einfach als Plug-In auf persönlichen Webseiten zu installieren ist. Über diesen Like-Button653 lassen sich Vorlieben und Interessen der Benutzer_innen von Facebook statistisch auswerten und in den Social Graph einbinden. Der Social Graph ist ein Marketing-Tool. Es ist eine repräsentative, grafische Methode, um das Beziehungsgeflecht mit ganz unterschiedlichen Informationen einer Benutzer_in zu ihren Freund_innen, Bekannten und Verwandten in der Onund Offline-Welt darzustellen. Es liefert für Werbetreibende wichtige Informationen für ihre Kampagnen. Facebook benutzt diese Form von „Global Mapping“ um die enthaltenen Informationen als Produkt an andere Unternehmen zu verkaufen. Carolin Gerlitz spricht in diesem Zusammenhang von einer sogenannten „Like Economy“. „Die Like Economy kann [...] zum einen als datenintensive Infrastruktur verstanden werden, in der die Aktivitäten von NutzerInnen konstant gemessen und quantifiziert werden. Zum anderen ist sie performativ, da sie erstens diese Aktivitäten durch die Bereitstellung von Buttons erst ermöglicht und zweitens zur Formation von skalierbaren sozialen Assemblagen, in denen sich die Interaktionen mit den Webinhalten exponentiell vermehren sollen, beiträgt.“654 652 653 Ebd. Bereits wenige Tage nach der Vorstellung des Open Graphs wurden die Funktionen auf über 100.000 Websites eingebunden. Mittlerweile nutzen über eine Million Websites die verschiedenen Funktionen des Open Graphs. http://de.wikipedia.org/wiki/Facebook, (01.02.2013). 654 Carolin Gerlitz: Die Like Economy. Digitaler Raum, Daten und Wertschöpfung, in: Oliver 203 6.3.1.2 Facebook: Prototyp von immaterieller Arbeit Im Internet sind Handlungen, insofern sie überhaupt von anderen registriert werden, üblicherweise nicht sichtbaren Akteuren zugeschrieben. Schon die Bezeichnung Facebook verschiebt die Unsichtbarkeit der Akteure in einen Sichtbarkeitsradius, insofern die Benutzer_innen ihr Profil mit (Gesichts-)Bildern und Beschreibungen anreichern: das Unternehmen Facebook nimmt zum einen die körperliche Foto-Dokumentation (Gesicht) seiner Benutzer_innen in ihrem Profil als Ausgangspunkt und erweitert dieses durch die Sichtbarmachung via Text und Bild der sogenannten inneren Lebenswelt (Meinungen, Empfindungen, Haltungen). Als die Möglichkeit in Eigenregie die eigene Sichtbarkeit zu platzieren formuliert es Thomas Benkel, die vor allem das abbildet, was man von sich selbst abgebildet und dargestellt wissen möchte. Entscheident sei, dass die Akteure sich nicht nur selbst für andere sichtbar machen, sondern dass sie auch ihre wechselseitige Sichtbarmachung sichtbar machen.655 Das Vernetzen der „Freunde“ mit und zueinander findet nicht als Geheimveranstaltung statt, sondern ist üblicherweise (sofernkeine „Privatsphären-Einstellungen“ vorgenommen werden, die dies explizit unsichtbar halten –eine Verheimlichungspraxis, von der Facebook abrät) ein nachvollziehbarer, in tabellarischer Anordnung abgebildeter Teil der Selbstdarstellung, also einer von mehreren Bausteinen der „Plakatierung“ des Ichs.656 Das multinationale Netzwerk-Unternehmen Facebook stellt einen Prototypen von „immaterieller Arbeit“ dar, in dem sich keine Trennlinien mehr zwischen Arbeit, Freizeit und Repräsentation finden lassen. Immaterielle Arbeit findet dort nicht unter Zwang statt. Die Benutzer_innen stellen ihre Interessen, Kommentare, Geschichten und Meinungen aus eigenem Antrieb zur Verfügung. Die Benutzer_innen leisten auf vielfältige Weise Gratis-Arbeit; ihre sozialkommunikativen Aktivitäten bilden die Ressource für Marketing, Vertrieb etc. und reduzieren, bei mit Facebook kooperierenden Unternehmen, Kosten. Zum einen sind die partizipierenden Benutzer_innen keinen vergleichbaren Zwängen mehr unterworfen, wie im Fabrikregime der Disziplinargesellschaft, zum anderen werden Interaktion, Flexibilität und Selbstverwirklichung zu vorgeschriebenen Maßstäben für Beruf und Freizeit: sich selbst zu präsentieren, zu verlinken, zu bewerten, zu optimieren - sich rundum zu managen. Das permanente Aktualisieren und Verlinken der eigenen Selbstdarstellung in der „FreundeCommunity“ folgt dem Appell: Sei unternehmerisch, gestalte und verlinke Deine Lebenslinie! Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld: Transcript 2011, S. 101-123, S. 107. 655 Thorsten Benkel: Die Strategie der Sichtbarmachung. Zur Selbstdarstellungslogik bei Facebook, in: Nils Zurawski/Jan-Hinrik Schmidt/Christian Stegbauer (Hg.): Phänomen „Facebook“. Sonderausgabe von kommunikation@gesellschaft, Jg. 13, Beitrag 3. S. 1. 656 Ebd. S. 3. 204 Facebook kann, so meine These, alle technologischen Dispositive in einer Lebenslauf-Timeline zusammenfassen, mit denen man sich gegenwärtig im Internet selbst-repräsentieren bzw. life als „On-line -Körper“ präsentieren kann. 6.4 Die Krise regeln wir unter uns: Eine Marketingstrategie Die Krise regeln wir unter uns, mit diesem Motto, das einer Rezeptur zum politischen Self-Empowerment ähnelt, tauchte Anfang 2010657 in verschiedenen spanischen Kommunikationsmedien, eine breitgestreute Kampagne auf, die es ebenfalls auf die Produktion von Öffentlichkeit und auf die Selbst-Repräsentation von prekären Lebensverhältnissen anlegte. Auf den ersten Blick lassen sich viele Praktiken der Selbst-Repräsentation wiederfinden, die sich bereits als künstlerische oder neue Kommunikationsformen durchgesetzt hatten: Blogs, selbstproduzierte Videos, Flyer, Aufkleber und Interventionen. Grundlage bildete der Wunsch der Initiatoren, dass Betroffene im krisengeschüttelten Spanien zu sich und zu anderen finden, das Zutrauen entwickeln, die Sache (die Krise) selbst in die Hand zu nehmen, um gemeinsam die schwierige Zeit zu überwinden. Die Webseite www.estosoloarreglamosentretodos.org,658 die die vier Landessprachen (galizisch, spanisch, baskisch und katalanisch) berücksichtigte und auf diese Weise an eine nationale Einheit appellierte, wurde zur Plattform dieser Kampagne. Als Basis diente der Aufruf an alle Besucher_innen der Webseite, persönliche Beiträge in Form von Videos oder Texten zu erstellen, die von den kleinen alltäglichen, gemeinsamen Taten zeugen, um alleine oder in Gemeinschaft die Krise zu meistern. „Die Krise ist nicht nur da draußen, sie ist auch in unseren Köpfen. Sie hat es geschafft, dass wir das Vertrauen in uns verloren haben, dass wir im Pessimismus und der Mutlosigkeit gefangen sind. Das ist das Allererste, was wir angehen müssen: wir müssen das Vertrauen wiedergewinnen. [...] Hier auf der Webseite findet Ihr einige Gründe. Geschichten von Menschen, die so sind wie du und ich, die mit schwierigen Momenten konfrontiert waren, die uns zeigen, was man durch Begeisterung, Hingabe und Engagement alles erreichen kann. Wir müssen dieses Vertrauen genauso verbreiten, wie der Pessimismus verbreitet wurde. Denn wenn du und du und du und ich, wenn wir zu einem gemeinsamen Wir werden, dann gibt es nichts was wir nicht meistern können.“659 Allerdings handelte es sich bei den Urhebern dieser Partizipations-Kampagne um den mächtigen Zusammenschluss unter dem Namen Fundacion Confianza 657 Die Kampagne wurde am 25. Februar 2010 eingeweiht. Inzwischen ist die Webseite aus dem Netz genommen. 658 Esto solo arreglamos entre todos (Das regeln wir allein unter uns). Das „das“ bezieht sich auf die Krise: Die Krise regeln wir allein unter uns! [Übersetzung A.S.]. 659 O. A.: Estosololoarreglamosentretodos.org, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, 28/02/2010, http://es.wikipedia.org/wiki/Estosololoarreglamosentretodos.org (01.02.2013) [Übersetzung A.S.]. 205 (Stiftung Vertrauen) von multinationalen Konzernen wie Telefónica, Iberia, El Corte Inglés, BBVA, Santander, La Caixa, Caja Madrid, Repsol, Cepsa, Endesa, Iberdrola, Mapfre, Abertis, Mercadona, Indra, Renfe und Red Eléctrica. Der Auftrag, diese positive Einstellung der Selbst-Initiative ins Land zu bringen, wurde an die junge erfolgreiche spanische Werbeagentur SCPF660 vergeben. Die Kampagne erhielt von der spanischen Handelskammer Rückendeckung, und die vier Millionen Euro Kosten der Kampagne wurden von dem Zusammenschluss der Bauwirtschaftgesellschaft Seopan getragen. Auf die Webseite wurden viele kleine Geschichten von Leuten hochgeladen, die mit ihrer Geschichte einen Beitrag gegen die allgemeine Krise leisten wollten und auch bekannte spanische Persönlichkeiten aus den Medien gesellten sich mit Alltagsgeschichten dazu, um dem Ganzen ein möglichst populäres humanes Gesicht zu geben. Am Beispiel von estossoloarreglamosentretodos.org lässt sich aufzeigen, wie von Seiten der spanischen Wirtschaft mit Praktiken der Kommunikations-Guerrilla (Aufkleber, Blogs, soziale Netzwerke, Fakegeschichten, Virale Mails) ein Versuch unternommen wurde, die Teilnahme eines jeden, einer jeden zu erwirken, um schlussendlich das Vertrauen in das System und in die kapitalistische Wirtschaftspolitik des Neoliberalismus zu festigen. Nachdem deutlich wurde, wer hinter der Kampagne steckte, gab es relativ viele Proteste, die allerdings überwiegend im Internet stattfanden - es wurden Webseiten erstellt, die der Originalseite zum Verwechseln ähnlich sahen, sich aber Estos solo arreglamos SIN ellos (Das regeln wir alleine, aber ohne die[Übersetzung A.S.]) nannten und die Werbekampagne kritisierten. 6.5 Zusammenfassung: Erster und zweiter Teil Bei den Beispielen in dieser Arbeit handelt es sich um sehr unterschiedliche Formen von Unbehagen, die mit Hilfe von künstlerischen Praktiken, wie zum Beispiel der dokumentarischen Aufzeichnung, der Fiktion, der Inszenierung, der Fragmentarisierung, dem Namen als Maske, der Selbst-Reflexion und der SelbstReferenz, ins Feld der Sichtbarkeit gerückt werden. Den Fokus auf die Autobiografie begründe ich damit, dass sie als Medium der biografischen und öffentlichkeitsorientierten Selbst-Repräsentation verstanden wird, die besonders vor dem Hintergrund ihrer sozial-kommunikativen Funktion an gemeinschaftlicher Bedeutung gewinnt, und die Produzent_innen im besten Fall auf diese Weise ihre soziale Wirklichkeit umarbeiten. Der Begriff der Repräsentation, wie ich ihn in dieser Arbeit verwende, bezieht sich auf das Vorgehen der Autor_innen, etwas Abwesendes, ihre eigene soziale Lage betreffend, anwesend zu machen. Dies spielte sich nicht ausschließlich im Visuellen, im Sichtbaren und Unsichtbaren ab, sondern auch im Sagbaren und Nicht-Sagbaren und fragt, ob es als Anwesendes Anerkennung und Gehör findet (Öffentlichkeit für ein Unbehagen schafft). Repräsentation wurde als Beziehungsgeflecht, als ein „Eingebettet -Sein“ in einen sozialen Kontext oder mit Marta Malo de Molinas (Precarias a la deriva) Worten, mit dem „EingewachsenSein“, verstanden. Daraus erklären sich auch die sozio-historischen Exkurse oder Einführungen, die ich für die jeweiligen Beispiele vorgenommen habe. Sie 660 Webseite der Werbeagentur SCPF: http://www.scpf.com/ (01.02.2013). 206 kontextualisieren die Beispiele in einer möglichen lokalen Repräsentationsgeschichte vor dem Hintergrund ihrer sozialhistorischen Verwicklungen. Um den Sprung in den dritten Teil dieser Arbeit zu machen, fasse ich zusammen, dass Selbst-Repräsentation, wie sie hier verstanden wird, auch das Intervenieren in einen hegemonialen Diskurs darstellt, deren Produzent_innen mit einem pluralen Ich operieren. Insofern gewinnt der bereits am Anfang erwähnte Hinweis auf die didaktische, informative, kommunikative, agitatorische bzw. mobilisierende Funktion der Selbstzeugnisse, die unmittelbar das Persönliche betreffen (Lebenslage, Arbeitsbedingungen, Körper, Geschlecht, Rasse), grundlegend an Bedeutung. Allerdings, und damit endete der zweite Teil, gibt es ein Dilemma: das kooperierende, widerständige Ich, die Kritik, die Produktion von Subjektivitäten und Konstruktionen von vielschichtigen Realitäten sind in die neokapitalistische Verwertungslogik miteingegangen. Es gilt also im dritten Teil der Arbeit zu fragen, inwieweit autobiografisches Vorgehen bzw. politische Selbst-Repräsentationen erneut relevant werden können. DRITTER TEIL: KRISE. NEUE KOLLEKTIVE SELBST-REPRÄSENTATIONEN? 7. Repräsentation und Krise: Verschuldete Körper „ [...] debt has come to pervade every aspect of our lives. International relations are all about debt, modern nation-states run on deficit financing, and consumer debt drives the economy [...]. Similarly, most uprisings, revolts, insurrections, mass political mobilizations in human history have been about debt [...].“661 Im Wörterbuch wird Krise als „eine problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation“ definiert. Krise sei eine „(Ent-)Scheidung“, „entscheidende Wendung“ und bedeutet eine „schwierige Situation, Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt“.662 In „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ analysiert Maurizio Lazzarato die gegenwärtige Krise und widerspricht verkürzten Überlegungen von Expert_innen, Schulden seien das Ergebnis von konsumistischen Exzessen der Bürger_innen und der Banken.663 Vielmehr sei die kapitalistische Organisation grundsätzlich durch Schulden, dem Verhältnis von Gläubiger_in und Schuldner_in, als allgemeines Prinzip aufgebaut. Lazzarato betont, dass die kapitalistische Selbstverschuldung Teil von Prozessen sei, die die Subjekte zum einen als freie hervorbringe und sie zum anderen unter das Diktat ganz bestimmter Verwertungsrichtlinien stelle bzw. unterwerfe. Alain Ehrenberg wiederum spricht von der aktuellen Krise in der Gesellschaft, als 661 David Graeber zitiert in Alex Bradshaw: An Interview With David Graeber: Debt’s History, Implications, and Critical Perspective, in: No borders. Louisville´s Radical Lending Libary 4/2011, URL: http://imaginenoborders.org/blog/alex/graeber-debt/ (02.02.2013). 662 Duden, Bd. 7: Das Herkunftswörterbuch: Etymologie der deutschen Sprache. Die Geschichte der deutschen Wörter bis zur Gegenwart, Mannheim: Bibliographisches Institut 2001, S. 388. 663 Maurizio Lazzarato: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Essay über das neoliberale Leben, Berlin: b_books 2012. 207 eine depressive Gesellschaft die unter dem Zwang zur Selbstverwirklichung leide. Zehn bis fünfzehn Prozent aller Depressionspatienten begingen Selbstmord. Die Depression sei nicht nur zu einer Krankheit einzelner, sondern zu einem Sinnbild für den Zustand ganzer Gesellschaften geworden.664 „Seit Beginn der europäischen Wirtschaftskrise steigen in den betroffenen Ländern die Selbstmordraten. Häufig wird der Freitod öffentlich inszeniert, um auf die schlechte Lage aufmerksam zu machen. Experten sehen die harte Sparpolitik als Ursache für die Verzweiflung vieler Menschen.“665 Mit dem Zwang zur Selbstverwirklichung, der Aufforderung Unternehmer_in seiner/ ihrer Selbst „zu sein“ ist das Risiko verbunden, an sich selbst zu scheitern. Die Schuldzuweisung gilt dem Einzelnen, da Erfolg und Scheitern als Selbstverantwortung verinnerlicht wird.666 Das heißt konkret, sich selbst die Schuld zu geben, wenn am Ende des Monats das Geld nicht reicht, um die Miete zu zahlen.667 Sich selbst die Schuld zu geben ist gewissermaßen der moralische Aspekt der prekarisierten Lebensverhältnisse in Bezug auf das Selbstmanagement. Die Verschuldung in Form von Darlehen und Krediten geht einher mit der kapitalistischen Wunschproduktion, bestimmten Lebensstilen und Forderungen wie bspw. „technologisch up to date“ zu sein. Schuld gibt es also auf verschiedenen Ebenen: der nationalen, der ökonomischen und der moralischen und spielt sich entsprechend in unterschiedlichen Territorien ab (in Beziehungen zwischen Personen, zwischen Ländern u.a.). Wie werden diese unterschiedlichen Formen von Verschuldung sichtbar? 668 In Bezug auf ein Land macht sich dessen Verschuldung bemerkbar, indem es bspw. staatliche Unternehmen privatisiert, um an Geldreserven heranzukommen bzw. um den Forderungen der Gläubiger nachzukommen. Wie aber kommt das Unbehagen über diese Verhältnisse von Personen zum Ausdruck, die sich verschuldet haben und rückzahlungunfähig sind? In Zeitungsartikeln wird über die radikalste Form des Zum-Ausdruck-Kommens berichtet. „Augenzeugen zufolge rief der 77-Jährige ‚Ich habe Schulden, ich halte das nicht mehr aus‘, bevor er sich während des morgendlichen Berufsverkehrs nahe eines U-Bahn-Ausgangs in 664 Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Aus dem Französischen von Manuela Lenzen/Martin Klaus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S.80. 665 O.A.: Krawalle in Athen nach Suizid eines Rentners, in: Der Spiegel 05/04/2012, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/athen-selbstmord-eines-rentners-sorgt-fuer-krawalle-inathen-a-825866.html (02.02.2013). 666 Vgl. Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. 667 Bei dieser Betrachtung wird, neben anderen sozio-ökonomischen Faktoren, ausser acht gelassen, dass die Mieten in vielen Metropolen inzwischen durch gewinnbringende Spekulation in die Höhe getrieben wurden und dass, besonders im kulturellen und sozialen Sektor, Projektarbeiten oftmals schlecht bezahlt werden. 668 Im Spanischen, wie im Englischen gibt es für diese beiden unterschiedlichen Formen der Schuld jeweils ein unterschiedliches Wort: Schuldgefühl (span. Culpa) und ökonomische Schuld (span. Deuda). 208 den Kopf schoss. In seinem Mantel wurde ein handschriftlicher Abschiedsbrief gefunden. Darin nannte er die Politik sowie die wirtschaftlichen Unwägbarkeiten, die ihn in den Tod getrieben hätten.“669 Die Bilder, die die Artikel über Suizid begleiten, bestehen sehr oft aus Fotos vom Tatort, Straßenabsperrungen oder dem Bild vom Abtransport eines Sarges und in Fernsehberichten werden Interviews mit Nachbarn oder Bekannten der Verstorbenen gezeigt. In den seltensten Fällen erfahren wir nähere Einzelheiten über die Person.670 Im Gegensatz dazu stehen öffentlich in Szene gesetzte Suizide, wie bspw. Selbstverbrennungen, in denen der Tatvorgang für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Der zuvor zitierte Zeitungsartikel bezog sich auf Griechenland, aber auch in Spanien berichten die Medien unlängst von Suiziden, die im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise stehen. „Eine Frau stürzt sich in Barakaldo aus dem Fenster als ihre Wohnung zwangsgeräumt werden sollte.“671 Schon in der Schlagzeile des Artikels, der einen Bericht über Suizid ankündigt, wird die Annahme geäußert, dass der Freitod der Person mit der Wirtschaftskrise in Relation steht, nämlich die Zwangsräumung der Wohnung der Suizidantin. In Spanien finden jeden Tag 532 Zwangsräumungen (2012)672 statt. Die extremste Form einer Reaktion auf Unbehagen und der als ausweglos empfundenen Situation ist der Moment, in dem Menschen beschließen, sich das Leben zu nehmen. Die scheinbar individuelle und spontane Handlung eines Suizides liegen meist soziale Ursachen zu grunde, je stärker soziale Faktoren Ungleichgewicht in der Gesellschaft produzieren, desto höher ist die Zahl der Personen, die Suizid begehen. Forscher_innen zeigen in verschiedenen Studien673, dass entweder 669 O.A.: Schuldennot Krawalle in Athen nach Suizid eines Rentners, Der Spiegel, 4/2012, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/athen-selbstmord-eines-rentners-sorgt-fuer-krawalle-in-athen-a825866.html (02.02.2013). 670 Größtenteils folgen die Medien den Empfehlungen für Suizidprävention, um dem sogenannten Werther- bzw. Copycat- Effekt zu verhindern, der aus der Nachahmung eines Suizids besteht. Vgl. Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: Suizide, Suizidversuche und Suizidalität. Empfehlungen für die Berichterstattung in den Medien, URL: http://www.suizidprophylaxe.de/Medienempfehlung%20DGS.pdf (02.02.2013). 671 Sergio Llamas: Una mujer muere en Barakaldo tras lanzarse por la ventana cuando la iban a desahuciar, in: El Correo, 09/1/2012, URL: http://www.elcorreo.com/vizcaya/20121110/local/suicida-mujer-barakaldo-tras-201211091010.html (02.02.2012). [Übersetzung A.S.]. 672 Der allgmeine spanische Richterbund publizierte 2012 die Erhöhung von 517 auf 532 Wohnungsräumungen pro Tag. In den ersten 6 Monaten von 2012 wurden 94.502 Zwangsräumungen vorgenommen. Vgl. PAH (Plattform der Betroffenen, die von Zwangsräumung bedroht sind) http://afectadosporlahipoteca.wordpress.com/tag/ilp/ (02.02.2012). 673 Vgl. für den Zusammenhang von Krise und Suizid, Emil Durkheim: Der Selbstmord, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, das Kapitel Altruistischer Selbstmord, S. 242-340 und Kevin Anderson/Eric A. Plaut (Hg.): Karl Marx: Peuchet: vom Selbstmord, Köln: Neuer ISP 2001. Vgl. auch Ben Barr/David Taylor-Robinson/Alex Scott-Samuel/Martin McKee/David Stuckler: Suicides associated with the 2008-10 economic recession in England: time trend analysis, Department of Public Health and Policy. University of Liverpool 2012, URL: http://www.bmj.com/content/345/bmj.e5142 (02.02.2013). 209 individuelle Veranlagung oder soziale Organisation und Bedingungen, die das Funktionieren des gemeinschaftlichen Lebens in einer Gesellschaft stören, (ökonomische, nationale Krisen, Krieg, etc. ) Auslöser für Suizid sind.674 Auch in Filmen wurde die Relation zwischen Lebens- bzw. Arbeitsbedingungen und Suizid thematisiert. In Sergei Eisensteins Film „Streik“ (1925)675 führt der Selbstmord des Arbeiters Yakov Strongen zum Streik der unzufriedenen Fabrikarbeiter im vorrevolutionären Russland. Auch in dem deutschen Film „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt“676 (1931), für den Bertolt Brecht das Drehbuch schrieb, wird der Selbstmord eines Arbeiters als letzter Ausweg beschrieben. Die Szene mit dem Titel „Ein Arbeitsloser weniger“ beginnt mit dem Sturz des jungen Arbeiters Bönicke aus dem Fenster. Die jeweiligen Protagnoisten Yavok Strongen und Bönicke erhalten im Film zwar einen Eigennamen, werden aber nicht als Charaktere vorgestellt, sondern stehen von Anfang an für die soziale Klasse der arbeitslosen Proletarier_innen. Die Szene des Selbstmordes kann bei Brecht als Erweiterung des sozialkritischen Aspekts interpretiert werden und nicht als Dramatisierung der Geschichte, denn in ihr wird nicht das individuelle Leben des Arbeiters Bönicke hervorgehoben, sondern die Handlung bezieht sich auf die Gesellschaft und speziell auf die Ausbeutung der Arbeiter_innen. In „Streik“ und „Kuhle Wampe“ wird die Biografie der Person als ein pluraler Körper inszeniert, indem er kollektive Solidarisierung und Protest auslöst. Suizid ist die extremste Form in der Unbehagen zum Ausdruck kommt und gleichzeitig ein Leben auslöscht. Seit einiger Zeit heben die spanischen Zeitungen in ihren Schlagzeilen die Bedrohung vor Zwangsräumung als Motiv des Suizids hervor und schreiben nicht mehr über persönliche Veranlagung zu suizidalem Verhalten. Dies zeigt, dass die Redaktionen der Zeitungen das Problem der Verschuldung bzw. der Rückzahlungsunfähigkeit nicht weiter privatisieren können. Zu groß waren die Proteste gegen die sich verschlechternde Wohnungssituation und die zunehmende Prekarisierung in den letzten Jahren, die ihren Höhepunkt 2011 mit den Protesten der 15M-Bewegung und der Besetzung der wichtigsten Plätze in ganz Spanien hatte. Anfang 2011 begannen in Tunis die allgemeinen Unruhen, nachdem sich der tunesischer Gemüsehändler Mohamed Bouazizi durch Selbstverbrennung auf der Straße von Ben Arous das Leben nahm. Viele Menschen wurden durch Bouazizis Geschichte und sein Bild mobilisiert, um gegen das Regime des Zine El-Abidine 674 Vgl. Informationen über die Selbstmordserie bei dem französischen Unternehmen France Télécom. Hier haben sich zwanzig Mitarbeiter 2007 das Leben genommen. In verschiedenen Medien und von Gewerkschaften wurde die Selbstmordserie mit dem schlechten Arbeitsklima bei der französischen Firma gesetzt. Auch bei dem i-Phone-Hersteller Foxconn haben sich binnen weniger Monate zehn Angestellte das Leben genommen. Arbeiter_innen werfen dem Konzern unerträgliche Arbeitsbedingungen vor. 675 Sergei Eisenstein: Streik, [DVD] UdSSR: Goskino 1925. 676 Slátan Dudow: Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?, [DVD] Deutschland: Prometheus Film 1932. 210 Ben Ali zu demonstrieren. In Folge der Proteste in Tunesien gingen auch in Ägypten, Libyen etc. die Leute auf die Strasse. Ausgehend von medial-vermittelten Bildern der Proteste läßt sich auch von Ansteckung durch Übertragung der Proteste auf andere Länder sprechen. Judith Butler, die in ihrem Text zu OWS kurz auf die Funktion der Medien hinsichtlich ihrer Rolle der Übertragbarkeit der Proteste eingeht, betont, dass die Besetzungen ohne mediale Vermittlung nicht stattgefunden hätten. „Man könnte meinen, [...] dass die Öffentlichkeit durch Twitter und andere virtuelle Technologien entkörperlicht wird, aber ich würde dem widersprechen. Die Medien können nur dann ihr Ereignis bekommen, wenn diese Körper auf den Straßen sind, auch wenn die Straße nur auf die globale Bühne kommt, wenn es die Medien gibt.“677 Zwar besetzten die Menschen in Spanien aus anderen Gründen als in den arabischen Ländern die Plätze, doch auch für die 15M Bewegung war die sozial kommunikative Bedeutung des ansteckenden medialen Selbst-Bildes, das andernorts ebenfalls mobilisiert, von Bedeutung, eben weil es übertragen wurde. Zwar richten sich die Proteste in Spanien nicht gegen die klassische Form einer Militärdiktatur oder eines Unterdrückungsregimes, so steckt in dem Slogan No nos representan (Sie repräsentieren uns nicht) jedoch die Anklage seitens der Betroffenen von neoliberalen Reformen, dass sie sich politisch von ihrer Regierung nicht mehr vertreten fühlen. „ [...] neither Putin nor Mubarak and Ben Ali, neither the bankers on Wall Street nor the IMF, neither the media elite nor the political parties, neither the deputies nor the artists and intellectuals – none of them – represents ‚us‘, nor can they or should they represent ‚us‘. They cannot represent this ‚us‘ that presents itself as a multitude of citizens who refuse formalized modes of political unity, who insist on a singularity fundamentally irreducible to all forms of representation, who seek to preserve their individual autonomy to make and pursue decisions while simultaneously attempting to acquire a new experience of collectivity, of unity around a common cause.“678 Aber auch die unmittelbare kollektive Präsentation der vielen Singularitäten, die in der Praxis der direkten Demokratie mündet, wie sie in dem Zitat gepriesen wird, kann nicht auf Repräsentation oder Übertragung verzichten. Allerdings, und darauf zielt das Zitat ab, geht es um ein Wir, das sich politisch selbst präsentiert oder repräsentiert und nicht durch Andere, eine Regierung, Delegierte oder private Medienunternehmen repräsentiert wird. 677 678 Judith Butler: Körper in Bewegung und die Politik der Strasse, 4/2011, S.121. ‪Dmitry Vilensky: In Defense of Representation, in: Chto Delat, 4/2012, URL: http://www.chtodelat.org/index.php?option=com_content&view=article&id=1019%3Admitryvilensky-in-defense-of-representation&catid=241%3A10-34-in-defence-ofrepresentation&Itemid=490&lang=en (02.02.2013). 211 7.1 Ein Rückblick auf die sozialen Bewegungen der letzten Jahre: No nos representan (Sie repräsentieren uns nicht) „Die soziale Emanzipation war zugleich eine ästhetische Emanzipation, ein Bruch mit den Weisen zu fühlen, zu sehen und zu sagen, die jene Arbeiteridentität in der alten hierarchischen Ordnung kennzeichneten. Diese Zusammengehörigkeit von Sozialem und Ästhetischem, von der Entdeckung der Individualität für alle und dem Projekt einer freien Gemeinschaftlichkeit war das Herz der Arbeiteremanzipation.“679 Wie meine bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist jene Gemeinschaftlichkeit von der Jacques Rancière in diesem Zitat spricht, im Laufe der historischen Entwicklung abhanden gekommen: nicht nur durch die Institutionalisierung oder Merkantilisierung von Kritik, sondern auch seit dem Mauerfall in Berlin 1989, der noch einmal mehr verdeutlicht, dass es zu der neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung als vorherrschende Struktur keine realexistierende Alternative gibt, und dass auf unheimliche Weise die Spuren der lokalen soziopolitischen Geschichten und Bewegungen der Länder im Osten, im Süden und in ehemals sozialistisch regierten Länder verschwunden sind. Die These dieses Abschnittes ist, dass sich hinter der Formulierung No nos representan sehr viele unterschiedliche Unbehagen versammeln und dass genau diese Vielheit ein „Wir“ bildet, das keinen identifizierbaren Namen erhalten soll. Wie verhält sich der Name hinter dem sich viele verbergen in Bezug zur sozialen Wirklichkeit? In welcher Beziehung steht Anonymität bzw. Namenlosigkeit? Bei den vorherigen Beispielen handelt es sich um sehr unterschiedliche Unbehagen deren Produzent_innen wir aus heutiger Sicht immer einer bestimmten Öffentlichkeit, politischen Position oder kollektiven Identität zuordnen können. Feministinnen, Arbeiter_innen, Prekarisierte etc. Was ist aber, wenn diese Eindeutigkeit, Differenz zum Anderen vermieden wird? Es soll hier um die SelbstRepräsentation dieser Vielzahl gehen, die sich nicht so einfach in solidarische Identitäten einordnen lassen. Gibt es Hinweise auf Möglichkeiten, die der institutionellen und kapitalistischen Verwertungslogik entgehen, indem mit Offenheit, Uneindeutigkeit, Prozess, Ambiguität, Antagonismen und Paradoxen operiert wird? Welche neuen Formen der Selbst-Repräsentation bilden sich? „Wie lassen sich Politiken der Solidarität entwickeln, die nicht auf Identität gründen, die Differenzen anerkennen, ohne sie ‚identisch‘ zu machen oder assimilatorisch anzugleichen, aber auch ohne sie partikularistisch aus der agonalen sozialen Relationalität heraus zu lösen?“680 679 680 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 47. Antke Engel: Wider die Eindeutigkeit Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt a. M.: Campus 2002, S. 235. 212 Auf Antke Engels zitierte Frage, die sich meinen Fragen anschließt und sich auf die Problematik der heterogenen Singularitäten, die sich solidarisieren, ohne jedoch ihre Differenzen aufzugeben, bezieht, antworten Oliver Marchart und Marion Hamm mit dem Versuch, diese neuen Zusammenschlüsse der politischen Solidarität als postidentitär zu bezeichnen. „Vielleicht ließen sich solche Bewegungen am treffendsten als postidentitäre soziale Bewegungen bezeichnen, da die Identität der Bewegung die Ziele ihrer Politik und die Subjektivierungsform ihrer Akteur_innen einem konstanten Prozess der (Selbst) Befragung unterworfen sind.“681 Die Bezeichnungen wie Occupy, Indignados, 11M, 13M, 25S, 15M, 12M und 99%, die als Meme oder Hashtags682 in den technologischen Kommunikationsdispositiven kursieren, versuchen den kleinstmöglichen Nenner bzw. Namen für die Pluralität der Unbehagen bzw. der Vielheit von Differenzen zu finden. Die Kombination aus Zahl und Buchstabe, wie zum Beispiel bei 13M, stellt eine biografische Koordinate dar (der 13. März 2004 markiert den Tag des AtochaAttentates in Spanien, zu dem ganz unterschiedliche Personen, unabhängig von Parteien, Gewerkschaften, Nationalitäten und Identitäten, mobilisiert haben). Als 15M wird auch die Bewegung der sogenannten Indignados genannt, die am 15. Mai 2011 in ganz Spanien die Hauptplätze in den Städten besetzten. Der Aufruf zur Mobilisierung der Indignados, zu denen sich alle Prekären zählen, erfolgte Tage zuvor. Unterschiedliche Gruppen sendeten in Spanien siebzig Tweets simultan mit dem Hashtag #15M und in weniger als einer halben Stunde war #15M in den ersten Top fünf der Trending topics bei Twitter. „In wenigen Wochen verwandelte sich mein Facebook-Account von einem Schaufenster meines Lebens in eine Online-Berichterstattung der Gegeninformation. Dieses soziale Netzwerk, das dazu designt ist, die eigenen Egos auszustellen, konvertierte in eine Waffe der kollektiven Organisation sehr viel effektiver als wir es uns vorstellen konnten“683 so beschreibt Klaudia Álvarez ihre Erfahrung von der Vorbereitung und Organisierung der 15M- Mobilisierung. Diese Form der viralen Verbreitung von Information innerhalb der sozialen Netzwerke wurde bereits 2004 erprobt. 681 Oliver Marchart/Marion Hamm: Prekäre Bilder. Bilder des Prekären. Anmerkungen zur Bildproduktion post-identitärer sozialer Bewegungen, in: Beate Fricke/Markus Klammer/Stefan Neuner (Hg.): Bilder und Gemeinschaften. Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie, S. 378. 682 Ein Hashtag ist ein Stichwort in Form eines Tags, das insbesondere bei Twitter Verwendung findet. Die Bezeichnung stammt vom Doppelkreuz # (englisch „hash“), mit dem das betreffende Wort markiert wird. Vgl. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Twitter (02.02.2013). Twitter (engl. „Gezwitscher“) ist eine digitale Echtzeit-Anwendung zum Mikroblogging zur Verbreitung von telegrammartigen Kurznachrichten (Tweets), ähnlich der Form eines Schneeballsystems. 683 Klaudia Álvarez, No hay vuelta atrás, in: Nosotros los indignados, Barcelona: Destino 2011, S. 11, S. 9-23 [Übersetzung A.S.]. 213 7.1.1 11-M: Das Unbehagen über das plötzliche Eintreten des Todes in den Alltag Der Bombenanschlag in der Madrider Hauptbahnhofstation Atocha, bei dem am 11. März 2004 195 Menschen zu Tode kamen, wurde von der damaligen spanischen rechtskonservativen Regierungspartei Partido Popular (PP) und dem Regierungschef José María Aznar für die anstehenden Präsidentschaftswahlen instrumentalisiert, indem sie in den öffentlichen Medien darauf insistierten, dass es sich bei den Anschlägen um einen Terroranschlag der baskischen Untergrundorganisation ETA handelte. Relativ schnell hatten jedoch inländische und internationale Untersuchungen belegt, dass der Anschlag am 11. März (kurz: 11-M) von Al-Quaida-Anhängern verübt worden war, die mit dem Anschlag auf den spanischen Militäreinsatz in Afghanistan reagierten. Binnen 2 Tagen mobilisierten sich durch persönliche Nachrichten via Handys und E-Mails tausende von Spanier_innen, um gegen die von der Regierungspartei installierte Beschreibung der Ereignisse über das Atocha-Attentat zu protestieren. Dieser Multiplikations- und Mobilisierungseffekt via E-Mails und HandyNachrichten wird im Spanischen als Pasaló! (Gib die Nachricht weiter!) bezeichnet und führte am 13. März zu Massendemonstrationen in vielen spanischen Großstädten. Es ging darum, sich mit den Opfern und Betroffenen gegen die Stellungsnahmen der Parteien und Gewerkschaften zu solidarisieren, die an dem ETA-Anschlag festhielten. Die Mobilisierung und Politisierung mündete in den Wahlsieg der sozialistischen PSOE (Partido Socialista Obrero Español) unter Vorsitz von José Luis Rodríguez Zapatero. Durch die große Anzahl von Menschen, die aufgrund einer Nachricht von einem Freund oder einer Freundin auf ihren persönlichen Handys oder E-Mail-Accounts gelangten, bildete sich eine widerständige Masse, die sich trotz Demonstrationsverbot auf den Straßen traf, weil ihr die offizielle Geschichte über die Täter des Attentats unglaubwürdig erschien sowie als respektlose Manipulierung von Information gegenüber den Opfern des Attentats. Die Nachricht zum Aufruf, sich auf den Straßen zu treffen, hatte einen anonymen Absender. Sie kam scheinbar aus dem Nichts, sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer und personalisierte sich allein durch die Tatsache, dass sie einen über Freunde erreichte und auf diese Weise glaubhaft wurde. Die Glaubwürdigkeit der Pasaló!-Nachricht vom 11-M wurde dadurch bestätigt, dass sie von einem Bekannten, einem Freund/einer Freundin, also durch die persönliche Beziehung zu jemandem in Umlauf kam. Der ursprüngliche Autor der Nachricht spielte in diesem Fall keine Rolle mehr, sondern die Information wurde glaubhaft oder betraf einen durch den persönlichen Grad der Beziehung zum Absender. Kommt die Information von einem Unbekannten, wird sie meist schon in den Spam-Ordner des E-Mailprogrammes gefiltert und so als „unglaubwürdig“ klassifiziert. Auf den Straßen in Spanien bildete sich daraufhin ein sozialer Körper, der die Linien Freund - Feind: wir - die, der Westen - die Barbarei, Leben - Tod, rechts links verwischte und die Anti-Terrorpolitik gegenüber der ETA und den damit einhergehenden Diskurs gegen die Autonomiebemühungen bestimmter Regionen 214 Spaniens, aussetzte. Dieser soziale Körper wurde durch Affekte gebildet. Auslöser war das Entsetzen über die Nachricht des plötzlichen Todes, das in den Alltag vieler eingebrochen war und die politische Adressierung der Täter seitens der Regierung. Das Unbehagen wuchs nicht wie in den vorherigen Beispielen durch eine langsame Bewusstwerdung hinsichtlich der eigenen Situation, sondern im Affekt durch Beziehungen. „No one knew what to call it. An intelligent multitude? A connected anonymity? We were witnessing an unknown force, one that appeared by surprise, turned everything upside down and disappeared as quickly as it had arrived. I now call it the Nameless Force.“684 7.1.2 V de Vivienda (W wie Wohnraum): Das Unbehagen über die Wohnungssituation Auch Mitte März 2006 kursierten Pasaló!-E-Mails und SMS. Dieses Mal mit der Nachricht, sich zu Sitzungen an verschiedenen Orten und Plätzen in spanischen Großstädten einzufinden. Es sollte um die nicht mehr hinnehmbare Miet- und Wohnraumpolitik der Regierung und das in der Verfassung garantierte Recht auf würdigen Wohnraum685 gehen. Diese anonyme Nachricht bildete den Anfang der Bewegung von V de Vivienda (W wie Wohnraum).686 Die Nachricht, die am 14. Mai 2006 zu den Sentadas (Sitzungen, Versammlungen) aufrief, sich über E-Mails und Internetforen verbreitete, hatte keinen Absender, keine soziale oder politische Organisation, weder sogenannte Autonome, Anarchisten, Hausbesetzer_innen, Gewerkschaften, Anarchosyndikate oder ähnliche Identitäten hinterließen ihre Handschrift. Sie kam aus der Anonymität und sollte genau diejenigen erreichen, die weder politisch noch sozial engagiert waren. Es war eine Nachricht aus dem Nichts an Irgendwen. Verschiedene Autoren, unter ihnen der katalanische Philosoph Santiago López Petit und Amador Fernández-Savater haben das Vorgehen des Anonimatos (des Anonymen) genauer betrachtet und stellen die Politik der Irgendwers in Gegensatz zu der herkömmlichen Identitätspolitik, die sich aus dem alten Paradigma des Klassenkampfes oder des Geschlechterkampfes ableitet und sich von einem ganz konkreten Ort aus (der Arbeiterklasse oder der Frauenbewegung) gegen einen ganz bestimmten Feind richtet (Kapitalismus, Patriarchat). Den Agitationsrahmen der so genannten Irgendwers bildet eine allgemeine Stimmung des Postpolitischen in einer postdemokratischen Epoche. 684 Leonidas Martin Saura: The Nameless Force Behind the Protests, in: Creative Time Reports. 30/11/2012, URL: http://creativetimereports.org/2012/11/30/spain-the-nameless-force-behind-theprotests/ (02.02.2013). 685 In der spanischen Verfassung definiert der Art. 47 das Recht auf Wohnraum für alle Spanier_innen. 686 V de Vivienda bezieht sich auf den Titel des Comic- und Spielfilmes V wie Vendetta. Mit dem Namen hatte sich die Bewegung einen populären und zugleich revolutionären Namen mit einem einprägsamen Logo (Vendetta kämpft gegen ein böses Imperium) gegeben. 215 „Es geht darum, dass die politische Intervention, die eine soziale Veränderung vorschlägt, annulliert wurde. In anderen Worten: Postpolitik bedeutet, im Konzept der politischen Aktion gedacht, dass es keine Alternative zur kapitalistischen Modernisierung beziehungsweise Globalisierung gibt. Die globale Epoche ist postpolitisch, in ihr bleibt die politische Aktion neutralisiert.“687 Die bereits erwähnte E-Mail688 , die aus dem Nichts kam, hatte mit den im März 2006 kursierenden Aufrufen der unpolitischen, aber populären Botellóns689 des Frühjahres gemein, dass ihr Aufruf spontan, illegal und anonym war, allerdings mit dem Unterschied, dass sie sich für ein Recht einsetzte, das kaum noch als solches wahrgenommen wurde. Das Anliegen, sich die verschlechternde Wohnraumsituation ins Bewusstsein zu rufen, führte 2006 zu der Bewegung V de Vivienda und der Plattform Para una vivienda digna. Anfangs trafen sich kleine Gruppen auf öffentlichen Plätzen und auf der Straße, also an den Orten, die die Irgendwers durchqueren, Orte, die weder identitätspolitisch noch grundlegend ideologisch besetzt waren. Später traf man sich in besetzten Ladenlokalen oder Wohnräumen. Es bildeten sich Asambleas (Versammlungen) und Comisiones (Kommissionen), die über Wikis, Foren und soziale Netzwerke miteinander koordiniert wurden. Der Versuch, die Versammlungen, die für alle zugänglich waren, offen zu halten, ohne ihnen einen Namen zu geben, scheiterte relativ schnell und der Name V de Vivienda etablierte sich als Identitätszuweisung für die Akteur_innen. Die Asambleas hatten verschiedene Funktionen. Es gab die Generalasamblea und verschiedene Kommissionen, die sich zu bestimmten Themen und Aufgaben, die Wohnungsnot und Spekulation betreffend, organisierten. Aus der Gruppe, die für Design und Graphik zuständig war, die aus Künstler_innen, Nicht-Künstler_innen, Designer_innen und Graphiker_innen bestand, kam der Vorschlag für eine Mobilisierungskampagne unter dem Motto: No vas a tener casa en la puta vida690 Zwar gab es einige Bedenken wegen des Wortes Puta (Umgangsprache, deutsch: Nutte), dennoch stimmte die Generalversammlung der Sichtbarkeitskampagne zu. In einem ideologischen, politisch korrekt argumentierenden und militanten Kontext wäre dieser Slogan nie als Leitmotiv gewählt worden. Viel zu grundlegend wären die Argumente gegen 687 Santiago López Petit: Politizaciones apolítica, in: Espai Blanc, 20/09/09, URL: http://www.espaienblanc.net/Politizaciones-apoliticas.html (02.02.2013), [Übersetzung A.S.]. 688 Inhalt der E-Mail: Für würdigen Wohnraum, Hallo an Alle. Ich weiß, dass diese E-Mail vielen anderen E-Mails, die im Netz zirkulieren, ähnlich sieht, aber das trifft nicht zu. Diese E-Mail wird in ganz Spanien verschickt, um unsere Rechte einzufordern. Wir haben den gesamten März hindurch den Aufruf zu Macrobotellones miterlebt. Dieser Aufruf ist anders. In Frankreich protestieren die Jugendlichen für eine Änderung der ausbeuterischen Arbeitsverträge. Viele Stimmen in diesem Land haben sich darüber aufgeregt, dass die Jugendlichen hier nichts machen würden. Nun gut. Werden wir es ihnen zeigen? Diese Nachricht weiterleiten! Sonntag, 14. Mai um 17h Versammlung. Zitiert aus O. A.: Persiguiendo a la ‚V‘ de Vivienda, in: Agit- Pub. Tácticas para la comunicación social, 2007, URL: http://agitpub.wordpress.com/2007/06/06/persiguiendo-a-la%E2%80%9Cv%E2%80%9D-de-vivienda/ (09.07.2013), [Übersetzung A.S.]. 689 Botellóns sind festartige Flashmobs, bei denen überwiegend Jugendliche zusammenkommen, um sich zu betrinken. 690 Das Motto No vas a tener casa en la puta vida bedeutet umgangssprachlich ins Deutsche übersetzt: Du wirst in Deinem verfickten Leben kein Haus haben! [Übersetzung A.S.]. 216 die Verwendung des Begriffes Puta gewesen, der unmittelbar mit Ausbeutung, Sexismus und Prostitution verbunden ist. Mit dem Slogan No vas a tener casa en la puta vida, der durch Aufkleber und Plakate in ganz Spanien die nächste Demonstration ankündigte, konnten sich viele Spanier_innen identifizierten, da er keine Hoffnung, sondern die aussichtslose eigene Situation vieler Personen wiederspiegelte. Dazu im Gegensatz stehen Kampagnen wie Yes we can oder Another world is possible, die auf eine entfernte positive Zukunft verweisen. Statt Versprechungen zeigte das Motto die soziale Realität von ihrer schonungslosesten Seite: So sieht deine Zukunft aus: Du wirst nichts haben. Die Ästhetik der Plakate, Aufkleber, Webseiten und T-Shirts bezog sich auf die Farben von Baustellen (in Spanien markieren die Farben Gelb und Schwarz eine Baustelle) und bedeutet zum einen die Bezugnahme zu der Immobilienkrise, die die gesamte Bauwirtschaft lahmlegte und zum anderen drückte dies das eigene Verständnis aus: Sich-Im-Aufbau, Im-Prozess und Im-Werden zu befinden. Die so genannten Fotomatons (Fotoautomaten) wurden dazu (als Praxis) eingesetzt, um mit Passanten auf der Straße ihr Unbehagen über die Wohnraumsituation zu performen und zu visualisieren. Mit vorgefertigten Comic-Sprechblasen, die Sätze wie: „Die Hypothek bringt mich um“ enthielten, gingen die Akteur_innen auf die Straße und fragten Passanten, ob sie mit diesen Sprechblasen für Fotos posieren würden. Diese Fotos wurden dann auf der Webseite http://www.flickr.com/photos/vdevivienda/page90/ gesammelt und jeder konnte sich die verschiedenen Personen wie einen Comic ansehen. Diese vorgefertigten Sätze, die im gewissen Sinne hier persönliche Gedanken repräsentieren sollten, funktionierten eher illustrierend. Zu einem späterem Zeitpunkt, bei der 15M- und der Occupy-Bewegung, taucht die Praxis der Sprechblasen oder Schilder in veränderter Form wieder auf, dieses Mal nicht vorgefertigt, sondern von den Betroffenen selbst artikuliert bzw. geschrieben. Grundsätzlich vermied die Bewegung V de Vivienda das, was Jacques Rancière als notwendigen Dissens definiert, der eine Linie zwischen einem „Wir“ und „den Anderen“ zieht. Nach Rancière ist eine Dissens-Linie Vorraussetzung dafür, dass die Ungezählten, die Ausgeschlossenen eine Stimme bekommen, um auf diese Weise Räume der politischen Subjektivierung zu bilden. V de Vivienda stellte anstatt Dissens Zusammenschlüsse her: „Vermeide die Konfrontation mit der Polizei [...] auch nach den brutalen Angriffen der Polizei auf die zweite Sentada (Sitzblockade) in Madrid [...] Die Leute der Sentadas versuchten die Auseinandersetzung mit der Polizei zu vermeiden, indem sie sich durch Sätze wie: ‚Deine Kinder sind auch mit einer Hypothek belastet‘ mit ihnen verbündeten.“691 Auf dem Höhepunkt der Bewegung Ende 2006 gingen in Barcelona 25.000 Menschen auf die Straße. Nicht oft genug zu erwähnen ist die Medialisierung der 691 O. A.: Persiguiendo a la ‚V‘ de Vivienda, in: Agit- Pub. Tácticas para la comunicación social, 2007, [Übersetzung A.S.]. 217 Aktionen und die Produktion von eigenen Informationsnetzen. SelbstRepräsentation in Form von persönlichen Blogs, eigene Videoproduktionen, die auf YouTube hochgeladen wurden, sowie die Webseite von V de Vivienda bildeten neben der Zusammenarbeit mit den großen Tageszeitungen in dieser Form ein noch nicht da gewesenes Informationsangebot und eine neue Form von Öffentlichkeit zu der Wohnraumkrise. Viele Beteiligte wurden zum ersten Mal in ihrem Leben Produzent_innen von Informationen, die der ganzen Bewegung dienten und die darüber hinaus Meinungsbilder prägten. Die Bewegung mündete in einer Initiative, die gegenwärtig in vielen Stadtteilen und Asambleas aktiv ist: die Plattform Los afectados por la hipoteca (PAH).692 Die Bewegung von V de Vivienda693 steht mit dem Einsatz der unterschiedlichen Kommunikations-, Mobilisations- und Ausdrucksmittel (Anonymität, Foren, Internet, Blogs, E-Mails, SMS) der Vielfalt der medialen Protestformen des individuellen und gemeinschaftlichen Ausdrucks Felix Guattaris Begriff der Postmedia nahe, der an anderer Stelle in dieser Arbeit erläutert wurde. 7.1.3 Die Indignados: Das Unbehagen das Alle/s betrifft Am 15. Mai 2011 folgen geschätzte 130.000 Personen in 58 spanischen Städten dem Aufruf der Initiative Democracia Real Ya! (Echte Demokratie jetzt!)694 , sich auf den Straßen zu versammeln. Linke, Militante, Gewerkschaftler_innen, Feministinnen und Aktivist_innen spielten keine tragende Rolle, um die Leute bei der Mobilisierung unter dem Motto Toma la Calle! (Die Straße einnehmen!) am 15. Mai zu aktivierten. Im Gegenteil: der Aufruf richtete sich an all Diejenigen, die aus persönlicher Betroffenheit, aus eigenen Erfahrungen und ohne ideologische Positionierungen dazu stoßen, das was Santiago López Petit „interioridad común“695 (gemeinsame Innerlichkeit) nennt: Es sind nicht die Konzepte oder Ideen die mobilisieren, sondern Affekte. In der zweitgrößten Stadt Spaniens, in Barcelona, entscheidet man sich am 16. Mai, auf dem zentral liegenden Katalonien-Platz ein vorerst unbefristetes Zeltlager zu errichten.696 Via Twitter, Facebook, SMS und E-Mails verbreitete sich die 692 PAH (Plattform der Betroffenen von Hypotheken): Homepage, URL: http://afectadosporlahipoteca.com (12.08.2013). 693 Im Vergleich zu Spanien erfuhr die Bewegung Recht auf Stadt in Hamburg und in verschiedenen anderen deutschen Großstädten durch die Mobilisierung gegen Gentrifizierung ab 2009 ihre Höhepunkte, während die Beteiligung an den Aktionen von V de Vivienda-Aktionen im selben Jahr in Spanien tendenziell abnahm. 694 Democracia Real Ya! hatte sich als Plattform gebildet, um für die Demonstration am 15. Mai 2011 eine Mobilisierungskampagne zu starten. Die deutsche Übersetzung des spanischen Manifestes lässt sich Online nachlesen. URL: http://www.democraciarealya.es/manifiesto-comun/von-democraciareal-ya-aleman/ (02.02.2013). 695 Santiago López Petit: La interioridad común y la nueva politización, in: Espai Blanc, 19/12/06, URL: http://www.espaienblanc.net/La-interioridad-comun-y-la-nueva.html (09.09.2012). 696 Viele andere Regionen und Provinzen folgen in den nächsten Wochen dem Beispiel, sich die Hauptplätze der Städte anzueignen. Auf der Wikidot-Webseite der kollektiven Buchproduktion #RT15M befindet sich eine genaue Chronologie der Ereignisse und eine detaillierte Auflistung der spanischen Regionen. http://rt15m.wikidot.com/chronology (02.02.2013) 218 Nachricht wie ein Lauffeuer und es wurden Zelte, Versorgungspakete und Kommunikationstechnologien zum Platz geschaffen. Mit einer kleinen Performance, die die erste Begehung des Mondes nachahmte, wurde die Platzbesetzung eingeweiht. Die Fahne, die hierzu auf dem Platz installiert wurde, um das besetze Territorium zu markieren, wurde sofort Anlass zu Diskussionen, da sie das Symbol der Hausbesetzer_innen trug. Die Fahne wurde entfernt und zeigt einmal mehr, dass identifikatorische Symbole unerwünscht waren. Von den Platzbesetzer_innen als Indignados (die Empörten) zu sprechen, bedeutet hervorzuheben, dass es sie nicht gibt, dass die Bezeichnung eine Erfindung ist, um den Personen, die sich auf den Plätzen versammelten, einen Namen zu geben, sie als Indignados zu identifizieren und sie im gewissem Sinne auch definierbar und kontrollierbar zu machen. „‚Es sind die. Sie wollen das.‘ Die Politiker und die Medien drängen darauf, dass die Bewegung 15M ein ‚vollwertiger Gesprächspartner‘ wird - mit entsprechenden Vorschlägen, Programmen und Alternativen. Sie wissen, dass eine Identität keine Fragen mehr stellt, sondern ein Feld auf dem Schachbrett besetzt – oder zumindest danach strebt. [...] Sie wird regierbar.697 Die Bezeichnung die Empörten kommt ursprünglich aus der Buchpublikation von Stéphane Hessel „Empört Euch!“,698 die im Oktober 2010 in Frankreich und im Frühjahr 2011 in Spanien veröffentlicht wurde. „Wir sind hier als Einzelpersonen ohne Vertretungen“, sagte ein junger Mann in einer Asamblea, „es ist schwierig, uns vielen eine gemeinsame Stimme oder einen Namen zu geben, wir sind alle sehr unterschiedlich“ (Übersetzung A.S.) und beschreibt mit einfachen Worten die heterogenen Singularitäten, die sich als Vielheit auf dem Platz versammelten. Der Spruch, der am Plaza Catalunya auf einer Plastikplane gesprüht stand: Gib ihr keinen Namen (mit „ihr“ ist die Bewegung gemeint), verweist, so gesehen, auf den Wunsch nach Offenheit - denn ohne Namen bekommen alle möglichen und unmöglichen Fragen, Fluchtlinien und Anordnungen an einen Ort, der sie nicht an ein scharf umrissenes politisches Spektrum bindet. Somit unterscheidet sich die 15M-Bewegung auch von anderen globalen Bewegungen, denn jeder/jede Einzelne stößt aus eigenen und sehr unterschiedlichen Motiven dazu, ohne sichtbare Zugehörigkeit zu Gruppen, Initiativen oder Kollektiven. 697 Veronica Gago, Interview mit Amador Fernandéz Savater: Después de la Puerta del Sol, in: Pagina 12, 29/08/2011, URL: http://www.pagina12.com.ar/diario/dialogos/21-175561-2011-0829.html Die deutsche Übersetzung des Interviews: Die spanische Protestbewegung – eine neuartige soziale Kraft, in: Walbei.wordpress.com. Walter Bs Textereien, 9/08/2011, [Übersetzung Walter Beuer], URL: http://walbei.wordpress.com/2011/09/09/die-spanische-protestbewegung-%E2%80%93-eineneuartige-soziale-kraft/ (09.09.2013). 698 Stephane Hessel, französischer Resistancekämpfer, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald und Mitentwickler der Charta der internationalen Menschenrechte, versammelt in seinem Buch Argumente, um „sich zu empören“, sich gegen die Politik der Regierenden aufzulehnen und Widerstand gegen den Finanzkapitalismus zu leisten. Stéphane Hessel: Empört Euch! Aus dem Französischen von Michael Kokon, Berlin: Ullstein Verlag 2011 219 „Fast könnte man von unidentifizierbaren fliegenden Objekten sprechen, die auf den Radaren des traditionellen kritischen Denkens nur schwer auszumachen sind, weil ihnen die Einheit im Sprechen und Handeln fehlt und weil man sie kaum den alternativen und systemkritischen sozialen Bewegungen zuordnen kann. [...] Sie identifizieren sich weder mit der Linken noch mit der Rechten auf dem politischen Schachbrett, sondern entziehen sich diesem Muster, indem sie ein nicht identifizierbares, offenes und einschließendes Wir vorschlagen, in dem alle einen Platz haben. [...] Der Anspruch auf Schlüssigkeit und klare Linien, der die Visionen der Politiker beherrscht, wird von der Bewegung 15M ad absurdum geführt. Es gibt keine Antwort auf die (polizeiliche) Frage nach der Identität. Wer sind sie? Was wollen sie? Wir sind in einem Streik der Identität: Wir sind, was wir tun. Wir wollen, was wir sind.“699 So unterschiedlich die Personen auf den Plätzen also auch gewesen sind, sie teilen die Kritik an der regierenden politischen Klasse und dem Zweiparteien-System von Partido Popular (PP) und Partido Socialista Obrero Español (PSOE). Sie fordern ein Ende der Korruption und die Achtung der Grundrechte auf Wohnung, Arbeit, Kultur, Gesundheit, Bildung und politische Beteiligung. In den Asambleas werden Fragen zu Organisationsformen des Gemeinwesens gestellt, die in der politischen Arena des Parlamentes oder in der Presse keinen Platz finden. Die illegal angeeigneten Plätze, die mitgebrachten Zelte und die gegründeten Asambleas wurden in Essensgruppen, Aktionsgruppen, Pressegruppen, Gruppen der audiovisuellen Medien, Hygienegruppen, medizinische Versorgungsgruppen, Rechtsbeistandsgruppen etc. aufgeteilt. Die oft stundenlangen Asambleas stellten den Versuch dar, kollektives Denken zu entwickeln, das geprägt ist „durch die Aufmerksamkeit gegenüber dem, was zwischen allen entsteht, durch das äußerst großzügige Vertrauen in die Intelligenz des anderen, Unbekannten, durch das Zurückweisen von Mehrheits- und Minderheitsfraktionen und die geduldige Suche nach der einschließenden Wahrheit, durch das dauernde Infragestellen und immer wieder von neuem Infragestellen der einmal gefassten Beschlüsse, durch das Vorrecht der Debatte und des Prozesses gegenüber der Effizienz der Ergebnisse“700 . So kommentiert Amador Fernández Savater die Stimmung auf den Plätzen in seinen Aufzeichnungen, die Online in dem Blog Fuera de Lugar701 (Fehl am Platz) nachzulesen sind. Von außen betrachtet machen die provisorischen Zeltplätze im Stadtzentrum und die aus allen möglichen Materialien zusammengeschusterten Hütten auf den besetzten Plätzen die prekarisierten sozialen Lebensverhältnisse der Personen sichtbar, die durch Stadtplanung tendenziell in die Peripherien der Städte abgedrängt wurden. 699 Veronica Gago, Interview mit Amador Fernandéz Savater: Después de la Puerta del Sol, [Übersetzung Walter Beuer]. 700 Ebd. 701 Amador Fernández-Savater: Fuera de Lugar, in: Publico.es, URL: http://blogs.publico.es/fueradelugar/ (02.02.2013). 220 7.2 Occupy Wall Street: We are the 99% „The common name of Occupy brings together debt, housing, education, finance and climate as key sites of conflict between the 99 percent and the one percent.“702 Vergleichbar mit der Situation auf den Plätzen in Spanien ist die Besetzung des Zuccotti Parks703 im Finanzdistrikt der Wall Street in New York City, Occupy Wall Street (OWS)704, verlaufen: auch hier ließen sich die Besetzer_innen in keine klaren Identitäten einteilen, sondern versammelten sich unter den Begriffen Occupy und 99%. Wohl aber würden sich aufgrund der Begriffe Occupy und 99% Tendenzen aufzeigen lassen, wer sich von dem Wort und wer sich eher von der Zahl angezogen fühlt. Beka Economopoulos von dem New Yorker Kunst- und Aktivismus-Kollektiv Not An Alternative705 erklärt, dass das Wort Occupy bei vielen Amerikaner_innen mit Terror in Verbindung gebracht wird, da es in den USA keine mit Europa vergleichbare Tradition der Squatting- oder Besetzer_innenkultur gäbe, auf die man sich historisch beziehen könnte. Deshalb müsste es darum gehen, so Economopoulos, das Wort Occupy selbst neu zu besetzen mit Aktionen und mit Sichtbarkeitszonen, wie zum Beispiel das Baustellenabtrennungs-Tape, das Occupy-Tape. Die Bezeichnung 99% wirkt wesentlich harmloser und endspringt der Logik des Verrechnens, der Statistik, der Mathematik und nicht der einer politischen Handlung. Das Motto richtet sich gegen die ungerechte Verteilung von Macht und Einfluss der reichsten Amerikaner_innen, den entsprechenden 1 %, die mindestens 38 % des Vermögens besitzen.706 702 ‪Not An Alternative‬: ‪Occupy: The Name in Common‬, in: Creative Time Reports, 15/11/2012, URL: http://creativetimereports.org/2012/11/15/occupy-the-name-in-common/ (02.02.2013). 703 Im Laufe der Occupy-Besetzung erhält der Platz seine ursprüngliche Bezeichnung als Liberty Plaza Park wieder. 704 Am 17. September wurde der Platz vor der Wall Street in New York besetzt gehalten. Erster Aufruf ging von dem Kulturjamming Magazin Adbusters aus und einem Poster, auf dem die Skulptur „Charging Bull“ des Künstlers Arturo Di Modica abgebildet ist, auf dem eine Ballerina tanzt. Über ihr thront der Satz: „Und was ist Deine Forderung?“. 705 Kronotop: Interview mit Beka Economopoulos und Jason Jones von dem Kollektiv ‚Not An Alternative‘,), in: Kronotop.org. Plattform für Videointerviews über Kunst, Politik und Aktivismus, März 2012 [unveröffentlicht], URL: http://www.kronotop.org/folders/not-an-alternative-bekaeconomopoulos-and-jason-jones/ (08.09.2013). 706 Mehrere Autoren haben sich kritisch mit der Formel Wir sind die 99% auseinandergesetzt. Hierzu vgl. u.a.: Jens Kastner: Platzverweise. Die aktuellen sozialen Bewegungen zwischen Abseits und Zentrum, in: Occupy!: Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Wien: Turia + Kant 2012, S. 5087. Charles Hurst: Social Inequality: Forms, Causes, and Consequences, Indiana University: Allyn and Bacon 1992‬, S. 34. Daniel Indiviglio: Most Americans Aren't Occupy Wall Street's '99 Percent', in: The Atlantic, 05/10/2011, URL: http://www.theatlantic.com/business/archive/2011/10/most-americans-arentoccupy-wall-streets-99-percent/246196/ (09.08.2012). Die Webseite „What Percent Are You?“ errechnet, wer zu den 99% gehört. Die Berechnung erfolgt durch die Zahl des jährlichen Einkommens einer Person, Zitat: „The Occupy Wall Street movement seeks to speak for the bottom 99% of the population by income, which includes pretty much everyone 221 „ [...] Occupy has always been more than the process. It is the common name of movement against Wall Street and for the 99 percent.“707 Sich als 99%708 zu bezeichnen, scheint ein Widerspruch zu sein, auch wenn man Jacques Rancière heranzieht, da die Anteillosen bei ihm genau die sind, die nicht „gezählt werden“, die keine Stimme haben, nur Lärm hervorbringen und namenlos sind. Für Rancière gibt es in einer gesellschaftlichen Ordnung: einige, die einen Anteil an der Verteilung der Macht sowie der Güter haben (sei es auf Grund ihres Alters, ihrer ökonomischen Stellung, ihrer Bildung, etc.) und es gibt welche, die keinen Anteil an der Verteilung haben, diese nennt Rancière die Anteillosen. Politik setzt für Rancière dort an, wo diese Logik, dass einige Anteil haben und andere nicht, durchbrochen wird. Demokratie ist für ihn das Einsetzen der Unterbrechung, das Eingreifen eines Subjekts der Politik, dem Volk, das genau der Teil ist, der bei der Zählung des Volkes nicht gezählt wird. Er geht davon aus, dass in einer Gemeinschaft immer Menschen leben, die nach den jeweiligen Maßstäben der Gesellschaft nicht dazugehören, aber trotzdem dabei sind. Es muss also einen Ort geben, an dem der Teil der Anteillosen, das Volk, das nicht gezählt werden kann, auftreten kann. Diese müssen als die Anteillosen erkannt werden und es muss einen Streit dieser Teile geben. Unter Streit oder Dissens ist hier gemeint, dass sich die Teile der Gesellschaft ihrer Nicht-Identität bewusst sind. Diesen Ort bildet bei OWS die Platzeinnahme des Parkes, auf dem sich Tag und Nacht ein sozialer Körper von heterogenen Singularitäten bildet, der sowohl die akuten Bedürfnisse der Platzgemeinschaft, als auch Probleme im größeren Maßstab verhandelt. Der Tumblr-Blog709 http://wearethe99percent.tumblr.com710 versammelt unter der Schlagzeile We are the 99 % einzelne Geschichten von Personen, die sich den 99% zugehörig fühlen, ob sie nun auf dem Platz waren oder nicht. Hierfür haben sich die Partizipand_innen des Blogs jeweils mit einem Blatt Papier fotografiert, auf dem sie vorher ihr Unbehagen notierten. Das Vorgehen erinnert an Guillian Wearings Fotoserie „Signs that say what you want them to say, and not signs that say what someone else wants you to say“ aus dem Jahre 1992, für die who makes less than $500,000 a year.“ Phil Izzo: What Percent Are You?, in: The Wall Street Journal, 19/10/2011, URL: http://blogs.wsj.com/economics/2011/10/19/what-percent-are-you/ (10.01.2013). Für äußerst fragwürdig halte ich die kurzsichtige Argumentation des antideutschen Autoren Alex Feuerherdt gegen den Begriff 99% als antisemitisches Manifest. Vgl. Alex Feuerherdt: Das Volk gegen ein Prozent, Jungle World Nr. 48, 12/2011, http://jungle-world.com/artikel/2011/48/44440.html (02.02.2013) 707 Not An Alternative: Occupy: The Name in Common‬,Creative Time Reports. 708 ‬Die Zahl 99% verweist auf die 1%, die zusammen mit dem Wirtschaftkapital den Rest der Bevölkerung regieren.‪ 709 Tumblr ist eine Mikroblogging-Plattform mit der Nutzer_innen Texte, Bilder, Zitate, Chatlogs, Links und Video- sowie Audiodateien in einem Blog veröffentlichen können. 710 Die Tumblr-Webseite ging am 23. August 2011 Online. Als Ideengeber für das Motto We are the 99 % werden der Ökonom Joseph E. Stiglitz und der Ethnologe/Anarchist David Graeber genannt. http://de.wikipedia.org/wiki/We_are_the_99_percent#cite_note-11 (02.02.2013). 222 Passanten auf der Straße gefragt wurden, ob sie eine Nachricht auf dem Papier hinterlassen würden. Beim Durchlesen der vielen, sehr unterschiedlichen, selbst geschriebenen Notizen der Personen auf der Webseite We are the 99% wiederholt sich das Unbehagen über die Verschuldung durch universitäre Ausbildung, das Fehlen von Krankenversorgung und die durch die Akkumulation sich verschlimmernden Folgen wie z.B. Hypothekenschulden und der Verlust von Arbeit und Wohnraum. Mike Konczal hat den Blog mit einer programmierten Texterkennung analysiert und Wörter gefiltert, mit deren Inhalt er Statistiken erstellt hat, die meinem ersten Eindruck beim Durchlesen entsprechen. „The major words are jobs and debt [...]. The ability to make it month to month shows up here more than on the glance, with ‚pay‘, ‚afford‘, ‚rent‘, ‚food‘ and ‚bills‘ right underneath the big items.“711 Einige Fotos appellieren an ein US-amerikanisches nationales Gemeinschaftsgefühl, indem sich die Selbst-Porträtierten bspw. vor der amerikanischen Flagge präsentieren. Wiederum andere Personen möchten nicht, dass ihr Gesicht sichtbar wird und verstecken es hinter dem selbst beschriebenen Blatt Papier. Die Blogeinträge lesen sich wie kleine autobiografische Fragmente. Der Blog ist zeitchronologisch als ein Archiv angelegt und erlaubt einen minimalen Einblick in das Leben der Personen, die sich an ganz unterschiedlichen Orten ablichten ließen (Wohnraum, Arbeitszimmer, Büro, Außenraum etc.). Grundsätzlich gehen die Posts von einer Ich-Sprecher_innen-Position aus: „Ich und mein Unbehagen“, „Mein Mann ist arbeitslos“, „Ich bin krank“ und „Ich bin nicht krankenversichert“, „Ich konnte die Hypothek nicht mehr bezahlen und ich habe mein Haus verloren“ etc. Als gemeinsamer Nenner bildet der Satz „I’ m the 99 %“ und der Verweis auf den Webseiten-Link occupywallst.org den Schluss der Nachricht. Die Initiatoren des Blogs lassen sich nicht so einfach feststellen, sondern beschreiben sich wie folgt: „Wer wir sind? Wenn Du das hier liest, bist Du mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent einer oder eine von uns. Du weißt nicht, ob Du diesen Monat die Miete aufbringen kannst. Du bist krank und stehst es durch, weil Du Dir Kranksein nicht leisten kannst. Du versuchst, einen Berg an Schulden zu bewegen, der nicht kleiner zu werden scheint, egal wie sehr Du Dich bemühst. Du nimmst einen zweiten Job an. Du machst Seminare, um Deine Qualifikationen zu verbessern. Aber es reicht nie. Die Angst, die Enttäuschung, die Ohnmacht sind noch da, sie kreisen wie Krähen über 711 Mike Konczal: Parsing the Data and Ideology of the We Are 99% Tumblr, in: Astra Taylor/ Eli Schmitt, u.a. (Hg.): n+1, n+1 Foundation, New York, 2012, URL: http://nplusonemag.com/occupy (02.02.2013). 223 Dir.“712 In der Online-Ausgabe des linksliberalen Magazins Mother Jones wurde ein Interview mit den beiden Initiatoren, Priscilla Grim und Christopher Key, von der Tumblr Website veröffentlicht. Auf die Frage, warum die Seite so beliebt sei mutmaßt Key: „Struggling with money, you focus so much on your own survival that you can feel very isolated and alone. Knowing others have the same struggle, and that they too are scared, can do much to ameliorate this isolation.“713 In Keys These treffen wir wieder auf das fragmentierte, isolierte Subjekt der Gegenwart, das durch Selbst-Darstellung versucht, eine Solidargemeinschaft zu bilden, beziehungsweise die eigene Betroffenheit zum Ausgangspunkt zu machen, um andere Betroffene aufzusuchen. Der Verweis am Schluss jeder persönlichen Nachricht zu occupywallst.org verbindet die virtuelle Gemeinschaft mit der Aktion auf der Straße. Können demnach künstlerische und sozial-kommunikative Formen von SelbstRepräsentation und mit ihnen autobiografische Vorgehensweisen, die unmittelbar das Persönliche betreffen (Lebenslage, Arbeitsbedingungen, Körper, Geschlecht, etc.) für uns erneut an Bedeutung gewinnen, um die vielen fragmentarisierten, individualisierten, privatisierten Unbehagen in eine Praxis der gemeinschaftlichen Veränderung zu verwandeln? Wie ich im folgenden Beispiel, ausgehend von eigenen Erfahrungen, zeigen möchte, kann der Prozess einer gemeinsamen Bild-Produktion und die Installation von Selbstbildern an öffentlichen Orten wesentlich dazu beitragen, dass eine Intervention nicht nur auf einer symbolischen Ebene verbleibt, sondern die Arbeit an der Selbst-Repräsentation ganz unterschiedliche Formen von Öffentlichkeit und Gemeinschaft schafft. 8. Kollektive Praktiken künstlerischer Selbst-Repräsentation Nach der kurzen Rückschau auf die sozialen Bewegungen der letzten Jahre (11-M, 15M, Occupy) werden an dieser Stelle einige Praktiken der Selbst-Repräsentation, die u.a. im Kunstfeld zu verorten sind, vorgestellt. Abschliessend stelle ich das spanische Kollektiv Enmedio vor, das sich, unter Verwendung von künstlerischen als auch sozialpolitischen Praktiken zwischen Kunst und Politik bewegt. 712 Christina Kaindl: We Are the 99 Percent, Allow Us to Introduce Ourselves, in: Luxemburg 4. Magazin zu Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Herausgeber: Vorstand der Rosa-LuxemburgStiftung, RE:ORGANISIEREN, Ausgabe 4, 2011, S. 130- 139, S. 131. 713 Adam Weinstein: ‚We Are the 99 Percent‘ Creators Revealed. MoJo interviews the two activists behind Occupy Wall Street's poignant Tumblr sensation, in: Mother Jones, 07/10/2011, URL: http://www.motherjones.com/politics/2011/10/we-are-the-99-percent-creators?page=2 (02.02.2013). 224 8.1 Die sowjetische Avantgarde: Verschiedene Strömungen im Produktivismus Mit dem Rückblick auf Walter Benjamins Bezug auf den Faktografen Sergei Tretjakow, wird an dieser Stelle kurz das Wirken der treibenden Kräfte der Faktografie im sowjetischen Produktivismus nach der Februar-Revolution 19171932 in der Sowjetunion umrissen. An dem Entwurf für den Aufbau einer Sowjetrepublik in dem ehemaligen russischen Zarenreich waren Künstler_innen maßgeblich mitbeteiligt. Unter dem Begriff der Produktionskunst714 steckte die zentrale Forderung, Kunst, Leben und industrielle Produktion zu verbinden. Wesentlicher Unterschied zur gegenwärtigen Situation, in der es zwar nicht an Kritik hinsichtlich der aktuellen Regierungsformen mangelt, die aber auch durch keine radikale gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus ausgezeichnet ist, ist, dass die Revolution in Russland einen Nullzustand markierte, von dem ab alles neu zu gestalten war. Es gab eine allgemein positive Aufbruchsstimmung und eine grund-sätzlich affirmative Positionierung seitens der russischen Künstler_innen zu den neuen Regierungsformen. „Eine lebendige Kunst unter diesen Bedingungen zu praktizieren hieß, für die meisten aus dem Milieu der russischen Avantgarde, sich am Aufbau der neuen, zukünftigen Gesellschaft aktiv zu beteiligen. Daraus ergab sich die berühmte Forderung, die Autonomie der Kunst radikal zu verabschieden und direkt ins Leben zu gehen. [...] Die Kunst sollte dem Leben selbst eine neue Gestalt geben, um als lebendig gelten zu dürfen.“715 Hinzu kam ein positiver Technik- und Fortschrittsglaube der Künstler_innen: sie unterstützten das Vorhaben der Regierung, die einstigen Agrarländer der Sowjetunion mit einem Schlag in eine industrielle Großnation umzumodeln. Zum einen entwickelte sich eine industrielle Massenfertigung und zum anderen wurden, parallel zu dieser Entwicklung, die audiovisuellen Bild-Reproduktionen (Kino- und Fotobild) für ein Massenpublikum zugänglich. Die Umstrukturierung der allgemeinen Produktion durch künstlerische Herstellungsweisen war in verschiedene Phasen aufgeteilt: ich erwähne hier zusammenfassend die konstruktivistische, produktivistische und die faktografische. Die konstruktivistischen Künstler_innen konzentrierten sich auf Versuche, die allgemeine Produktion durch künstlerische Gestaltungsprinzipien zu 714 „Die proletarische Kunstbewegung trat mit der Idee der sogenannten Produktionskunst und einer technisch praktisch-gesellschaftlich und psycho-physiologisch utilitären Gestaltung der Alltagswelt hervor.“ Zitat aus Boris Arvatov: Kunst und Produktion. Aus dem Russischen von Hans Günther/Karla Hielscher. München: Carl Hanser 1972, S. 57. 715 Boris Groys: Im Namen des Lebens, in: Aage Hansen-Löve/Boris Groys (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt am Main, 2005, S. 11-25, S. 13. 225 revolutionieren. Die produktionistische Kulturorganisation dagegen setzte den Fokus auf das Vorhaben, die künstlerische Produktion von den Ateliers in die Fabriken und die künstlerische Auseinandersetzung der Arbeiter_innen in Arbeiterklubs zu verlegen, um auf die Weise eine allgemeine kulturelle und künstlerische Ausbildung der Arbeiter_innen zu fördern. Die Intention dieses Vorgehens war der Abbau der Kunst durch produktivistische Praktiken hin zu einer allgemeinen künstlerischen Produktion.716 1920 rief der Maler Wladimir Tatlin das Programm der „Produktivistengruppe“ aus, mit dem er sich gegen eine zunehmende Individualisierung der konstruktivistischen Künstler_innen und für eine gleichberechtigte Interaktion zwischen Künstler_innen und Industriearbeiter_innen positionierte. Ioganson, Rodtschenko, Tatlin und viele andere Künstler_innen arbeiteten zeitweise in der Industrie. Ihnen gilt Wladimir Majakowskis Kritik: „ [...] Produktionskünstler! Nehmt euch in acht davor, Handwerker der angewandten Kunst zu werden. Lernt von den Arbeitern, während ihr sie unterrichtet. Eure Schule ist die Fabrik.“717 Devin Fore bestätigt in seiner Forschungsarbeit über die russischen Avantgarden die zuvor erwähnte Kritik an der konstruktivistischen Strömung und schließt mit einer positiven Bewertung für die Faktografen innerhalb des Produktivismus. „In an effort to correct the error of a nonutilitarian laboratory Constructivism that reduced the art work to a combinatory scheme made of conventional signs, production art recognized only the sensuous and somatic features of objects that were designed for everyday deployment; and factography in turn challenged the onesided positivism of this production art by reincorporating into its conception of the object the symbolic and ideological systems that had been neglected by its predecessor. In this regard, factography can be understood as a sublation of laboratory Constructivism’s formalist-structuralist logic and early production art’s hypermaterialism.“718 Fore beschreibt die faktografische Produktion als konsequente Aufhebung des Konstruktivismus, der sich zu sehr auf kompositorische Zeichen-Prinzipien konzentrierte und der Produktionskunst, die den Schwerpunkt zu sehr auf die 716 Vgl. Kerstin Stakemeier: Künstlerische Produktion und Kunstproduktion. Polytechnik und Realismus in der frühen Sowjetunion, in: Spektakel-blog 2003, URL: http://spektakel.blogsport.de/broschur/broschur-1/kerstin-stakemeier-kuenstlerische-produktion-undkunstproduktion/, 717 Wladimir Majakowski [1923], zitiert nach Stella Rollig: Zwischen Agitation und Animation. Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts, in: EIPCP 03/2000, URL: http://eipcp.net/transversal/0601/rollig/de (02.06.2013). 718 Devin Fore: Soviet Factography: Production Art in an Information Age, in: Chto Delat, 10/2006, URL: http://www.chtodelat.org/index.php?option=com_content&view=article&id=562%3Asovietfactography-production-art-in-an-information-age&catid=204%3A01-25-what-is-the-use-ofart&Itemid=455&lang=en (02.06.2013). 226 sinnlichen, haptischen Merkmale der Dinge und der Produktion legte. „ [...] die Faktographie [dreht] sich um die Produktion von Geschaffenem und [betrachtet] Kunstwerke als Faktenfabriken [factories of facts]“ fasst Steyerl dies zusammen und „unterscheidet sich vom Produktivismus [...] der sein Interventionsfeld in der Produktion selbst sieht und auf deren Transformation abzielt.“719 Die Politik der Veränderung des Produktionsapparats verändert sich durch die Faktografie wie folgt: Die Massen selbst werden Autor_innen als Produzent_innen. „Für Tretjakov lag die Zukunft der sowjetischen Produktionskunst bei den ‚Faktographen‘, bei der Masse der ArbeiterkorrespondentInnen, der ReporterInnen und AmateurfotografInnen, der Zeitungs- und RadiomacherInnen.“720 Das Einsatzgebiet für künstlerische Produktion findet nicht innerhalb eines abgesteckten Kunstfeldes (Galerie, Atelier, Theater, Museum, Institutionen etc.) statt, sondern dreht sich „ [...] um die Medien einer organisierenden Produktionskunst: Klub, Demonstration, Film, Foto, Radio und vor allem um die Zeitung.“721 Welche Aufgabe übernehmen dabei die Künstler_innen? Tretjakow geht von der Arbeit des Schriftstellers aus, die aber auf die Arbeit von bspw. Malerer_innen, Fotograf_innen oder Filmemacher_innen übertragen werden kann. Mit dem Konzept des operativen Schriftstellers wurde die gesonderte Rolle der künstlerischen Berufe in Frage gestellt und sie sollten in allgemeine Produktionsprozesse eingebettet werden. Tretjakow sieht in der Entprofessionalisierung und in der Kollektivierung der Produktion der künstlerischen Berufe eine Alternative zum ästhetischen Expert_innentum.722 Vergleichbar mit einer Arbeiter_innen-Korrespondent_innenbewegung, die den Beruf von Journalist_innen und Fotograf_innen überflüssig macht, würde dies auch die Entprofessionalisierung der Schriftstellerin /des Schriftstellers betreffen. Die Aufgabe der Schriftsteller_innen müsse, so folgt für Tretjakow daraus, nun darin bestehen, sich als Interviewer_innnen, als literarische/r Sekretär_innen oder als Konstrukteur_innen zu den Arbeiter_innen zu gesellen, die ihnen vorher nur als Materialträger gedient haben. Beim Lesen von Tretjakows Berichten über seine Arbeit und Tätigkeiten in den Kolchosen scheint es so, als würden diese eher zu einer Umprofessionalisierung der Schriftsteller_innen führen, als denn zu einer Entprofessionalisierung. Die 719 Hito Steyerl: Ungeschaffene Wahrheit, in: EIPCP 03/2009, URL: http://eipcp.net/transversal/0910/steyerl/de (02.06.2013). 720 Gerald Raunig: Den Produktionsapparat verändern. Anti-universalistische IntellektuellenKonzepte in der frühen Sowjetunion, in: EIPCP 09/2010, URL: http://eipcp.net/transversal/0910/raunig/de (02.06.2013). 721 Ebd. 722 Vgl. Fritz Mierau: Literatur des Dings und Biographie des Fakts, in: Reihe Arbeitsblätter Sachbuchforschung Nr. 12, S.9-19, S. 13. 227 vielen unterschiedlichen kommunikativen, improvisatorischen, erzieherischen, organisatorischen und administrativen Tätigkeiten zeugen von einer vielschichtigen und breitgestreuten Operation der neuen Sowjet-Künstler_innen.723 In diesem Sinne lässt sich der operative Schriftsteller auch mit dem von Michel Foucault eingangs erwähnten Bezeichnung des „spezifischen“724 Intellektuellen in Verbindung setzen, der/die sich nicht anmaßt universelle oder eurozentristische (ästhetische) Werte zu vertreten, sondern sich mit seinem/ihren spezifischen Wissen den lokalen, alltäglichen Kämpfen anschließt. Diese vielschichtige und breitgestreute Operation, an der viele unterschiedliche Personen kollaborierend zusammenarbeiten, bestimmt, wie wir in dem Beispiel von Enmedio später sehen werden, des Weiteren auch die Ästhetik, die Form des Selbst-In-Erscheinung-Tretens, das sich von einem individuellen Auftritt von Künstlern wesentlich unterscheidet. Folgende Aspekte der faktografischen Vorgehensweise hebe ich als für heute noch relevant hervor und bilden Verbindungslinien zu den Aktionen der Gruppe Enmedio: 1.) Fakten werden als Konstruktion von Realität verstanden, als etwas Produziertes. Die etymologische Bedeutung des Wortes „Fakt“ stammt von dem lateinischen Wort „facere“ also „machen“ ab725, im Spanischen wird das Wort mit „hecho“ übersetzt, das soviel wie „gemacht“ heißt. Fore726 und Steyerl727 setzten die Wortwörtlichkeit des Begriffes Fakt mit dem berühmten Satz von Giambattista Vico „Verum esse ipsum factum“ (Das Wahre ist das Geschaffene selber) in Relation. Als „gemachte“ Fakten lassen sich so auch die Informationen in den allgemeinen Kommunikationsmedien über die gegenwärtige Krise lesen, die aus Zahlen und Reden der Regierungsvertreter_innen und Bänker_innen bestehen. 2.) Fakten, die durch Text-, Bild- und Filmproduktion Situationen herstellen, entstehen in offenen Prozessen und werden als operative Handlung verstanden. Die Bild- und Textproduktion findet in einem Zusammenschluss von Spezialist_innen und Nicht-Spezialist_innen statt, die Produzent_innen von Information werden. Anstatt, wie die Produktionskunst in der Fertigungshalle der Fabrik die Veränderungen der Organisation vorzunehmen, ging es in der faktografischen Vorgehensweise um die Informations- und Bedeutungsproduktion, die zusammen mit den Arbeiter_innen angefertigt wurde. 723 Vgl. Gerald Raunig: Grosseltern der Interventionskunst, oder Intervention in die Form. Rewriting Walter Benjamin's ‚Der Autor als Produzent‘, in EIPCP, 12/2000, URL: http://eipcp.net/transversal/0601/raunig/de (26.01.2013), Gerald Raunig: en Produktionsapparat verändern Anti-universalistische Intellektuellen-Konzepte in der frühen Sowjetunion, in EIPCP, 09/2010, URL: http://eipcp.net/transversal/0910/raunig/de (26.01.2013) und Fritz Mierau: Literatur des Dings und Biographie des Fakts, in: Reihe Arbeitsblätter Sachbuchforschung Nr. 12, S.9-19, S. 13. 724 Michel Foucault/Gilles Deleuze: Die Intellektuellen und die Macht. Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze, S. 86-100, S. 89. 725 Duden 07: Das Herkunftswörterbuch: Etymologie der deutschen Sprache. Die Geschichte der deutschen Wörter bis zur Gegenwart, Mannheim: Bibliographisches Institut 2006, S. 173. 726 Devin Fore: Introduction, in: October 118. MIT Press Journal, Herbst/2006, S. 3–10, S. 5. 727 Giambattista Vico: De Italorum sapientia [1710], zitiert nach Hit Steyerl: Ungeschaffene Wahrheit Produktivismus und Faktographie in: EIPCP 03/2009, URL: http://eipcp.net/transversal/0910/steyerl/de (14.07.2013). 228 Die technologische Medien-Revolution in der Sowjetunion bildete einen wichtigen Hintergrund für diesen faktografischen Praxismodus. Sie gründete sich zu einem Zeitpunkt, in dem das fotografische und filmische Bild eine noch nie dagewesene Verbreitung fanden. Die rasante Entwicklung der neuen Medien bildete ein immer grösser werdendes Massenpublikum, das Zugang zu neuen Kommunikations- und Abbildformen fand (Radiobroadcasting, Vertonung von Filmbild, weitgestreute literarische Verbreitung). Konsument_innen wurden auf diese Weise zu Produzent_innen von Information, also zu Autor_innen. Obwohl wir uns momentan in einer anderen Medienepoche befinden, sind die unendlich vielen Möglichkeiten der Telekommunikation noch nicht ausgeschöpft und verändern sich mit ihrer technologischen Entwicklung unsere tagtäglichen Kommunikationsformen. „The case of factography reminds us that the information media which continue to structure experience to this day are in no way ontological givens, but are themselves generated through operative acts of congitive and perceptual labor. A production art fit for a media age, Soviet factography shows us that the consumption of information is never simply a passive act.“728 Bilder, Texte und Filme entstehen interdisziplinär, genreübergreifend und kursieren durch ihre mediale Distribution. Der Herstellungsprozess entspricht der essayistischen Vorgehensweise, die in dieser Arbeit mehrfach von mir erwähnt wurde. Fore beschreibt die faktografische Praxis als Ocherk, das dem westeuropäischen Begriff des Essays ähnlich ist.729 In Bezug auf Tretjakows Vorschlag einer Arbeiterkorrespondenten-Bewegung stellt sich die Frage, inwiefern sie sich denn von „Rancières“ schreibenden Arbeitern unterscheidet. Für Rancière entsteht der sogenannte politische Subjektraum, in dem Arbeiter_innen Tätigkeiten nachgehen, wie Schreiben, die nicht für sie vorgesehen waren, unabhängig von einer Vorgabe wie die der Faktografie. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass der emanzipatorische Prozess in ein Gegenteil umschlägt, sobald man ihm einen Platz in der gesellschaftlichen oder staatlichen Organisation einräumen will, denn auf diese Weise geschehe keine Emanzipation, sondern eine Unterweisung des Volkes und somit die „Organisation seiner unaufhörlichen Unmündigkeit“.730 8.2 Über Namen und Masken: Uneindeutigkeit versus Identität In dem Kapitel über feministische Selbst-Repräsentation mit der vorgestellten Videoarbeit der US-amerikanischen Künstlerin Martha Rosler, die, mit der Montage verschiedener audiovisueller Ebenen, Machtkonstellationen des Alltags wiedergibt, oder mit dem Film von Peter Wollen und Laura Mulvey „Riddles of the Sphinx“, der eine filmische Gegen-Geschichte zu Freuds Mythos des Ödipus 728 729 Devin Fore: Soviet Factography: Production Art in an Information Age, Chto Delat. Vgl. Devin Fore: Introduction, October 118, S. 9. 730 Jacques Rancière: Das Unvernehmen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. S. 46. 229 erzählt, wurden künstlerische Strategien im Umfeld der Feminismus-Bewegung vorgestellt, die direkt Kunst, Leben und Repräsentation verbinden. Die Bedeutung des Namens wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Stellen hervorgehoben: zum einen in dem Abschnitt über Subjektwerdung (Lacan, Althusser, Butler) und zum anderen in dem klassischen Autobiographie-Konzept Lejeunes, bei dem der Name in seiner Dreier-Identität (Autor_in, Protagonist_in und Erzähler_in) als außertextuelle Wirklichkeitsreferenz herhalten muss und dessen Position Marc Zuckerberg (Facebook) vierzig Jahre später fortsetzt, indem sein Unternehmen den bürgerlichen Namen als Authentizitätsmerkmal von den Benutzer_innen seines sozialen Netzwerkes einfordert. Auch bei Rancières tritt die Bedeutung des Namens hervor, nämlich in der Definition der Ent-Identifizierung, die ich mehrfach in dieser Arbeit ausführte. Tretjakows Vorschlag zur Entprofessionalisierung lässt sich ebenfalls als ein Loslösen von bestimmten namentlichen Kategorisierungen, die als Schriftsteller /der Schriftstellerin, verstehen. Ein Beispiel, in dem der Name/die Maske als künstlerische Praxis eingesetzt wird, stellen die Aktionen der US-amerikanischen feministischen Künstler_innenGruppe Guerrilla-Girls731 dar. Seit Mitte der achtziger Jahre treten sie mit GorillaMasken auf und verbinden ihre Maskierung mit Pseudonymen, deren Namen tote Künstler_innen sind. Die öffentlichen Auftritte der Guerrilla-Girls thematisieren den Ausschluss von Frauen und Nichtweißen aus dem Kunstbetrieb. „ [...] we declare ourselves feminist counterparts to the mostly male tradition of anonymous do-gooders like Robin Hood, Batman, and the Lone Ranger. [...] The mystery surrounding our identities has attracted attention. We could be anyone; we are everywhere.“732 Die Guerrilla-Girls verstecken ihre persönliche Identität und Biografie hinter der Maske, um eine kollektive, feministische Identität zu gründen, die die Öffentlichkeit auf ihr Projekt aufmerksam machen soll. Ein weiteres bekanntes Beispiel, dieses Mal aus der mexikanischen GuerrillaBewegung, ist die Kollektivierung des Namens des Subkommandanten Marcos bei den Zapatisten in Chiapas. „Behind our masks is the face of all exluded women, of the forgotten native people, of all persecuted homosexuals, of all the despised youth, of all the beaten migrants, of all those imprisoned for their words and thoughts, of all the humiliated workers, of all those dead from neglect, of all the simply and ordinary men and 731 Die Idee, Gorilla Masken zu verwenden, tauchte auf, als ein Mitglied der Gruppe versehentlich anstatt Guerrilla das Wort Gorilla schrieb. Vgl. Guerrilla Girls: ‚Gertrude Stein‘ et alia. Guerrilla Girls and Guerrilla Girls BroadBand: Inside Story, in: Homepage der Guerrilla Girls, URL: http://ggbb.org/about/ (02.02.2013). 732 Guerrilla Girls: Frequently Asked Questions, in: Homepage der Guerrilla Girls, URL: http://www.guerrillagirls.com/interview/faq.shtml (02.02.2013). 230 women, who don't count, who aren't seen, who are nameless, who have no tomorrow.“733 Die A.f.r.i.k.a. Gruppe, die verschiedene Formen des kreativen Widerstands analisiert und in dem Handbuch der Kommunikationsguerilla zusammenfassend dargestellt hat bezieht sich in ihrer Untersuchung auf die Guerillafigur Marcos. Unter dem Motto Wir alle sind Marcos werde der Name als Praxis der solidarischen Identität für alle verwendbar und so würde sich um die Person des realen Guerilleros eine nichtfixierbare, nichtfestgeschriebene biographische Geschichte zu einem gemeinschaftlichen Mythos formen. „Die erkennbaren Attribute wie Skimütze und Uniform verstecken seine wahre Rolle als leeres Zeichen nicht, sondern unterstreichen sie sogar noch. Gerade weil die reale Person unscharf bleibt, kann diese Leerstelle durch zahllose Erzählungen und Legenden gefüllt werden. In diesem Prozess wurde der kollektive Mythos ‚Marcos‘ zum allgegenwärtigen Träger verschiedenster Bedeutungen, zum Ausdruck und Identifikationspunkt subversiver [...] Phantasien.“734 Ein Name, den jede_r verwenden kann, ist so in seiner Funktion als Eigenname und der Autor_innenschaft offen, genauso wie in seiner Verbreitung. Er lässt sich mit Geschichten anreichern, ohne dass ein Urheberrecht seine Vermehrung, seine Kopie limitiert. Durch die Verwendung eines multiplen Namens, so die A.f.r.i.k.a. Gruppe, nähern sich Individuum und Kollektiv aneinander an. Der Name würde zu einer Projektionsfläche für viele unterschiedliche Geschichten, die jede_r einzelne einer Gruppe bespielen kann. Der Name würde auf diese Weise mit vielen Facetten gefüllt und erhält die Gestalt einer imaginären Person oder eines imaginären sozialen Körpers. Die Autonome A.f.r.i.k.a. Gruppe beschreibt, dass „ [...] gerade die Namenlosen Unterdrückten dieses Prinzip immer wieder verwendet haben. So tauchte es beispielsweise bei den Bauernaufständen auf: 1514 zogen süddeutsche Bauern im Namen des `armen Konrad´ ins Feld.“735 Ein gegenwärtiges Beispiel bildet u.a. die Gruppe Anonymous. Das offene Hacker_innennetzwerk Anonymus verwendet ebenfalls einen gemeinsamen Namen: als Anonymus und mit der Maske der kulturpopulären Kinofigur Guy Fawkes intervenieren unterschiedliche Benutzer_innen von Orten aus aller Welt in virtuelle Systeme von Organisationen, die die Freiheit des Internets zu beschränken oder den Informationsaustausch zu privatisieren versuchen. Jede_r kann ein „Anon“ sein und seine/ihre Wahrheit als „Anon“ mit der Guy Fawkes Maske bekannt geben. Zumeist werden die Verkündungen von 733 Zapatistas: Zapatista Encuentro: Documents from the 1996 Encounter for Humanity and Against Neoliberalism, Greg Ruggiero (Hg.), New York: Seven Stories Press 2002, S. 24. 734 Autonome A.f.r.i.k.a. Gruppe: Alle oder Keiner? Multiple Namen, imaginäre Personen, kollektive Mythen, in: Republicart, 1997, URL: http://www.republicart.net/disc/artsabotage/afrikagruppe02_de.htm (02.02.2013) 735 Ebd. 231 Interventionen via YouTube als Videobotschaft in die Welt gesetzt.736 Multiple Namen und Anonymität sind in Hinblick auf die Frage „Wie können wir nach gemeinsamen Namen suchen und gleichzeitig heterogene Singularitäten anerkennen, Allianzen bilden und dabei Unterschiede verstehen?“ 737 relevant. „ [...] unsere Situationen sind so unterschiedlich, so singulär, dass es uns schwer fällt, den gemeinsamen Nenner zu finden, von dem wir ausgehen könnten, oder die eindeutigen Unterschiede, durch die wir einander bereichern könnten. [...] wir müssen über die Entbehrungen und den Exzess unserer Lebens- und Arbeitssituationen sprechen, um der neoliberalen Fragmentierung zu entkommen, die uns von einander trennt, schwächt und zu Opfern von Angst, Ausbeutung oder dem Egoismus des `jede für sich allein´ macht.“738 Finden wir unter dem Begriff Unbehagen eine gemeinsame Bezeichnung für verschiedene und singuläre Situationen? Wie lassen sich gemeinsame Bedürfnisse artikulieren ohne auf eine Identität zurückzufallen und ohne die jeweiligen Situationen zu nivellieren und zu homogenisieren? Multiple Namen oder die Vielheit, die sich widersprechend unter einem Namen versammelt, sind nicht nur in erster Linie Formen der Anonymität, sondern stellen gleichzeitig einen Angriff auf die modernen Konzepte bürgerlicher Subjektivität und Identität dar. Sie demonstrieren, dass diese Konzepte auch nur ideologische oder ideale Konstruktionen, also Fiktionen, sind. Im klassischen Verständnis von Autobiografie „kann der Autor nicht anonym sein.“739 Philippe Lejeune geht in dem autobiografischen Pakt, der zwischen Autor_in und Leser_in besteht und die Dreier-Identität (Autor, Erzähler und Protagonist) bestätigt, ganz offensichtlich von einem männlichen bürgerlichen Subjekt aus, dessen Name die Übereinstimmung mit seinem privaten als auch öffentlichen Leben darstellt und in zusammenfassender Weise ein Wiedererkennungszeichen der Erfolgsmarke Name - Autor bildet. Das Streben nach Eingang in die Geschichte der Weltliteratur bewirkt die Leidenschaft für den Eigennamen, die „Gier nach Ruhm und Ewigkeit beruht gänzlich auf dem Eigennamen, der zum Autornamen geworden ist.“740 Frühe Frauenautobiografien lassen sich mit Lejeunes Theorie von der Namensidentität daher nicht als autobiografische Werke lesen, da die Verfasserinnen ihre Texte aus Angst vor Verfolgung und Diskriminierung selten mit ihren eigenen Namen unterzeichneten. 736 Vgl. Gabriella Coleman: Anonymous and the Politics of Leaking, in: Beyond WikiLeaks: Implications for the Future of Communications, in: Journalism & Society, Basingstoke, UK: Palgrave Macmillan, 2013. 737 Precarias a la Deriva: Streifzüge durch die Kreisläufe feminisierter prekärer Arbeit, 2004. 738 Ebd. 739 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 239. 740 Ebd. S. 241. 232 Auch dieser Aspekt seiner Überlegungen741 steht deutlich im Widerspruch zu dem Verständnis von autobiografischer Produktion in dieser Arbeit: Denn ein Name kann, genauso wie eine Maske, verwendet werden, um sich der Eindeutigkeit, der Fixierung einer autoritären Adressierung zu entziehen und bildet auf diese Weise eine wichtige, wie ich meine, künstlerische Praxis (bspw. das Anreichern des Namens mit Geschichten) des kollektiven Self-Empowerments. 8.3 Geschichten und das Leben: Write yourself into being Am Anfang dieser Arbeit wurde der Arbeiterautobiografie eine agitatorische, die Arbeitermassen politisierende Funktion zugesprochen, und es ging explizit um ein Kollektiv-Werden, das Entstehen von Mannigfaltigkeiten742 oder Multituden743 anhand von einzelnen Geschichten. Wie ich gezeigt habe, kann das Ereignis im Leben einer Person bzw. die Geschichte eines Einzelnen das Initiieren von kollektiven Prozessen und die Mobilisierung einer ganzen Gemeinschaft forcieren. Grundlegend dafür ist, dass sich Einzelne „angesprochen“ oder „betroffen“ fühlen. Dabei nimmt die Wiedergabe in Form von einer Erzählung oder Geschichte eine bedeutende Rolle ein. Mit einem 1944 realisierten Experiment versuchten die Psychologen Fritz Heider und Mary Ann Simmel744 zu zeigen, wie sehr unser Leben durch Geschichten geprägt und gestaltet wird. Den Probanden des Experiments wurde eine Trickfilm-Animation mit Dreiecken und Kreisen, die sich um ein Quadrat bewegen, vorgeführt. Auf die Frage, was sie sehen würden, antwortete die Mehrheit der Probanden mit einer Geschichte „The circle is chasing the triangles.“745 Daraus lässt sich folgern, dass auch abstrakte Dinge, so vage sie auch erscheinen mögen, mit Hilfe einer Geschichte zum Ausdruck gebracht werden können und dass ein Unbehagen, das zum Anfang dieser Arbeit mit Mareike Teigelers Worten als „ein Ort der Unsicherheit, ein Ort der Irritation“746 skizziert wurde, in Form einer Geschichte sichtbar und mitteilbar wird. Wenn die Welt, Machtverhältnisse und Zugehörigkeiten durch Geschichten kommunizierbar werden, dann lässt sich möglicherweise durch politische Wahrnehmung des Alltags und den Versuchen, ihn in eigenen Geschichten wiederzugeben bzw. zu konstruieren, in die soziale Wirklichkeit intervenieren oder im Sinne Rancières das konsensuelle Gewebe verändern. Mit Geschichte erzählen verbindet Rancière eng den Begriff der 741 Vgl. die von mir angeführte Kritik bezüglich der „außertextuellen Referenz“ als authentischer Realitätsverweis im Kapitel „Forschung in der Literatur: Einführung in das Konzept der literarischen Autobiografie“, S. 33. 742 Vgl. Gilles Deleuze: Unterhandlungen, S. 68. 743 Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Empire – die neue Weltordnung. Aus dem Englischen von Thomas Atzert/Andres Wirthensohn. Frankfurt a. M./New York: Campus 2003, S. 13. 744 Das Video des Experiments ist Online abrufbar: Fritz Heider/Mary-Ann Simmel: Experimental study of apparent behavior, in: Youtube, URL: http://www.youtube.com/watch?v=avsGptKea8E (02.09.2013). URL: http://www.youtube.com/watch?v=avsGptKea8E (02.02.2013) 745 Doyle Canning/Patrick Reinsborough: Re:Imagining Change. An Introduction to Story-based Strategy. Portland: PM Press 2010, S. 5. 746 Mareike Teigeler: Unbehagen als Widerstand: Fluchtlinien der Kontrollgesellschaft bei Helmuth Plessner und Gilles Deleuze, Bielefeld: Transcript 2011, S.4. 233 Fiktion. „Die neue Fiktionalität [...] ist eine neue Art, Geschichten zu erzählen, das heißt zunächst die ‚empirische Welt‘ der undurchsichtigen Handlungen und unscheinbaren Gegenstände mit Sinn auszustatten.“747 „Der Begriff der Erzählung sperrt uns in den Gegensatz zwischen Wirklichem und Künstlichem ein, in dem sich Positivisten und Dekonstruktivisten gleichermaßen verlieren. Es geht nicht um die Behauptung, alles sei Fiktion. Vielmehr gilt es festzustellen, dass die Fiktion des ästhetischen Zeitalters Modelle geschaffen hat, die Darlegung von Fakten mit Formen des Verstehens verbinden, die die Trennung zwischen der Ratio der Fakten und der Ratio der Fiktion gerade aufgehoben haben.“748 Der Frage aus dem folgenden Zitat von Sidonie Smith und Julia Watson: „Wie verändern Menschen Erzählungen oder schreiben die kulturellen Geschichten um, die sie als Subjekte auf bestimmte Art und Weise festlegen?“749 gehe ich im Anschluss mit dem aktuellen Beispiel von Enmedio nach. „People tell stories of their lives through the cultural scripts available to them, and they are governed by cultural structures about self-presentation in public. Given these constraints, how do people change the narratives or write back to the cultural stories that have scripted them as particular kinds of subjects?“750 747 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Aus dem Französischen von Maria Muhle, Berlin: b_books, 2006, S. 58. 748 Ebd. S. 61. 749 [Übersetzung A.S]. 750 Sidonie Smith/Julia Watson: Reading Autobiography: A Cuide for lnterpreting Life Narratives, Minnesota: University of Minnesota Press, 2002, S. 176. 234 8.4 Zusammenfassung und Ausblick Auf der einen Seite endete der sowjetische Produktivismus mit dem Eintreten in die stalinistische Ära und dem Stil des sozialistischen Realismus in der Kunst und auf der anderen Seite mündeten die produktivistischen Einflüsse im deutschen Bauhaus mit Lehrern wie dem russischen Künstler El Lissitzky schlussendlich in der Gestaltung des Alltages, im Design.751 Zu einem späteren Zeitpunkt verfolgen die Aktionen der Situationistischen Internationale (S.I.), die im Abschnitt „Zu dem Verhältnis von der Entmaterialisierung in der Kunst und der immateriellen Arbeit“752 Erwähnung finden, und die Interventionen der sogenannten 68er-Bewegung753 das Ziel, künstlerische Aktion mit (linken) sozialen Forderungen zu verbinden, um im und außerhalb des Kunstfeldes gesellschaftliche Normen zu verändern. Ein wesentlicher Unterschied zum künstlerischen Aktionismus der Gegenwart besteht darin, dass sich die Aktivist_innen, von denen hier die Rede ist, nicht auf die Produktion von sogenannter Gegen-Information als unterdrückte, aufzudeckende einzige Wahrheit, mit der Forderung vom Tod der Poesie oder der Abschaffung eines bestimmten literarischen, dichterischen Stils (zugunsten der Methode des Protokollierens und der dokumentarischen Aufzeichnung als Gegenentwurf) beschränken. Vielmehr verstehen sie die vorherrschenden Wahrheitsdiskurse der unterschiedlichen Regierungsformen als strategische ökonomische Macht-Konstruktionen (Fiktionen), in die es gilt mit anderen Wahrheitsdiskursen, gegebenenfalls mit Poesie und Dichtung, zu intervenieren. Hiermit stehen sie dem Vorgehen der Dadaisten nahe. Wie anhand der Beispiele in dieser Arbeit gezeigt wurde, haben sich sowohl die Produktions- und Lebensverhältnisse, wie auch die Ausdrucksformen von Krise grundlegend verändert. Inzwischen hat die technologische und wirtschaftliche Entwicklung die Herstellung und Kommunikation von Zeichen und Symbolen und deren Affektmobilisierung ins Zentrum der kapitalistischen Produktion gerückt. Die im Kapitel „ Ein Rückblick auf die sozialen Bewegungen der letzten Jahre: No nos representan (Sie repräsentieren uns nicht)“754 genannten sozialen Protestbewegungen der vergangenen Jahre, ihre offenen, unabgeschlossenen und projektartigen Versammlungen (15M-Bewegung und OWS), die kreative Strategien bzw. künstlerische Praktiken einsetzen, um Unbehagen zu artikulieren, deuten an, dass es sich nicht um eine Entpolitisierung, Ästhetisierung oder Kulturalisierung vom Politisch-Werden handelt, sondern vielmehr, dass sich die Ausdrucksformen 751 Vgl. Boris Groys: Im Namn des Lebens, in: Aage Hansen-Löve/Boris Groys (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt am Main, 2005, S. 11-25, S. 13. 752 Siehe Kapitel „Zu dem Verhältnis von der Ent-Materialisierung in der Kunst und der immateriellen Arbeit“, S. 169. 753 Der Abschnitt über die 68iger Bewegung mit ihrem bezeichnenden Slogan „Das Private ist politisch“ konzentriert sich in dieser Arbeit wesentlich auf das feministische Projekt im Film und hebt den Aspekt des Self-Empowerments durch filmische Selbst-Repräsentation hervor. 754 Vgl. Ein Rückblick auf die sozialen Bewegungen der letzten Jahre: No nos representan (Sie repräsentieren uns nicht), S. 215. 235 auf das Regime des Semio-Kapitalismus beziehen, in dem die Produktion von Zeichen und Symbolen, Subjektivierungsprozesse, Affekte, Kreativität, auch die kooperierende Bild- und Projektproduktion der allgemeinen Organisation von gegenwärtigen Arbeits- und Lebensverhältnissen entspricht. War zu Zeiten der Fabrik der Streik, die von Hand zu Hand gehende Arbeiter_innenautobiografie, die entsprechende Ausdrucksform das Unbehagen öffentlich werden zu lassen bzw. sichtbar zu machen, so setzten sich die vielschichtigen, multimedialen (Netzwerk-) Kommunikationsformen von Unbehagen mit diesen aktuellen Verhältnissen auseinander, um in eben diese zu intervenieren. „ Deshalb denken wir, dass es jetzt an der Zeit ist, jene von Marx angesichts der industriellen Produktionsweise formulierte Kritik der politischen Ökonomie zu einer Kritik der politischen Ökonomie der Zeichen weiterzudenken. [...].“755 Vor diesem Hintergrund ist Rancières Zurückweisung postoperaistischer Autor_innen, die er im angefügten Zitat adressiert, aber namentlich nicht nennt, die sich auf künstlerische Praktiken (Zeichenproduktion und Kommunikation) als politische Intervention konzentrieren, nur schwer zu verstehen.756 „Sie [die Autor_innen] neigen dazu, künstlerisches Handeln als neuen politischen Aktivismus zu betrachten, und zwar aufgrund der Tatsache, dass wir in einem neuen Stadium des Kapitalismus leben, in dem materialle und immaterielle Produktion, Wissen, Kommunikation und künstlerisches Handeln in ein und demselben Prozess der Realwerdung einer kollektiven Intelligenz verschmelzen. Meiner Ansicht nach ist das eine zu simple Methode, um die Besonderheiten künstlerischer und politischer ‚Dissensualität‘ auszulöschen und stattdessen die AvantgardeFigur des Produzenten wiederzubeleben, der zugleich Arbeiter, Künstler und Erbauer einer neuen Welt ist.“757 Im folgenden Beispiel, ausgehend von meinen Erfahrungen in dem Kollektiv Enmedio, werde ich mit und gegen Rancière zeigen, dass künstlerische Praktiken und ihre Selbstorganisation die Aufteilung von bisher wahrgenommenen und bestätigten Zuordnungen verändern kann. Brian Holmes bezeichnet die neuen Formen des kreativen Aktivismus wie folgt: „Nach einem vorsichtigen, aber doch mutigen Blick zurück auf die 755 Autonome A.f.r.i.k.a. gruppe, Handbuch der Kommunikationsguerilla, 5., erweiterte Auflage, 2012, Hamburg /Berlin: Assoziation A 2001, S. 245. 756 Vgl. hierzu: Gerald Raunig: Instituierung und Verteilung. Zum Verhältnis von Politik und Polizei nach Rancière als Entwicklung des Verteilungsproblems bei Deleuze, in: EIPCP 09/2009, URL:http://eipcp.net/transversal/1007/raunig/de (12.03.2013). 757 Jacques Rancière im Gespräch mit Christian Höller, Entsorgung der Demokratie, in: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst, 3/2006, S.23. 236 sowjetischen ProduktivistInnen der 1920er Jahre wurde klar, was die Agenda der linken Avantgarden [...] sein muss. Sie lässt sich in drei Worten zusammenfassen: `In die Information!´ [...] Zu Beginn der 1990er Jahre und vielleicht mehr noch heute ist das Eintauchen in die Information die große künstlerische Herausforderung; das heißt, es geht darum, sich auf die Gegenwart als gelebte Erfahrung veränderbarer sozialer Beziehungen einzulassen.“758 Dem „Avantgarden-Typ“,der Produktivist_innen, auf den sich Holm bezieht, steht diese Arbeit im Gegensatz zu Rancières Bewertung positiv gegenüber und nimmt den Bezug der Operativität, den schon die Videokollektive der siebziger Jahre reaktivierten, aktualisierend und ausschnitthaft wieder auf. Rancière bezieht sich, indem er Arbeit und Kunst trennt, auf eine autonome Kunst759, die er dann auch wieder mit dem Begriff der Politik ins Verhältnis zueinander setzt: „Politik ist in seinem Verständnis vielmehr ein bestimmter, nämlich ein emanzipatorischer Umgang mit den Grenzen zwischen und innerhalb bestimmter Bereiche des Sinnlichen. Genauer gesagt definiert er das Politische als jene Handlungen, mit denen über die Zugehörigkeit und Sichtbarkeit innerhalb eines Bereichs [z.B. Arbeit oder Kunst] verhandelt wird.“760 Ruth Sonderegger, die die Aktualität, beziehungsweise den gegenwärtigen Erfolg von Rancières Texten analysiert hat, kommentiert in einer Fußnote ihres Textes, dass Rancière durch die Definition des ästhetischen Regimes mit der gleichmachenden, mischenden Funktion von Kunst-Nichtkunst und Leben auf der einen Seite und mit der Betonung der unüberschreitbaren Autonomie der Kunst auf der anderen Seiten von einem „Theoretiker der Vermischung“761 immer mehr zu einem „Einteilungswissenschaftler“762 werde. Damit würde Rancière Marcuse wie auch Adorno nahestehen und sich dem folgenden Beispiel von Enmedio tendenziell kritisch gegenüber verhalten.763 758 Brian Holmes: In die Information! Die Umkehrung der Geschichte zugunsten der Gegenwart. Aus dem Englischen von Birgit Mennel, in: EIPCP, 11/2009, URL: http://eipcp.net/transversal/0910/holmes/de/print Vgl. Brian Holmes Titel mit Christina Kaisers Texttitel: ‚In die Produktion!‘: Die sozialistischen Objekte des russischen Konstruktivismus. Aus dem Englischen von Birgit Mennel, in: EIPCP, 11/2009, URL: http://eipcp.net/transversal/0910/kiaer/de/print (02.06.2013) Vgl. Osip Brik: V Proizvodstvo, in: Lef, 1/1923, S. 105–108, Zitat: „Rodtschenko weiß, dass man, solange man in seinem eigenen Atelier bleibt, nichts erreicht; er weiß, dass man ins wirkliche Arbeitsleben eintreten, dass man sein eigenes Organisationstalent dorthin tragen muss, wo es gebraucht wird – in die Produktion.“ S. 107. 759 Es scheint so, dass Rancière davon ausgeht, dass Gegenwarts-Künstler_innen im Gegensatz zu anderer Arbeit nicht im Modus entfremdeter Arbeit produzieren. 760 Ruth Sonderegger: Institutionskritik? Zum politischen Alltag der Kunst und zur alltäglichen Politik ästhetischer Praktiken, Vortragspapier für das Symposium der Deutschen Gesellschaft in Jena: Ästhetik und Alltagserfahrung 2008, URL: http://lithes.uni-graz.at/lithes/beitraege10_03/sonderegger.pdf (22.07.2013), S. 5. 761 Ebd. 762 Ebd. 763 Jacques Rancière fasst Theodor W. Adornos Position bezüglich Kunst und der sozialen Funktion wie folgt zusammen: „Die soziale Funktion der Kunst besteht darin, dass sie keine hat.“ Zitat aus Jacques Rancière: Ist Kunst widerständig? Aus dem Französischen von Frank Ruda/Jan Völker, 237 9. Fallbeispiel: Das spanische Kollektiv Enmedio: Zwischen Kunst und Politik Das Kollektiv mit dem Namen Enmedio hat sich 2007 in Barcelona aus dem Bedürfnis gebildet, der Vereinzelung und Vereinsamung am eigenen Arbeitsplatz (Schreibtisch, Atelier, Küchentisch, Büro, Agentur) zu entkommen und mit anderen, überwiegend Freund_innen und Kolleg_innen, zusammen Produktionsund Freizeit zu teilen. Enmedio bedeutet auf spanisch „inmitten“ aber auch, wird das Wort getrennt geschrieben, en medio „dazwischen“ und beschreibt relativ treffend die Verortung der Gruppe: Inmitten der Kunst, inmitten des linken sozial-politischen Aktivismus, inmitten der Kommunikations-Medien, aber eben auch dazwischen und nirgends wirklich zugehörig - der Name Enmedio beherbergt so ein Spiel mit Uneindeutigkeiten und umfasst mal mehr und mal weniger Mitglieder. In Gesprächen mit Aktivist_innen und Künstler_innen über die Aktivitäten von der Gruppe Enmedio konnte ich feststellen, dass im Kunstfeld die Aktivitäten als „zu aktivistisch“ und in linken Aktivist_innenkreisen als „zu künstlerisch“ wahrgenommen wurden. Von dieser Erfahrung ausgehend lässt sich schließen, dass durch ganz bestimmte Codes, Ästhetiken und eine ganz bestimmte Grammatik764 in den unterschiedlichen Bereichen die Aktivitäten als „künstlerisch“ oder als „aktivistisch, militant“ eingeordnet werden. Die Gruppe Enmedio wählt nicht das Unbehagen in der Kunst als Ausgangspunkt für ihre Aktivitäten, sondern das Unbehagen im Sozialen, das, wie wir in den Beispielen dieser Arbeit gesehen haben, inzwischen auch unmittelbar an Repräsentations- und Kommunikationsformen gebunden ist. Würde Enmedio direkt das Unbehagen in der Kunst als Anlass nehmen zu intervenieren, dann würde sich die Kritik explizit an die Produktions- und Ausstellungsbedingungen der Gegenwartskunst richten, die neben anderen Bereichen nur noch ein weiteres ökonomisches Marktsegment in der kapitalistischen Produktion darstellt, auch wenn sie sich als politische oder kritische Kunst versteht. 765 Berlin: Merve 2008, S. 25. Vgl. Zitat: „In jeder noch möglichen (Kunst) muss soziale Kritik zur Form erhoben werden, zur Abblendung jeglichen manifesten sozialen Inhalts.“ Aus Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 371. Vgl. auch: „Je unmittelbarer direkt, expliziter politischer ein Werk sein will, desto weniger wird es revolutionär, subversiv sein“ Zitat aus Herbert Marcuse: Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik. München: Hanser 1977, S. 9. 764 Vgl. das Kapitel Kulturelle Grammatik und Subversion in: Handbuch der Kommunikationsguerilla [5., erweiterte Auflage 2012]. Das Autor_innen-Kollektiv spricht diesbezüglich von einer „kulturellen Grammatik“, die alle gesellschaftlichen Kommunikationsprozesse umfaßt. In Anlehnung an die Sprachwissenschaft, in der die Grammatik das zugrunde liegende Regelsystem ist, bedeutet kulturelle Grammatik jenes Regelwerk „ […] das gesellschaftliche Beziehungen und Interaktionen strukturiert. Es enthält die Gesamtheit der ästhetischen Codes und Verhaltensregeln, die das gesellschaftlich als angemessen empfundene Erscheinungsbild von Objekten und den normalen Ablauf von Situationen bestimmen.“ S.17. Dieses Regelsystem existiert nicht als eine von Personen unabhängige Struktur, sondern wird, so die Autor_innen, von Menschen in einer Gemeinschaft kontinuierlich produziert und reproduziert: in Institutionen, in denen ein gewisser äußerer Druck ausgeübt wird, wie etwa im Falle der Schule, aber auch in gesellschaftlichen Bereichen, die freiwillig und im eigenen Interesse von Personen oder Gruppen organisiert werden. 765 Vgl. Kerstin Stakemeier/Roger Behrens: Kerstin Stakemeier und Roger Behrens im Gespräch über den Wandel der Kunst im Übergang von der Moderne in die Gegenwart. Zur Gegenwartskunst als 238 Ein Teil des angemieteten und selbstverwalteten Raumes von Enmedio fungiert als Arbeitsraum für die einzelnen Personen, in der sie ihrer Lohnarbeit z.B. als Fotograf_in, Professor_in oder Graphiker_in nachgehen, während in der unteren Etage ein multifunktionaler Ort für Workshops, Seminare und Filmvorführungen eingerichtet ist. Grundlage für die ersten öffentlichen Veranstaltungen stellte die Diskussionsrunde „La vida y la politica“ (das Leben und die Politik) dar, zu der Kollektive, Künstler_innen und Einzelpersonen als Referent_innen766 eingeladen wurden. Ausgehend von den eigenen prekarisierten Lebensverhältnissen diskutieren die Mitglieder von Enmedio mit den Referent_innen und dem Publikum Strategien, die die allgemeinen sozialen Missstände sichtbar/erkennbar machen und die auf Veränderungen zielen. Enmedio blickt auf eine Vergangenheit zurück, in der einzelne Mitglieder in Initiativen wie Las Agencias,767 Yomango768 und V de Vivienda769 involviert waren. Mit den unterschiedlichen Aktivitäten von Enmedio770 haben sich die Mitglieder und Gäste einen Raum geschaffen, der die Vereinzelung und Individualisierung aufbricht und die „die lähmende Angst“771 vor der Krise und der prekarisierten Lebensverhältnisse ummünzt in Gemeinschaft und Aktion. 9.1 En los medios: Inmitten der Medien Angefangen von der Selbstorganisation des Raumes stellen die Aktivitäten von Enmedio Formen von Selbst-Repräsentation dar, deren Radius sich je nach Relation zu anderen prekarisierten Gruppen ausweitet (einzelne Kollaborationen, Generalstreik, 15M- Bewegung) und sich davon ausgehend neue Gruppen wie die Reflectantes bilden.772 Das wie im Englischen „tough“773 klingende Wort TAF!774 ist der Name eines Industrie, in: Phase 2. Zeitschrift gegen die Realität, 43/2012, URL: http://phase-zwei.org/hefte/artikel/zur-gegenwartskunst-als-industrie-167/ (04.06.2013). 766 Eingeladene Referent_innen bei Enmedio: GAC-Arte Callejero/Argentinien, Franco Beradi (Bifo), Filmemacher_innen von Empire St.Pauli/Hamburg, Marion Hamm/London, Espaic blanc/Spanien, Marina Garcés/Spanien, Santiago López Petit/Spanien, Amador Savater Fernandez/Spanien, John Jordan/Frankreich, Not An Alternative/USA, Ricardo Dominguez/USA, etc. 767 Der Workshop „Direkt Action as one of the Fine Arts“ fand im Herbst 2000 im MACBA (Museum für Kunst der Gegenwart Barcelona) statt, der sich zur Aufgabe machte, Künstler_innenkollektive mit sozialen Bewegungen zusammenzubringen. Dort bildete sich der Zusammenschluss „Las Agencias“ (die Agenturen). 768 Vgl. die Yomango Homepage: URL: http://yomango.net/ (02.02.2013) und den Artikel von Gregory G. Sholette: Dark Matter, Las Agencias, and the Aesthetics of Tactical Embarrassment, in: Journal of aesthetics and protest, 02/2003, URL: http://www.journalofaestheticsandprotest.org/1/yomango/ (02.02.2013). 769 O. A.: Persiguiendo a la ‚V‘ de Vivienda, in: Agit- Pub. Tácticas para la comunicación social, 2007, URL: http://agitpub.wordpress.com/2007/06/06/persiguiendo-a-la%E2%80%9Cv%E2%80%9D-de-vivienda/ (09.07.2013). 770 Vgl. die Aktivitäten von Enmedio auf der Homepage des Kollektivs, URL: http://www.enmedio.info/category/actividades/#.UNWjj7ZK4TI (02.02.2013). 771 Isabell Lorey: Demokratie statt Repräsentation. Zur konstituierenden Macht der Besetzungsbewegungen, in: Jens Kastner/Isabell Lorey/Gerald Raunig (Hg.): Occupy!: Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Wien: Turia + Kant 2012, S. 7-50, S. 34. 772 Webseite der Gruppe Reflectantes: URL: http://reflectantes.wordpress.com und http://bancabruta.weebly.com (21.07.2013). 773 „Tough“ wird im Englischen umgangssprachlich für „hart“ oder „zäh“ verwendet. 239 Fotografie-Workshops, der von Oriana Eliçabe initiiert wurde und der als fortlaufende Workshop-Reihe gegenwärtig Bestandteil von Enmedio ist. Das Projekt „Plantale Cara A La Crisis“ (Biete der Krise die Stirn)775 war die erste Aktion, die sich ausgehend von Eliçabes Workshop formierte und den 2011 von den Indignados besetzten zentralen Katalonien-Platz in Barcelona als Interventionsort wählte. „Plantale Cara A La Crisis“ bestand in der Anfertigung von großen Abbildungen776 der Personen, die, weil sie im Markt Mercat de la Boqueria arbeiten mussten, nicht zu den Protesten der 15M-Bewegung gegen die Krise auf den Platz kommen konnten. Die großformatigen zusammenmontierten und fotokopierten Portraits wurden im Anschluss auf dem besetzten Platz installiert. Die Aufnahme von den Personen im Markt war zum einen der erste Produktionsschritt zu den großen Abbildungen und zum anderen bildete er einen Kommunikationsraum, in dem die Marktarbeiter_innen in Gesprächen mit TAF! über die Situation auf den besetzten Plätzen informiert wurden. „Es ging nicht nur darum, die Leute auf dem Platz erscheinen zu lassen, sondern ihnen auch den besetzten Platz an den Ort ihrer Arbeit, den sie nicht verlassen konnten, zu bringen.“777 Lässt sich Eliçabes Kommentar mit dem Beispiel, das Rancière als Emanzipationsmoment definiert, nämlich den Blick des Parkettlegers aus dem Fenster in den Garten, vergleichen? In seinem Beispiel spricht Rancière „nur“ über den Blick des Parkettlegers auf ein Kunstwerk (den französischen Garten), nicht aber über eine auch möglich denkbare Begegnung mit den Künstler_innen. Ließe sich ein vergleichbarer emanzipatorischer Blick bilden, wenn Künstler_innen oder Schriftsteller_innen in erster Person von dem entfernt liegenden (Katalonien)Platz erzählen? Die Marktarbeiter_innen konnten sich dann auf dem Katalonien-Platz mit den Anderen sehen. Oder sind wir hier wieder mit der ungleichen Situation konfrontiert, dass Intellektuelle zu Arbeiter_innen sprechen? Welches sind die Unterschiede zwischen dem Blick in den Garten und dem Gespräch mit dem Gärtner des kunstvollen gotischen Gartens? Stellen nicht beide (Werk und Künstler_innen-Gespräch) Expert_innen-Vokabular dar ? Eines mit dem man_frau sich ent-identifizieren kann? Denn nach Rancière würde es den Proletarier_innen nicht an Bewusstsein über ihre Lebensumstände mangeln, sondern an der Möglichkeit, das sinnliche Sein, das mit den Lebensumständen verbunden ist, zu verändern. Er meint also, es gehe nicht darum, eine Kenntnis über die eigene Situation zu 774 TAF!“ verweist auf den spanischen Comicsound „Taf!“ (im englischen „Slam“). TAF! steht für die einzelnen Buchstaben von „Taller de Accion Fotografica“ (Fotografischer Aktions Workshop). 775 [Übersetzung H.R.] 776 Tiled printing‬ ermöglicht großformatige Bilder durch billige Schwarzweiß-Kopien. Vgl. „Tiled printing‬“ in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, URL: http://en.wikipedia.org/wiki/Tiled_printing (02.02.2013). Die Software Rasterbator teilt ein Bild in DINA 4 Einheiten ein und ist gratis im Internet downloadbar. URL: http://arje.net/rasterbator (02.02.2013). 777 Kronotop: No somos números. Video-Interview mit Oriana Eliçabe, in: Kronotop 2012, unveröffentlichte Transkription. 240 gewinnen, sondern darum „Leidenschaften“ zu entwickeln, Leidenschaften, die der bestehenden Situation unangepasst sind. „Was ‚diese Leidenschaften‘, diese Erschütterungen der Anordnung der Körper hervorruft, ist nicht dieses oder jenes Kunstwerk, sondern die Formen des Blicks, die den neuen Formen der Werke, den Formen ihrer getrennten Existenz entsprechen.“778 Mit dem Begriff Leidenschaften ist Rancière möglicherweise gar nicht so weit entfernt von der von mir mehrmals hervorgehobenen Bedeutung der Affektmobilisierung durch verschiedene Kommunikationsformen. Anstehende Aktivitäten von Enmedio werden via Hashtags, direktem Streaming, dem Newsletter, über Facebook, Twitter, Menéame und auf der Enmedio-Webseite komuniziert. Auf die Weise zirkulieren Bilder und Texte zuvor und simultan zu der Intervention auf der Strasse im digitalen Kommunikationsnetzwerk. Aus der Aktion auf dem Katalonienplatz entwickelten sich mehrere Initiativen in Enmedio, die sich mit der Krise auseinandersetzten und mit der Gruppe PAH (Plataforma de los Afectados de las Hipotecas)779 zu der Problematik der Zwangsräumung in Spanien kollaborieren. Das Unbehagen über die finanzielle Verschuldung und Rückzahlungsunfähigkeit spielt sich meist im Privaten ab, nicht selten ist es den Personen unangenehm, darüber zu sprechen, da sie die Ursache, für Erfolg und Misserfolg selbst verantwortlich zu sein, internalisiert haben. Die Situation wird, wie wir eingangs gesehen haben, oftmals als ausweglos empfunden.780 Bisher habe ich anhand verschiedener Beispiele den Bezug zu Rancières politischen Subjektraum und dem Emanzipationsprozess der Ent-Identifizierung genommen. Rancière macht die Unterscheidung zwischen zwei Bereichen, die sich als zwei große Politiken der Ästhetik, die Politik des Leben-Werdens der Kunst und die Politik der widerständigen Form, zueinander in Spannung setzen. Zum einen definiert er die kunstmachenden Arbeiter_innen als eine emanzipatorische Bewegung und zum anderen bezieht er sich auf Kunstprojekte, deren 778 779 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 76. Die PAH (Plattform Afectados por la Hipoteca) - ist ein organisiertes Netzwerk von Betroffenen, die von Zwangsräumungen bedroht sind. Die Personen, die sich engagieren, sind Betroffene oder Sympathisant_innen der Initiative. Das Engagement gründet auf keiner ideologischen politischen Haltung, sondern auf der Betroffenheit. Es beteiligen sich auch Menschen, die vorher noch nie politisch aktiv waren. PAH entstand aus der bereits erwähnten V de Vivienda-Bewegung heraus, deren Konferenz „Wir lassen nicht zu, dass die Banken uns aus unseren Häusern werfen“ als Grundlegung für PAH angegeben wird. Vgl. Ada Colau,/Adrià Alemany: Vidas hipotecadas, Barcelona: Angle 2012, S. 91. 780 Die Mieten in Großstädten wie Barcelona und Madrid sind vergleichsweise hoch und entsprechen den monatlichen Raten einer Wohnungshypothek mit dem Unterschied, dass nach 60 Jahren Ratenzahlung die Wohnung den Kreditnehmer_innen gehört. Allerdings gibt es gegenwärtig immer mehr Spanier_innen, die die monatlichen Beträge nicht mehr zahlen können (steigende Arbeitslosigkeit und Unterbezahlung); sie verlieren nicht nur ihre angezahlte Wohnung durch Zwangsräumung, sie müssen danach auch noch weiterhin die Schuld an die Banken abzahlen. 241 Hervorbringer_innen Künstler_innen sind, die im ästhetischen Regime der Kunst agieren. „ [...] die erste [Politik der Ästhetik] identifiziert die Formen der ästhetischen Erfahrung mit den Formen eines anderen Lebens. Sie verleiht der Kunst die Zweckmäßigkeit des Aufbaus neuer Formen gemeinsamen Lebens, folglich ihre Selbstabschaffung als getrennte Wirklichkeit. [...] die andere umgrenzt im Gegenteil das politische Versprechen der ästhetischen Erfahrung gerade in der Trennung der Kunst, in dem Widerstand ihrer Form gegen jede Umwandlung in eine Form des Lebens.“781 Beide haben die Funktion „die normalen Koordinaten der sinnlichen Erfahrung aufzuheben.“782 Grundlegend für Rancière ist eine allgemeine „Aufteilung des Sinnlichen“783 durch Identifikationsregimes, die er auch „apriorische Ästhetik“784 nennt. Damit meint er die Verteilung der Formen, die unsere gemeinsame Erfahrung strukturieren, also beispielsweise Räume und Zeiten, die nach Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit festgelegt werden „ [...] Die Geschichte der Politik ist die Geschichte der Arten und Weisen, mit welchen jene, die nicht als fähig angesehenen wurden, die gemeinsamen Angelegenheiten zu erkennen und zu beurteilen, das Feld des Sichtbaren, Sagbaren und Denkbaren, dass sie in diesem Unvermögen eingeschlossen hatte, neu zu zeichnen wussten.“785 Daraus folgert er, dass die Aufteilung des Sinnlichen ein Zustand von Kräften ist, der durch Spannungen und Konflikten besteht. Politik und Kunst sind für Rancière also keine voneinander getrennten und statischen Sphären, sondern sie sind miteinander verbunden. Es handelt sich um zwei Formen der Aufteilung des Sinnlichen, die jeweils von spezifischen Regimes der Identifizierung abhängen. Es gäbe weder immer Politik, obgleich es immer Machtformen gibt, noch immer Kunst, obgleich es immer Theater, Musik und Malerei gibt. Politik und Kunst versteht er als verschiedene Formen des Erscheinens singulärer Körper in spezifischen Räumen und Zeiten: Das Verhandeln der Bedingungen dieses Erscheinens ist politisch. Politik bezieht sich auf die Weise immer auf die apriorische Ästhetik, mit der verhandelt wird, was als sichtbar und sagbar gilt. Für seine Analyse von kritischer und relationaler Kunst wählt Rancière Beispiele, 781 782 Ebd., S. 55. Ebd., S. 36. 783 Vgl. Jacques Rancière : Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books, 2006. 784 Ebd., S. 26. 785 Jacques Rancière: Ist Kunst widerständig? Berlin: Merve 2008, S. 39. 242 die durch institutionelle Orte bereits als Kunst legitimiert wurden (Museum, Biennale etc.) und die den gegenwärtigen Strukturierungsformen der sinnlichen Erfahrungen, die dem ästhetischen Regime der Kunst eigen sind, entsprechen. Dazu gehört, und er nennt es eine der wesentlichen demokratischen Errungenschaften des ästhetischen Regimes der Kunst, dass Alltagsgegenstände, also vorher Nicht-Kunst-Gegenstände, und kritische Kunst Einzug in die Kunstinstitutionen erhalten haben und auf diese Weise auch Kunst geworden sind. Grundsätzlich beschreibt Rancière das Museum als einen „neutralen Ort.“786 „Was einen revolutionären Arbeitskörper formt, ist nicht die revolutionäre Malerei, ob sie nun revolutionär im Sinne von David oder von Delacroix ist, sondern viel eher die Möglichkeit, diese Werke im neutralen Raum des Museums zu sehen, [...] wo sie denen gleich sind, die einst von der Macht der Könige, vom Ruhm der antiken Städte oder von den Geheimnissen des Glaubens erzählten.“787 Jens Kastner stellt fest, dass Rancières zwei Gleichheitsformulierungen einsetzt: zum einen werden alle Gegenstände im Museum neutralisiert und so zu Kunst, und zum anderen werden die Besucher_innen vor dem Bild gleich, Klassen- bzw. soziale Unterschiede würden verwischen.788 Wie das MACBA (Museum für Gegenwartskunst) in Barcelona und seit einem Jahr die Filmoteca im Stadtteil Raval zeigen, ist das Museum alles andere als ein „neutraler Ort“. Die Setzung des Gebäudes in seiner Funktion als Museum kann als Teil einer Gentrifizierungspolitik seitens der Stadtregierung gesehen werden, um genau die Personen aus dem Stadtteil durch Aufwertungsfolgen (Mieterhöhungen) zu vertreiben (Migrant_innen, Arbeiter_innen, Sexarbeiter_innen, etc.), die nach Rancière im Museum vor dem Bild gleich werden sollen. Zudem bilden hohe Eintrittspreise bereits eine Differenz zwischen Personen, die sich einen Museumsbesuch leisten können und Personen, denen das Geld dazu fehlt.789 Bourdieu, spricht diesbezüglich auch von unterschiedlichen kulturellen Kompetenzen der Museumsbesucher_innen, die durch die familiäre und schulische Sozialisation geschaffen werden. Dabei wird ein bestimmter kultureller Habitus herausgebildet, welcher „als Kompetenz im kognitiven Sinn oder Geschmack im ästhetischen Sinn“790 auftritt. Unter kultureller Kompetenz versteht er die Fähigkeit der Dechiffrierung oder des Decodierens eines Kunstwerks. Denn die Kunst sei nur für denjenigen von Interesse und von Bedeutung, der die kulturelle Kompetenz, d.h. den angemessenen Code besitzt: 786 787 Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 76. Ebd. 788 Jens Kastner: Der Streit um den ästhetischen Blick, Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Wien: Turia + Kant 2012. Vgl. das Kapitel: Exkurs: Das Museum und die Genese des ästhetischen Blicks, S. 84. 789 Vgl. ebd. Jens Kastner führt als Vergleich zu Rancière Überlegungen die Untersuchungen des Soziologen Pierre Bourdieus von Klassenunterschieden ein, gegen den Rancière, ähnlich wie gegen seinen Lehrmeister Althusser, eine Abgrenzungsdebatte initiierte, Zitat in: Jens Kastner: Der Streit um den ästhetischen Blick, Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, S. 75. 790 Irmgard Bontinck: Kultureller Habitus und Musik, in: Herbert Brun/Rolf Oerter/Helmut Rösing (Hg.): Musikpsychologie: Ein Handbuch, Hamburg: Rowohlt 1993, S. 86-94. S. 88. 243 Die bewusste oder unbewusste Anwendung des Systems der mehr oder minderexpliziten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, das künstlerische Bildung ausmacht, bildet die verborgene Voraussetzung jener elementaren Form von Erkenntnis: dem Wieder-Erkennen der eine Epoche, eine Schule oder einen Autor prägenden Stile, und allgemeiner der Vertrautheit mit der immanenten Logik der Werke, die der künstlerische Genuss erheischt. Wem der entsprechende Code fehlt, der fühlt sich angesichts dieses scheinbaren Chaos an Tönen und Rhythmen, Farben und Zeilen ohne Vers und Verstand nur mehr überwältigt und ‚verschlungen‘.“791 Dass die ideologische Ausrichtung von Kunstrezeption im Museum keinesfalls neutral ist, hebt auch Benjamin H. D. Buchloh Anfang der 1980er Jahre in seinem Text „From Faktura to Factography“792 über die russisch-sowjetischen Avantgarden hervor, also genau das Konzept von Künstler_innen, das Rancière verwirft. Buchloh beschreibt, dass Alfred Barr, der Begründer des Museum of Modern Art (MoMA) in New York, die politische Relevanz einiger Bereiche des Konstruktivismus, dessen Zeuge er selbst bei seinem Besuch in der Sowjetunion 1927 wurde, historiographisch negierte und „zwar mit dem Ziel, einen entpolitisierten internationalistischen Diskurs über die moderne Kunst zu begründen und zu exportieren [...].“793 An dieser Stelle gehe ich nicht weiter auf die Rolle des Museums ein, das, wie ich gezeigt habe, mit ganz bestimmten ideologischen Vorstellungen Kunst ausstellt oder sich an Gentrifizierungsprozessen beteiligt, also in keinster Weise neutral ist. Ich wende mich wieder der Selbstorganisation von Enmedio zu. Die politischen Aktionen mit künstlerischen Praktiken oder die Politik der Ästhetik von Enmedio finden außerhalb der Museen statt, das ist auch der Grund warum ich den Fokus dieser Arbeit auf Rancières politischen Subjektraum gelegt habe und nicht auf die widerständige Form, die sich speziell auf das Ausstellungsdispositv Museum bezieht. Der Subjektraum, den Rancière beschreibt, kann sich rein theoretisch überall bilden und setzt sich insofern von dem exklusiven bzw. klassenspezifischen Ort des Museums ab. Wo aber verortet sich dann also „das Künstlerische“, die „künstlerische Form“ und die „künstlerische Praxis“ bei Enmedio? Welche Bedeutung hat die Ästhetik oder die Politik der Ästhetik? Welche Funktion haben künstlerische Praktiken? Funktionieren künstlerische als politische Praktiken, die in- und außerhalb des Kunstbetriebes hegemoniale MachtRelationen dekonstruieren, verändern und eine breite kritische Öffentlichkeit 791 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Aus dem Französischen von Achim Russer/Bernd Schwibs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998. S. 19. 792 Benjamin H. D. Buchloh: From Faktura to Factography, in: October 30, MIT Press Journal 30/1984, S. 82-119. 793 Marcelo Expósito: Die neuen Produktivismen. Aus dem Spanischen von Birgit Mennel, in: EIPCP, 09/2010, URL: http://eipcp.net/transversal/0910/exposito/de/print (02.06.2013). 244 herstellen? „The point of political art is not to represent the world but to act within it. Thus, the first question to ask of political art is: Does it Work? We don’t mean: does it work aesthetically? But does it work politically.“794 Brian Holmes formuliert dies ebenfalls treffend: „The question is not how to aestheticize ‚living as form‘, in order to display the results for contemplation in a museum. The question is how to change the forms in which we are living.“795 Mit den zwei Projekten von Enmedio „No somos números“ (Wir sind keine Nummern) und „Si se puede - pero no quieren“ ( Ja, sie können - aber sie wollen nicht), werde ich abschließend aufzeigen, dass sie den Versuch unternehmen, einen politischen Subjektraum (auch vergleichbar mit dem feministischen Unternehmen des Self-Empowerments) zu bilden, der an eine künstlerische Praxis (Umarbeitung gesellschaftlicher Felder) gekoppelt ist, die faktografische Techniken verwendet. 9.1.2 „Wir sind keine Nummern“: Foto-Interventionen gegen Zwangsräumungen Seit 2012 hat Enmedio gemeinsam mit der PAH (der sozialen Plattform von Betroffenen der Hypotheken) verschiedene Interventionen unter dem Titel „Wir sind keine Nummern“ zur Sichtbarmachung von Verschuldung und Zwangsräumung organisiert Als Enmedio Mitte des Jahres von dem Kurator_innen-Team „No longer empty“796 eingeladen wurde, einen Beitrag für die Ausstellung „How much do I owe you“ in einem alten, leerstehenden Bankgebäude in Brooklyn New York einzureichen, entschied sich die Gruppe dafür, die Einladung zu nutzen, um von der spanischen Krise zu berichten. In der Ausstellung wurden die Interventionen von „No somos números“ als Dokumentation (Video, Fotos und Postkarten) gezeigt. Die Interventionen selbst bestanden aus der Installation von überdimensional großen Foto-Portraits an Schaufensterscheiben von Banken, die den Fotografierten mit Zwangsräumung drohen. Ziel der Interventionen war es, der ökonomischen Darstellung der gegenwärtigen Schuldenkrise, die sich oftmals in den allgemeinen Kommunikationsmedien über Zahlen ausdrückt, Gesichter entgegenzusetzen. Die Foto-Portraits stehen für die 794 Stephen Duncombe/Steve Lambert: An open letter to critics writing about political art, in: Center for artistic Activism New York, 2012, URL: http://artisticactivism.org/2012/10/an-open-letter-tocritics-writing-about-political-art/ (23.12.2012). 795 Brian Holmes: EVENTWORK. The Fourfold Matrix of Contemporary Social Movements, in: Continental Drift. The other side of neoliberal globalization 07/2012. URL: http://brianholmes.wordpress.com/2012/02/17/eventwork/#more-2971 (03.06.2013) 796 How much do I owe you? Ausstellung in Long Island City Queens, New York 2012-2013, URL: http://www.nolongerempty.org/nc/home/what-we-do/exhibitions/exhibition/how-much-do-iowe-you/(02.02.2013). 245 Menschen hinter der Nummern und wurden als öffentliche performative Aktion, die Enmedio vorher über die sozialen Netzwerke (E-Mails, SMS, Facebook, Twitter) ankündigte, an die Schaufenster der Bankfilialen geklebt. Das Foto-Shooting für die Foto-Portraits wurde an einem Samstagmittag auf dem Plaza de los tres Chimeneas im Stadteil Poble Sec in Barcelona realisiert. Es gab ganz unterschiedliche Tätigkeiten zu erledigen: das Notieren von Namen und biografischen Daten der Fotografierten, die sonnenreflektierende Beleuchtung für die Fotoaufnahme ausrichten, den weißen Fotohintergrund installieren, die neuesten Nachrichten über anstehende Zwangsräumungen austauschen, die VideoInterviews und die Fotoaufnahmen machen. Die großen Foto-Portraits, die die Fotografierten im klassischen Format mit Kopf und Oberkörper zeigen, wurden im unteren Bildteil durch Informationen zu der Person ergänzt, bspw.: „Luís Virgillo Asquia/42 years old/Unemployed About to be evicted by Catalunya Caixa“797 Zu den Portraits-Plakaten wurden auch Postkarten hergestellt. Hier wurden auf der Rückseite zusätzlich noch Informationen zu der Person hinsichtlich ihrer sozialen Lebenslage mit abgedruckt: „Luis Virgilio is unemployed. When he lost his job he stopped paying his mortgage. Because the bank had included his wife and son in the mortgage contract, they are all affected. For some time now they have been struggling to reach an agreement with the bank. Their only goal is to be exonerated of their mortgage debts and return to Ecuador, their country of origin. As of now, the bank has given them no response.“798 Sowohl die Produktion der Foto-Portraits, als auch die Installation wurden zu gemeinschaftlichen Zusammentreffen von Betroffenen, und die Größe der Gruppe variierte je nach Verfügbarkeit der einzelnen Personen. Oriana Eliçabe (Fotografin, Enmedio) spricht von einem therapeutischen Effekt der Selbst-Repräsentation. Obwohl sie selbst nicht unmittelbar von einer Zwangsräumung bedroht ist, sieht sie in der Verschuldung eines der vielen Unbehagen, die die prekarisierten Lebensverhältnisse ausmachen. Die Freundschaft zu den Leuten von der PAH wird als gemeinsamer Wunsch nach einer anderen sozialen Realität bezeichnet. Die Foto-Portraits der Personen sind also nicht einfach digital aufgezeichnete und ausgedruckte Gesichter, die die Personen „vertreten“, sondern sie verweisen auf das gemeinsam produzierte Bild als Mittel des Self-Empowerments. Die Bildproduktion und Installation ist als politische Aktion, als Operation in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen und entspricht dem faktografischen 797 Enmedio: ‚Enmedio‘ expone en Nueva York su trabajo contra los desahucios, in: Enmedio Homepage, 18/12/2012, URL: http://www.enmedio.info/enmedio-expone-en-nueva-york-su-trabajocontra-los-desahucios/#.UQUUHejgXC9, (22.07.2013). 798 Ebd. 246 Vorgehen. „For [the fakographer], the fact was the outcome of a process of production. [...] Tretjakov advocating a conception of the fact as an action, a process, and operation. [...] Sergei Tretjakov, [...], founded his entire praxeology on the notion of ‚operativity‘, on the claim not to veridically reflect reality in his work, but to actively transform reality through it. The objectivism of an indifferent documentary had no place in the interventionist practices of the factographers.“799 Auch für Enmedio beginnen die Fotografien erst dann an „zu funktionieren“ ,wenn sie gemeinsam mit den Betroffenen die Bilder an die Schaufensterscheiben der Bank installieren, um auf diese Weise direkt auf die Institution hinzuweisen, die mit ihrem Unbehagen im Zusammenhang steht. Auch in dem Hinzufügen von biografischen Daten der Porträtierten nähert sich die Montage von „No somos números“ den Techniken der Faktograf_innen an: In den zwanziger Jahren rief der russische Schriftsteller Maksim Gorkij in der Sowjetunion dazu auf, 10 000 Biografien über sowjetische Bürger zu verfassen. Diese Biografien sollten anders als klassische Biografien, die meistens von großen Helden der Weltgeschichte handeln, erzählt werden.800 Sie operierten als Geschichte von unten, die nicht einige wenige Individuen als alleinige Akteure der Geschichte feierten, sondern widmeten sich den alltäglichen Lebenszusammenhängen der Biografierten. Zur Umsetzung wurde mit Vorzug auf die Form des Interviews zurückgegriffen. Die faktografische Technik der Biografie ist in Tretjakows „Biografie des Dings“801 (1929) zusammengefasst, die sich auf die Beschreibungen von Tätigkeiten, Beziehungen und Handlungen der Biografierten, im Gegensatz zu psychologisierten Personendarstellungen, konzentriert. Zurück zu den Portraitierten von „No somos números“: Während der Produktion, aber auch beim Installieren der Bilder, bildet sich ein kommunikatives Beziehungsgeflecht, das dem Begriff der Repräsentation, so wie ich ihn in dieser Arbeit verwende, nahesteht. „Postmediale Sozialität entsteht gerade in der non-linearen, vermischten Praxis zwischen Plätzen, Straßen, Versammlungen und medialen Räumen.“802 Wir können hier noch einmal Jacques Rancières Beschreibung des Subjektraumes heranziehen, der die etablierte Aufteilung des Wahrnehmbaren verändert: anstatt 799 800 Devin Fore: Introduction, S. 4. Vgl. hierzu Devin Fore: ‚Gegen den lebendigen Menschen‘. Experimentelle sowjetische Biographik der 1920er Jahre, in: Bernhard Fetz (Hg.): Geschichte und Theorie der Biographie, Berlin: Walter de Gruyter 2009, S. 353–381. 801 Sergej Tretjakow: Biografiia vesci, in: Nikolai Chuzhak (Hg.): Literatura fakta, Moskau: Federatsiia, 1929, S. 66–70. 802 Gerald Raunig: n-1. Die Mannigfaltigkeit machen, in: Occupy!: Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Wien: Turia + Kant 2012, S. 113-S.134, S. 133. 247 sich als Nummer, die ihr Soll nicht erfüllt (der säumigen Kreditnehmer/die säumigen Kreditnehmerin), definieren zu lassen, erscheinen Personen auf der Bildfläche; sie haben Gesichter, Geschichten, beschäftigen sich mit Formen und Seinsweisen (Fotografie, Video etc.), die sie vorher so noch nicht kannten. Es ist ein Ort der Ent-Identifizierung als Mensch mit dem Recht auf würdigen Wohnraum. Wichtiger Aspekt bei den Aktionen von Enmedio ist, dass sie Spaß machen, dass sie die eigene Misere in eine gemeinschaftliche Aktion transformieren; dies wäre möglicherweise der emanzipatorische Effekt, den Rancière beschreibt. Allerdings, und an dieser Stelle lässt sich nicht mehr mit Rancière argumentieren, entsprechen die Tätigkeiten, das Anfertigen der Selbst-Bilder, nicht dem gleichgültigen Blick, der ziellos und interesselos (aus dem Fenster) schweift. Aus Rancières Sicht findet die Emanzipation gerade da statt, wo der Arbeiter kein Proletarier ist, also in dem Moment, in dem er sich nicht mit der Arbeit identifiziert und sich nicht seiner Rolle im Klassenkampf bewusst wird, sondern einfach ziellos umherblickt.803 Rancière geht es bei der Ziellosigkeit des Blicks darum, einer soziologischen und folgedessen polizeilichen Zuschreibung zu entkommen, bei „No somos números“ wiederum ändert sich „nur“ die Form, die den Verschuldeten gegeben wird (Zahl zu Gesicht). Die Montage, die aus den Fotos und den biografischen Texten besteht, bildet allerdings dann, und hier lässt sich wieder mit Rancière argumentieren, eine Fiktion bzw. eine Geschichte, die vorher so nicht erzählt wurde. Hinsichtlich dessen spricht Rancière von der „Arbeit der Fiktion“804, es wird eine andere Geschichte der Krise erzählt, eine die offiziell bisher nur in Zahlen und Zuordnungen als Schuldner_innen und Kreditgeber_innen beschrieben wurde. Zum einen entsteht also bei „No somos números“ eine alternative Erzählung (Fiktion) von der Krise und zum anderen lassen sich die unterschiedlichen Realitätsebenen (Portrait der Schuldner_innen und Bankengebäude) als Montage beschreiben. Auch hier wird, so wie Rancière mehrfach über die Praxis der Kollage ausführt, eine versteckte Welt zu Tage gebracht. In „No somos números“ von Enmedio treten anstatt der Zahl Gesichter und Geschichten hervor.805 Die Montage, die sich über verschiedene Text-, Bild- und Raumebenen zieht, verbindet zusätzlich den Namen der Bank mit den Betroffenen; eine Information, die im Zusammenhang mit den üblichen Nachrichten-Bildern von Betroffenen der Verschuldung ausgespart wird. Umgekehrt werden in einer allgemeinen Berichtserstattung mit Bildern von Banken keine Schuldner_innen gezeigt, um dem 803 Jens Kastner: Der Streit um den ästhetischen Blick. Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, S. 64. 804 Jacques Rancière : Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books, 2006, S. 58. 805 Rancières Positionierung zu künstlerischer Kollage fällt negativ aus. Die zwei Bildwelten, die sich gegenüberstehen (Portraits der Betroffenen und der Bank) ließen sich mit seiner Kritik an Martha Roslers Arbeiten „Bringing the war home“, die wir bereits in dem Abschnitt über den Film „Der subjektive Faktor“ von Helke Sander erläutert haben, näher ausführen. Er beschreibt, dass der sogenannte „Schockeffekt“ der zwei zutage tretenden Welten, heutzutage keine Wirkung mehr hat. Vgl. hierzu auch Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 102 248 Unternehmen nicht zu schaden. Zu der Verarbeitung von Fotografie und faktografischen Techniken schrieb Bertolt Brecht bezüglich der Konstruktion von fotografischer Information. „Die Fotografie ist die Möglichkeit einer Wiedergabe, die den Zusammenhang wegschminkt. [...] aus der (gewissenhaften) Fotografie einer Fordschen Fabrik [können] keinerlei Ansichten über diese Fabrik gewonnen werden.“806 Mit der Installation der Portraits von den Betroffenen an der Bank bildet sich eine Innenansicht der Bank, beziehungsweise wird ein Verweis auf ihre Funktion, wie die der Vergabe von Krediten, hergestellt. Zudem werden die Betroffenen zu öffentlichen Protagonist_innen der allgemeinen System-Krise, die sie vorher allein und als selbstverschuldet erlebt haben. Während der Aktion ergaben sich auch Gespräche mit Passant_innen und einige wünschten sich auch, als Portrait an der Bankenfassade zu erscheinen - auf diese Weise wurde das Portrait zu einer begehrenswerten Äußerung über Unbehagen und die Aktion zur Interaktion mit den Passant_innen, was ja auch wieder temporäre Gemeinschaften bildet. Die Postkarten mit den selben Motiven, wie die der großformatigen Foto-Portraits, wurden während der Installations-Intervention verteilt. Auf ihnen ließen sich Kommentare und Kritik notieren, die direkt an die Bank gerichtet waren. Enmedio sammelte zu einem späteren Zeitpunkt die vielen, in die Briefkästen der Bank gesteckten Postkarten aus den Abfallbehältern ein und postete sie als öffentliches Archiv in einem Tumbler-Blog.807 Wenn Rancière, wie bereits angedeutet, nur von Arbeiten als Kunst spricht, die durch ihre Verbindung zu einer Kunstinstitution als Kunst legitimiert werden, bedeutet dies für die Intervention „No somos números“, dass sie zwar im Nachhinein in einer Ausstellung als „Kunst“ identifizierbar wird, jenseits des Kunstfeldes aber, wo die Intervention stattfand, Politik macht und eben keine Kunst ist. Die Selbst-Portraits in der Ausstellung funktionieren allerdings nur innerhalb einer Foto- oder Video-Dokumentation über die Aktion, da sie, einmal aus ihrem Kontext genommen, nicht mehr direkt auf die Bank bzw. deren Politik der Verschuldung und Privatisierung gerichtet ist und deswegen ihren politischen Charakter verliert. Obwohl so die Dokumentation von „No somos números“ innerhalb des Kunstfeldes nicht intervenierend wirkt, findet Rancière für diese Form von „Ausstellung“ Anerkennung: „ [...] oft sind es Kunstwerke, die Unterdrückungs- oder Konfliktsituationen eine sinnliche, dissensuelle Form verleihen, 806 Bertolt Brecht: Durch Fotografie keine Einsicht, in: Werner Hecht (Hg.): Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment, Bd. 21, Schriften 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 443. 807 Homepage des Projekts „No somos numeros“: URL: http://nosomosnumeros.tumblr.com/ (04.06.2013). 249 die die Medien ignorieren oder nur über ein paar diskursive und visuelle Stereotypen kennen. Ich sehe [...] nichts Schlechtes darin, dass man versucht, die Mittel und die Orte der Kunst zu verwenden, um dem eine neue sichtbare und provokante Form zu geben, was die Regierungs- und Medienapparate im Gewebe des Konsenses verschwinden lassen. Genau so verstehe ich auch die Politik der Kunst, nämlich als Konstruktion sinnlicher Landschaften und als Herausbildung von Sichtweisen, die den Konsens dekonstruieren und zugleich neue Möglichkeiten und Fähigkeiten schaffen.“808 Rancières Stellungsnahme zu einer alternativen Medienberichterstattung im Ausstellungsraum, durch die diese ihre Legitimität im ästhetischen Regime der Kunst erhält, ist weit von der benjaminschen Idee einer „Politisierung der Kunst“809 entfernt und bildet möglicherweise ein Symptom der „Ästhetisierung der Politik“810 innerhalb des Kunstfeldes aus. Die Politisierung der Kunst meint den vollständigen Bruch mit dem alten System. Kunst wird politisch als Praxis der Kritik. Im Ausstellungsraum in New York erhielt zwar die spanische Krise als dokumentarische Repräsentation Einzug, nicht aber als intervenierende Praxis in das Ausstellungssystem. Auch wenn Rancière eine solche Verwendung von politischer Berichterstattung im Kunstfeld als positiv befindet, betont er, dass die Politik der Kunst eben nur durch eine gewisse Gleichgültigkeit entsteht, die Kunst dürfe sich nicht Inhalten unterordnen. Für die Intervention „No somos números“ setzte Enmedio das aus der traditionellen Kunst kommende Format des dokumentarischen Foto-Portraits ein, das durch kurze biografische Daten bezüglich der Situation der Betroffen ergänzt wurde. Möglicherweise ist hier der Begriff dokumentarisch missverständlich und müsste durch die faktografische Vorgehensweise ersetzt werden, da die Foto-Portraits innerhalb einer operativen Aufnahmesituation entstanden sind, die gemeinschaftlich erarbeitet wurde. „ [...] the term ‚documentary‘, which was created in 1926 by filmmaker John Grierson (who derived it, it seems, from the French word ‚documentaire‘), came to designate work that strives to create the most objective depiction of reality 808 Markus Klammer/Stéphane Montavon/Stefan Neuer/Mladen Gladic/Jacques Ranciére: Eine andere Art von Universalität, in: Nina Bandi/Michael G. Kraft u.a. (Hg.): Kunst, Krise, Subversion, Bielefeld: Transcript 2012, S. 183- 194, S. 184. 809 Vgl. Zitat von Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Gesammelte Schriften, Bd. VII, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991: „Der Faschismus versucht, die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. […] Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. […] So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.“ S. 382f, S. 384ff. 810 Ebd. 250 possible, then this passive and impartial representational practice could not be farther from factography’s ambitions.“811 Vermutlich würde Rancière einwenden, dass Enmedio und die PAH das künstlerische Portrait für einen ganz bestimmten politischen Inhalt instrumentalisiert haben. „Die Idee der Politik der Kunst ist [...] etwas ganz anderes als die Idee einer Arbeit, die darauf abzielt, die Sätze eines Schriftstellers, die Farben eines Malers oder die Akkorde eines Musikers der Verbreitung von Botschaften oder der Produktion von Repräsentationen anzupassen, die einer bestimmten Sache dienen sollen. Die Kunst macht Politik, bevor die Künstler Politik machen. Vor allem aber macht sie auf eine Weise Politik, die dem erklärten Willen der Künstler, mit ihrer Kunst Politik zu machen - oder nicht zu machen-, zu widersprechen scheint.“812 Der erklärte Willen von Enmedio steckt in der Zielsetzung der Intervention, nämlich die Problematik der Zwangsräumung sichtbar zu machen und in Verbindung mit einer generellen Verschuldungstaktik seitens der Regierung zu setzen. Wo aber befindet sich der Widerspruch, von dem Rancière spricht? Habe ich zuvor die Bezugnahme von Enmedio auf die Rolle der Produktivist_in, die als immaterielle Arbeiter_in, Künstler_in und Konstrukteur_in auf der Bedeutungsebende direkt ins gesellschaftliche Geschehen interveniert, als künstlerische Praxis beschrieben die politisch operiert, so gibt es bei den Mitgliedern von Enmedio gerade hinsichtlich des Merkmals, das Tretjakow als die „Entprofessionalisierung der Schriftsteller_innen“813 bzw. der Künstler_innen beschreibt, eine andere Auffassung zu der Aufteilung der Berufsfelder in der Gruppe. Diese lässt sich mit dem zuvor erwähnten Widerspruch von Rancière in Verbindung setzen. Enmedio hält ganz grundsätzlich an den Rollen als Text- und Bildexpert_innen fest, es gibt Foto-, Video-, Grafik- und Textproduzent_innen. Dies verdeutlichte sich in einer Diskussion, die um die Aneignung der Praxis der Selbst-Bilder entstand. Jene Praxis wurde von anderen Gruppen aufgegriffen. In Terrassa, einer Stadt in der Nähe von Barcelona, klebte eine Gruppe Selbst-Bilder an die Fenster der Bankfilialen. Allgemein fanden die Mitglieder von Enmedio das Aneignen ihrer vorgeschlagenen Praxis der Selbst-Repräsentation als positiv, aber es wurde jedoch die amateurhafte Ausführung der Praxis kritisiert und gewünscht, dass Enmedio als Expert_innen eingeladen würde, um eine perfekte Selbst-Repräsentation gemeinsam anzufertigen, damit der Effekt der Sichtbarmachung nicht durch 811 812 813 Devin Fore: Introduction, S. 3. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, S. Vgl. Walter Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 686. 86. 251 beispielsweise unsauberes Layout gestört würde. Das steht im Gegensatz zu dem, was für den faktografischen Künstler Sergej Tretjakow galt, der in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in einer Kolchose arbeitete, wo er beispielsweise die Gründung einer von den Bauern selbst hergestellten Zeitung initiierte: die Amateurhaftigkeit stellte eine Positionierung gegen den Elitismus der bürgerlichen Kunstpraxis dar. In der Enmedio-Diskussion um die amateurhafte Selbst-Repräsentation und die „schlechte“ Kopie zeichnet sich ein wesentlicher Unterschied ab, der zwischen der visuellen Grammatik von gegenwärtigen linken sozialpolitischen Bewegungen und Enmedio besteht. Die Produzent_innen von Enmedio argumentieren aus der Sicht von Bildexpert_innen, die im Umgang mit digitalen Aufnahmetechnologien geschult sind, und sie sehen keinen Sinn darin, sich gegen eine elitäre bürgerliche Kunstpraxis absetzen zu müssen, sondern eignen sich diese vielmehr an, wenn sie für ein Vorhaben von Nutzen ist. Der emanzipatorische Raum, der durch die Produktion von amateurhafter SelbstRepräsentation gebildet wird, wurde zwar als politische Aktion anerkannt, war aber bei dem Projekt „No somos números“ nicht als eine ästhetische Dimension eingeplant. Man ging davon aus, dass ein „schlecht gemachtes Bild“ seinen politischen Effekt verfehlen würde und nur innerhalb der visuellen Grammatik der sozialen Bewegungen funktioniert. „Ein schlechtes Bild überzeugt nur die bereits Überzeugten, Enmedio produziert nicht für die bereits Überzeugten, sondern für Alle und hat sich zum Ziel erklärt, auf die Weise mit Repräsentationen zu arbeiten, die innerhalb einer allgemeinen populären, kulturellen als auch künstlerischen Grammatik funktionieren.“814 Um noch einmal auf Rancières Paradox zurückzukommen, der besagt „die Kunst mache Politik, bevor die Künstler Politik machen [...] sie mache auf eine Weise Politik, die dem erklärten Willen der Künstler, mit ihrer Kunst Politik zu machen zu widersprechen scheint.“815 Während einerseits die „schlechte Kopie“ für Enmedio als Expert_innen ästhetisch bzw. künstlerisch nicht „vertretbar“ war, ließe sich andererseits die „Aneignung der künstlerischen Praxis“ von Laien als Politik verstehen, die nicht mehr dem erklärten Willen der Künstler_innen entspricht, weil die Abbildung von einem „laienhaften Rauschen“ durchzogen wird. In dem nächsten Beispiel wurde die Aneignung bzw. die Verbreitung der Praxis von Nicht_Bildexpert_innen im Vorfeld schon mit angelegt und die Veränderungen, das „amateurhafte Rauschen“, waren grundlegend für den Erfolg der Aktion. 814 Unveröffentlicher Teil aus dem Interview von Amador Fernández-Savater/Enmedio: Interrumpir el relato dominante y crear nuestro propio relato es la política que nos interesa, in: Interferencias. El diario, 07/06/2013, URL: http://www.eldiario.es/interferencias/Interrumpir-relato-dominanteconsiste-politica_6_140745938.html (21.07.2013), [Videotranskription und Übersetzung A.S.]. 815 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, S. 86. 252 9.1.3 „Sie können - Aber sie wollen nicht“ Eine Grafikkampagne, die sich an die Regierenden richtet Einsatzort der von Enmedio entworfenen Grafik „Sí se puede - pero no quieren“ sind die Strassen vor den Häusern und Büros der Politiker_innen, die sich gegen eine Änderung der Wohnraum- und Verschuldungspolitik aussprechen. Dass für den Ort der Aktion ein privater bzw. persönlicher Raum im Leben der Repräsentant_innen der spanischen Regierung gewählt wurde, könnte als eine Reaktivierung des 68iger Slogans das Private ist politisch interpretiert werden, da man sich zum einen von den Regierenden nicht mehr vertreten fühlt und zum anderen mit dem Wohnraum genau den Ort anvisiert, an dem man durch die Politik der Regierenden das eigene Unbehagen erfährt: dem Wohnraum als Politikum. Im November 2012 reichte die soziale Plattform PAH eine Liste von 1,5 Millionen Unterschriften für eine Volksinitiative zur Gesetzesänderung im Verfahren der Zwangsenteignungen von Wohnungen und der Handhabe zur Rückzahlung von Hypotheken im spanischen Parlament in Madrid ein. Im Februar 2013 trug Ada Colau als Repräsentantin von der PAH das Anliegen der Volksinitiative im Abgeordnetenhaus vor, über das in der folgenden Woche abgestimmt werden sollte. Fast sah es so aus, als würde die Regierungspartei PP sich gegen die Volksinitiative entscheiden, aber durch den Selbstmord eines Ehepaares am Tag zuvor, das vor der Zwangsräumung stand, kam die Regierungspartei sichtlich unter Druck und stimmte dem Volksbegehren zu. Um aber nicht durch minimale, die Situation der Zwangsräumungen nicht wirklich verändernde Gesetzesvorschläge816 seitens der Regierungspartei „beruhigt“ bzw. stillgestellt zu werden, rief die PAH dazu auf, die Proteste und den Druck auf die Politiker_innen zu verstärken, diesmal mit Escraches direkt vor ihren Häusern. Enmedio kollaborierte mit einem für jeden/ jede aus dem Internet downloadbaren Grafik-Kit, das die Escraches begleitete. Die Protestform, die ursprünglich aus Argentinien kommt817 , versucht durch die Hausbesuche Verstecktes ans Licht zu bringen: im Fall von Spanien, die ablehnende Haltung der Politiker_innen in Bezug auf das Recht auf Wohnraum. „ [...] es war wichtig, deutlich zu machen, dass die Escraches nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen. Ihr Ziel ist es, über die sozialen Konsequenzen von politischen Entscheidungen zu informieren und zu kommunizieren. Dies bedeutete, dass wir 816 Eine zentrale Forderung der PAH ist die Dación en pago, dass die Bank, bei der der Kredit aufgenommen wurde, die Wohnung überschrieben bekommt und dafür sämtliche Schulden erlassen werden. Außerdem sollen die betroffenen Familien zu einer Miete, die maximal 20 bis 30 Prozent ihres Einkommens entspricht, in der Wohnung wohnen bleiben können. Diese Forderung konnte durch die PAH in vielen Einzelfällen in Verhandlungen mit Banken durchgesetzt werden. Das Ziel ist aber, die Dación en pago gesetzlich festzuschreiben. Weiterhin fordert die PAH, dass sämtliche der mittlerweile sechs Millionen leerstehenden Wohneinheiten in Sozialwohnungen umgewandelt werden - d.h. einkommensabhängig vermietet werden. Zentrales Argument ist dabei, dass Wohnraum keine Ware sein darf, sondern ein Recht ist. Bisher beinhaltet der vorgelegte Gesetzesentwurf nur eine den Umständen mildernde Lösung für soziale Extremfälle. 817 Vgl. Kapitel: „H.I.J.O.S.: Eine soziale Bewegung in Argentinien“, S. 160. 253 uns eine visuelle Strategie ausdenken mussten, die eine nichtkonfrontative Situation erzeugt. Wir dachten an eine Reihe von Bildern, die sofort übertragen werden konnten und die die Hoffnung auf die Bürgerinitiative des Volksbegehrens enthalten. Zweitens ging es hier um eine Zusammenarbeit mit einer sozialen Bewegung (PAH), die sich bereits ein visuelles Universum in den letzten Jahren aufgebaut hatte (die Farbe grün, der Slogan ‚Sí se puede‘, etc.), das bereits tief in der kollektiven Vorstellung installiert war. Dem konnten wir nicht einfach den Rücken kehren. Und schließlich wurde die Kampagne über ganz Spanien geplant und so mussten wir uns etwas Einfaches ausdenken, das einfach in großem Umfang zu reproduzieren war.“818 „Sí se puede“ (Sie können) existierte bereits als Motto von der PAH und lehnte sich an den Slogan der US-amerikanischen Wahlkampagne Barak Obamas Yes we can an, der von dem einprägsamen im Agitprop Stil gehaltenen Portrait-Plakat Obamas begleitet wurde. Als Enmedio von der PAH gefragt wurde, sich an der Sichtbarmachungs-Kampagne zu beteiligen, fügte das Kollektiv einfach nur den Satz „pero no quieren“ (aber sie wollen nicht) hinzu. „Wir fanden, dass das die perfekte Repräsentation des Konfliktes darstellte, mit dem sich die PAH konfrontiert sah. Sie haben über vier Jahre gekämpft und eine Initiative für ein Volksbegehren ins Leben gerufen, über das im Parlament abgestimmt werden sollte: es gibt Lösungen für das Wohnungsproblem, aber eine kleine Gruppe von Politiker_innen hat die Macht die Lösung zu blockieren.“819 Die Politiker_innen wurden direkt in ihrer Funktion als Vertretung des Volkes angesprochen. Die Sätze sind auf grünen und roten Flächen abgedruckt: die Farben beziehen sich auf Abstimmungsresultate im spanischen Parlament, die in Statistiken und Grafiken farbig dargestellt werden: positive Mehrheiten (grün) und negative Minderheiten (rot). „Anstatt etwas Neues zu entwickeln, entschieden wir uns für das genaue Gegenteil, wir wollten die bereits existierende graphische Identität von der PAH stärken. Das ist eine gewöhnliche Praxis in unserer Arbeit, weil wir glauben, dass Kreativität in der Unbegrenztheit der Kombination von bereits vorhandenen Dingen besteht. Die Kreise für die Kampagne sollten aus Karton sein, eines der billigsten Materialien. Das ist ebenfalls eines unserer Einstellungen zu den Dingen: Sie sollen so einfach wie möglich für jeden und jede anzueignen sein. 818 Gruppe Enmedio: „Sí se puede. Pero no quieren“. Así se hizo la campaña gráfica de los escraches, in: Enmedio 2013, URL: http://www.enmedio.info/si-se-puede-pero-no-quieren-asi-sehizo-la-campana-grafica-de-los-escraches/ (21.07.2013) [Übersetzung A.S]. 819 Ebd., [Übersetzung A.S]. 254 Deshalb wählten wir die Kreise, denn ein Kreis ist etwas, den jede/r der/die ‚o‘ sagen kann, zeichnen kann. Die Kampagne wurde durch die ‚Sí se puede‘ Aufkleber erst richtig vollständig und erklärt das Hauptmotto. Auf die Weise konnten Ladenbesitzer_innen, Bars oder Ausstellungsräume ihre Orte markieren und die Initiative unterstützen. Um die Kampagne so breit wie möglich zu streuen, wurden alle Materialien als Grafik-Kit mit Instruktionen zur Herstellung von den runden Kreisen zum Downloaden ins Internet auf die Webseite von der PAH und Enmedio gestellt.“820 Wesentlich war also, dass die Ausführung der großen Kreise einfach zu realisieren war und viele Anwender_innen erreichen konnte. Dieser Aspekt wiederum prägt auch die Ästhetik (Verwendung von günstigen Materialien, Grundfarben und formen) der Intervention. Es entstanden ganz unterschiedliche Formate und Ausführungen der runden Pappkarton-Transparente mit der Aufschrift „Sí se puede“ und „Pero no quieren“, hergestellt von den Personen, die dem Aufruf der PAH zu den Escraches vor die Häuser und Büros der Regierenden folgten. Die Unterschiede der Transparente korrespondierten mit der Qualität der Drucker und dem Ideenreichtum derjenigen, die sich die Daten des Grafik-Kits herunterluden und damit anfingen zu basteln. Die Stadt und das gesamte Land verwandelte sich innerhalb weniger Tage in ein Terrain aus überwiegend grünen Punkten „Sí se puede“. Die Intervention mit den Escraches stellte neben dem Effekt der Sichtbarmachung, dass einige Wenige über den Wohnraum von Vielen bestimmen und das Volksbegehren stoppen können, auch zusätzlich einen Eingriff in die klassische topografische Grammatik der Protestform Demonstration dar. Normalerweise enden Demonstrationen vor dem Regierungssitz, wie beispielsweise in Barcelona vor dem Rathaus auf der Plaza Sant Jaume im Zentrum der Stadt. Die Escraches fanden in den oftmals höher gelegenen und exklusiven Wohnvierteln der Regierenden statt, die, ähnlich wie anfangs erwähnt in dem Kapitel „Zauberberg und Hustenburg“, als Orte, die „oben und unten“ liegen, soziale Ungleichheiten markieren. Das Wort Escrache ist erst durch die Aktionen von der PAH in Spanien bekannt und allgemein populär geworden. Wie sehr die soziale Praxis des Escraches eine Bedrohung für den Machtdiskurs eines Landes darstellt, zeigt der Zeitungsartikel vom April 2013821, der davon berichtet, dass die spanische Polizeigewerkschaft SUP (Sindicato Unificado de Policía) ihren Beamten die Verwendung des Wortes Escrache in Polizeiberichten verbietet. Die Gewerkschaft empfiehlt, das Wort Escrache, das von den linken sozialen Bewegungen aus Argentinien stammt, zukünftig durch Begriffe wie Belästigung, Bedrohung und Nötigung zu ersetzen. 820 821 Ebd., [Übersetzung A.S]. O.A.: El SUP denuncia la orden que obliga a los policías a no usar el término escrache, in: Huffingtonpost, 04/2013, URL: http://www.huffingtonpost.es/2013/04/22/el-sup-denuncia-la-orden_n_3131343.html (04.06.2013). 255 Die Interventionen „No somos números“ und „Sí se puede“ basieren beide auf der Bildung von gemeinsamen Räumen und der Produktion von Zeichen und Kommunikation, um ein vorherrschendes Verständnis der offiziellen Landespolitik bzw. der Bankenkrise zu dekonstruieren. Enmedio und die zwei vorgestellten Projekte lassen sich, als aktuelle Beispiele, für Selbst-Repräsentation von Unbehagen unter Verwendung künstlerischer Praktiken anführen. Vom Persönlichem ausgehend setzt sich die Gruppe Enmedio für eine politische Wahrnehmung des Alltäglichen ein und kollektiviert ihr verfügbares künstlerisches, technologisches und soziales Wissen. Das Alltägliche wird zum relevanten Bestandteil der politischen und künstlerischen Auseinandersetzung und ihre Aktionen werden, ähnlich wie in den linken sozialen Bewegungen, zur „illegalen Ausübung der Politik“822 , die gegen eine offizielle Politik vorgeht. Mit dem französischen Philosophen Jacques Rancière konnten an verschiedenen Stellen Widersprüche aufgezeigt werden beziehungsweise Fragen gestellt werden, die sich explizit mit dem Aspekt der Ästhetik und dem Politisch-Werden der Kunst auseinandersetzen. 822 Vgl. Daniel Bensaid: Eine Welt verändern. Bewegungen und Strategien. Münster: Unrast 2006. 256 9.2 Abschließende Worte: Writing back In dieser Arbeit wurden Produzent_innen vorgestellt die sich innerhalb und außerhalb des Kunstfeldes bewegen und die sich für Sichtbar- oder Sagbarmachung von Unbehagen engagiert haben. Gleichzeitig wurde deutlich, dass es sich bei den Beispielen um unterschiedlichste Unbehagen und Krisensituationen handelt. Die Arbeit begann mit zwei Künstler_innen, die ihr Unbehagen über ihre Arbeitssituation in Bild und Text zum Ausdruck brachten. Es folgten als Gegenpol zu dieser eher bürgerlichen Kommunikation von Unbehagen die SelbstBeschreibungen von Arbeiter_innen hinsichtlich ihres Unbehagens in der Fabrikarbeit und der sozialen Lebensbedingungen in der Gesellschaft. Das Unbehagen der Frauen in der Zeit der 68er-Bewegung bezieht sich auf das aus dem öffentlichen Leben Ausgeschlossen sein und auf die Abdrängung in private Bereiche, wie das Kinder gebären, den Haushalt führen und die Erziehung. Das Unbehagen über die postfordistischen Arbeitsbedingungen und die neuen Formen der kapitalistischen Ausbeutung wurden im zweiten Teil der Arbeit skizziert. Das Unbehagen über die Form der Erinnerung an die Desaparecidos in der argentinischen Militärdiktatur zeigte das Beispiel eines Films aus Argentinien. Die Arbeit endet mit den Aktionen des Kollektivs Enmedio, die sich um die Sichtbarmachung von dem Unbehagen der Verschuldung in der gegenwärtigen Krise drehen. Gemein haben diese verschiedenen Unbehagen die anfängliche Unsichtbarkeit und Unsagbarkeit ihrer Erscheinungsform, bspw. das Gefühl oder der Eindruck „fehl am Platz zu sein“ oder „keinen Platz zu haben“, „Schuld zu haben“ oder „ungerecht behandelt“ worden zu sein. Für diese Sichtbarmachung mussten erst einmal Räume und Mittel der Artikulation geschaffen werden, in denen Sprachen, Bilder, Fragen, Methoden, Praxen und sprechende Körper entwickelt werden konnten, die erlauben, den primären Eindruck in eine intervenierende Handlung umzuwandeln. Insgesamt bin ich von dem Begriff des Autobiografischen ausgegangen, dessen politische Bedeutung ich im ersten Teil der Arbeit, unter dem Titel „Das persönliche und die Produktion“, mit autobiografischen Texten, verschiedenen filmischen Arbeiten und dem Slogan der Frauenbewegung Das private ist politisch herrausgearbeitet habe. Im Zweiten Teil wurde „Das Leben zum Arbeiten gebracht“ und gezeigt, dass autobiografische Kommunikations-Praktiken und Selbst-Repräsentationen inzwischen zur allgemeinen kapitalistischen Produktion gehören. Zusätzlich habe ich widerständige Selbst-Repräsentationen vorgestellt, die innerhalb der digitalen Netzwerke agieren. Der dritte Teil der Arbeit, in dessen Titel eine Frage steckt „Krise. Neue kollektive Selbst-Repräsentationen?“ legt dar, und das ist die These der Arbeit, dass autobiografische Praktiken in Krisensituationen erneut an Bedeutung gewinnen und als Formen der politischen Wahrnehmung des eigenen Alltages relevant werden, indem sie Unbehagen sichtbar bzw. sagbar machen und Forderungen für ein würdigeres Leben stellen. Es sollte gezeigt werden, dass künstlerische bzw. kulturelle Praktiken (Montage, Performance, Text, Film etc.) Möglichkeiten darstellen, um Dissens zu markieren, ihn sichtbar machen oder in den gegenwärtigen, manchmal nur momenthaften 257 Selbst-Repräsentationen bei öffentlichen Performances, Besetzungen, Demonstrationen und Webseiten etwas vorher Unsagbares sagbar zu machen, um Gemeinschaften zu bilden und Öffentlichkeiten für Unbehagen herzustellen. Öffentlichkeiten können sich in ihrer Funktion als Anerkennungsgemeinschaft sehr von einander unterscheiden. Wird eine Arbeit beispielsweise im Museum ausgestellt, wurde sie zuvor von Kurator_innen, Kritiker_innen und einer spezifischen kulturellen Gemeinschaft bereits als Kunst bewertet, und schreibt sich auf diese Weise in die Kunstgeschichte ein. Erst die Ausstellung dieser Arbeit teilt dann die Museumsbesucher_innen in diejenigen, die sich der kulturellen Gemeinschaft zugehörig fühlen, weil sie die Kriterien und Referenzen des Kunstwerkes verstehen und diejenigen, die ausgeschlossen bleiben, weil sie keine spezifische kulturgeschichtliche Bildung besitzen. Beide bestätigen aber mit ihrem Besuch im Museum die Anerkennung der Auswahl-Kriterien für Kunst.823 Die Foto-Portraits von Enmedio an der Schaufensterscheibe der Bank fangen erst dann an „zu funktionieren“, wenn sich neben dem gemeinschaftlichen Produktionsraum, der bei der Anfertigung der Portraits entstanden ist, tatsächlich auch noch eine zustimmende Öffentlichkeit am Ort der Installation und darüber hinaus bildet. Das ist die Form der Anerkennung, die bestätigt, dass die Art und Weise mit der das Unbehagen artikuliert wurde, von mehreren Personen, auch unpolitischen, zufälligen Passanten, sowohl von Nicht-Künstler_innen als auch Künstler_innen geteilt wird. Mit Selbst-Repräsentation wurde in dieser Arbeit wesentlich der Begriff der SelbstOrganisation verknüpft, der im benjaminschen Sinne den Produktionsapparat verändert. Die versammelten Körper, die Öffentlichkeit herstellen, entsprechen Marinas Garcés Beschreibung von „Kritik verkörpern“. Sie sind angefüllt mit ganz unterschiedlichen Biografien und versammeln sich namenlos oder unter multiplen Namen bzw. Platzhaltern (99%, Occupy, Indignados, Enmedio etc.). Ich habe gezeigt, dass Selbst-Repräsentationen, wie sie in dieser Arbeit verstanden werden, unmittelbar das Leben angehen, dass das Intervenieren in das (Film-) Bild, in die Theorie, in den Alltag, im Internet und auch in den Stadtraum eine wesentliche Rolle spielt, um gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern. Die postmedialen sozialen Bewegungen wie 15M, OWS und die des sogenannten arabischen Frühlings sind Affekt-Mobilisierungen, die von der eigenen Betroffenheit und dem eigenen Unbehagen ausgehen, aber gemeinsam an einem Ort sich als heterogene Singularitäten zusammenschließen und mit künstlerischen Formen und der direkten Demokratie ohne Repräsentant_innen experimentieren. Hito Steyerls zu Begin der Arbeit eingeführter Begriff der Visual Bonds stellt die Verbindungslinien, Assamblages, Allianzen und Komplizenschaften zwischen all den verschiedenen Geschichtlichkeiten, Ländern, Bewegungen, Praktiken, Theorien und einzelnen Koordinationspunkten dar. Visual Bonds bilden ein offenes, prozesshaftes und uneindeutiges Beziehungsgeflecht, das die Strukturen und Mechanismen der dominanten Ordnung zu nutzen versucht, um deren Normen und Hierarchien gemeinsam herauszufordern. 823 Vgl. Jens Kastner: Die ästhetische Disposition. Eine Einführung in die Kunsttheorie Pierre Bourdieus. Wien: Turia + Kant 2009, S. 105. 258 Anhang 1. Projektbeschreibung Kronotop.org 1.1 Interview I : Ausschnitt aus dem Interview mit Martha Rosler 1.2 Interview II : Ausschnitt aus dem Interview mit María Ruido 2. Exkurs Spanien: Politisches Kino 2.1 Exkurs Spanien: Wirtschaftkrise 3. Exkurs Argentinien: Third Cinema und politisches Kino in Argentinien 3.1 Exkurs: Argentinien: Die Militärdiktatur 4. Bibliografie 259 1.Kronotop.org: Kurzbeschreibung von dem Projekt Kronotop.org ist ein kollaboratives Forschungsprojekt, das von Tjasa Kancler und mir initiiert wurde und auf der gleichnamigen Webseite Fragen, Antworten und Material zu Aktion, Theorie und Praxis versammelt. Künstler_innen, Filmemacher_innen, Theoretiker_inen und Aktivist_innen werden in Video-Interviews von uns zu Theorien und Praktiken von audiovisueller Produktion, politischer Intervention und Repräsentation befragt und aufgezeichnet. Die Webseite mit den vielen unterschiedlichen Stimmen in Form von VideoInterviews eröffnet einen Raum des kollektiven Sprechens, das Querverbindungen zwischen den Themen, Praktiken und gemeinsamen Politiken zieht. Den Motor von Kronotop824 bilden die Interview-Fragen, sie generieren Antworten, stellen Referenzen her und produzieren weiterführende Fragen. Ziel des Archivs von Kronotop.org ist, mit der Publikation von den VideoInterviews Ideen zirkulieren zu lassen, die von anderen Personen oder Gruppen aus anderen sozialpolitischen und künstlerischen Kontexten wiederaufgegriffen, angeeignet, weiterentwickelt und reartikuliert werden können. Die Video-Interviews lassen sich als gesamten Film ansehen oder fragmentiert, sortiert nach Antworten und Fragen. Zusätzlich befindet sich das Material, das Ausgangspunkt für das Interview war (Filme, Aktionen, Interventionen, Texte) auf der Webseite verlinkt. Bereits realisierte Interviews: Madina Tlostanova, Theoretikerin (2013): On Post-Soviet Imaginary and Global Coloniality: a Gendered Perspective Oriana Eliçabe, Fotografin, Aktivistin, Enmedio/TAF!/(2013): No somos números Marissa Lôbo, Künstlerin, (2102): Fuck you queer white supremacy celebration! Marion Hamm, Aktivistin und Ethnologin, (2012): Communication Guerrilla Mariana Corral, GAC, argentinisches Künstler_innenkollektiv, (2012): Pensar a la defensiva: Imagen, Memoria, Resonancias Not An Alternative, Kollektiv, Beka Economopoulos, Jason Jones, (2012): Occypy John Jordan, Künstler und Aktivist, (2012): We are Insurgent, We are Everywhere! Franco Berardi, Theoretiker und Aktivist, (2011): Transformemos la catástrofe en subversión! 824 Der Begriff Chronotopos (griech. chronos = Zeit; tópos = Ort) stellt die Verbindung zwischen Zeit und Ort her. Der russische Litertaturwissenschaftler M.M. Bakhtin verwendete den Begriff Chronotope, um die raumzeitliche Matrix, die die Grundbedingung von jeder erzählerischen oder sprachlichen Handlung ist, zu erklären. Spezifische Chronotopen korrespondieren mit ganz bestimmten Gattungen, Formen des Sprechens, die wiederum selbst auf konkrete Weltansichten oder Ideologien verweisen. Chronotopen bilden eine diskursive Einheit von Raum, Zeit und Ideologie. Bakhtin formuliert auf diese Weise das Koexistieren von verschiedenen Stimmen zur gleichen Zeit. 260 Lucia Egaña Rojas, Künstlerin und Filmemacherin, (2011): My sexuality is an artistic invention Oliver Ressler, Filmemacher und Aktivist, (2011): This is What Democracy Looks Like? Olaf Sobczak, Irene Bude, Steffen Jörg, Filmemacher_innen, (2010): Empire St. Pauli Harun Farocki, Filmemacher, (2010): Serious Games Ana Pipi Oberlin, Rechtsanwältin und Aktivistin von H.I.J.O.S.. Sandra Schäfer, Filmemacherin, (2010): Passing the Rainbow Amador Fernandéz Savater, Aktivist und Autor, (2011): La cena del miedo Marina Gržinić, Künstlerin und Theoretikerin, (2011): Images of Struggle/Decoloniality Martha Rosler, Künstlerin, (2010): If You Lived Here Still… Maria Ruido, Künstlerin, (2011): Tiempo Real 261 1.1 Ausschnitt aus dem Interview mit Martha Rosler. November 2010825 Kronotop What would you comment today on the term “political art”? Martha Rosler I avoid this term because is something imposed from the outside, by managers , that is museums, dealers, institutions to make a certain kind of art activity legible within their institutional frameworks. So I always think that when terms like this are applied is always saying don’t worry, it’s not going to hurt you, you know what I mean? That it’s a way of containing the actual reach of the work and reassuring the institution that they could actually exhibit without someone actually setting fire to them. And to me it usually signals a moment in which the effectiveness of work like that starts to decline, because it’s already visible within the normal ambits of the institutional framework, within the system of art. It localizes it and treats it just like another category and artistic expression and it renders it as an expression rather than something perhaps little broader. Kronotop How to leave the representation in order to open up real social processes. How to break down the distance that the institution itself produces? Martha Rosler Well, I don’t have general rules, but one thing that make me think about it is that venid you is the green point DVD that I made in 1992, when this work was shown in the museum I advertised it in a local paper without mentioning that the place was museum, I just said what metro lines to take to it, so one way to do it is to direct information about it that simply doesn’t refer to it as aesthetic ,artistic , institutional frame, and if possible also to place the work itself somewhere outside, perhaps simultaneously , in other words to create a more direct communication rather than relying on what the institution itself is doing, that’s not always possible but certainly is the strategy. Sometimes newspaper articles by journalist are also helpful in interviews where you can explain who the work is directed at rather than talking about art audience, you just have to use your sense to figure out your strategy 825 Kronotop: If You Lived Here Still…(Martha Rosler), in: Kronotop.org. Plattform für Videointerviews über Kunst, Politik und Aktivismus, 2010, [Transkript Kronotop], URL: http://www.kronotop.org/folders/martha-rosler/ (09.09.2013). 262 Kronotop You mentioned the term „culturalization of society“; we see that selfrepresentation, self-empowerment, participation, mobilization, etc. that were once the main forces in social, political and artistic expression have been co-opted and nowadays play an important role in neocapitalist production. How would you describe the strategies of representation in addressing questions that have to do with actual life? Martha Rosler The strategy of representation and recognition has been recognized by social forces of power, so how do you move towards a reformation and efficacy is by recognizing that simply being represented, for example as feminists, women, as people of colour is not adequate to your aims and not to be fooled with thinking that simply by being represented you have managed to achieve questions that have to do with actual life , with one’s ability to have a decent life, with a decent income, not to have predatory rich people and banks and other institutions capturing all the wealth , so you have to always keep in mind that you are not asking simply to be represented, that you also demand, that actual changes and the way power is distributed is part of it. And I think this is important because this goes back to the question [...] about the way that identity politics as it has been called, which is the politics of representation and recognition have become the form of political correctness meaning that they are only about the representation and don’t go to larger questions. Kronotop Where are the limits in the representation of the social ? Martha Rosler Certainly the whole idea of talking about someone, to people in power, so that those people can be helped is unsuccessful, because, in fact, and that has been recognized for a long time, that what is necessary is empowerment by people themselves rather than someone speaking for them which always implies someone speaking from an elevated position to someone below. But again if the groups were talking about simply want to represent, that is not adequate, but those groups always know what in question is, the distribution resources and the ability to be in control to create a decent life. Those of us in the art world who imagine that simply by having images of people who need help that somehow they are going to get help and everything will be fine, you know the charity strategy, that is not effective. In the project that we are exhibiting here I quickly realized that having an exhibition on homelessness, to have it in the art world is idiotic and liberal, so the first exhibition was about contesting housing with people talking about their 263 fights to keep their homes and to keep their neighbourhoods before I even wanted to open a discussion in the second exhibition about people who are forced out of their homes, so the first was the battle, the second was the unsuccessful and than the third exhibition was about visions of change. Kronotop It seems that there is no way out, that the „enemy“ became part of us… . Does the production of subjectivity become a terrain of the central conflict? Martha Rosler Well I just actually started to think about it myself and I have no formula, no recipe and not many ideas except that is something you have to talk internally all the time and not as self-accusation but as a strategy thinking. I m not so sure if it is that different from when bourgeois people decided to join proletarian struggles because they also settled internal values. I think a sort of facing honestly what need to be put aside, without turning yourself in somebody that you are not. [...] Precarization creates people who try to constantly repackage themselves (well the flexible personality), to suit the social and economical needs. So that can be the focus of organizing itself, by actually focussing on questions like of identity shift and always tie them to the fact that this is about labour. I’m particularly interested at the moment in talking to people about invisible labour of various kinds. Both that kinds performed by women on the street or drug dealers but also of course the invisible labour that all of us who use the Internet are performing, the way that just becoming a flexible personality is actually engaging labour benefit of others. But this requires, you know, a lot of work. Kronotop Thank you very much for the interview. 264 1.2 Ausschnitt aus dem Interview mit María Ruido. 2011826 Kronotop Wie setzt Du den Titel von „Tiempo Real“827 (Echt-Zeit) mit der immateriellen Produktion in Zusammenhang? María Ruido „Tiempo Real“ wurde von mir so benannt weil es sich auf die Verwendung der Echt-Zeit-Einstellung im Film bezieht, auf die tatsächliche Zeit des Kinos und die Problematik Filme mit Echtzeit-Sequenzen in die Mainstreamkinos oder andere Kommunikationsmedien zu bringen. Obwohl unser Leben in Echt-Zeit stattfindet sind für uns zeitliche Ausslassungen im Film viel natürlicher und selbstverständlicher als Echt-Zeitsequenzen geworden. Die üblichen Erzählungen im Film sind voll von Auslassungen, die haben sich als absolut normal eingebürgert. Noch dazu ist Echt-Zeit im Film sehr schwer zu ertragen. Mein Film „Tiempo Real„ basiert auf der Entfremdung des Films „Jeanne Dielman“. Einer der wichtigsten Beiträge dieses Filmes ist, dass ein Teil in Echt-Zeit aufgenommen wurde. Ich habe ihn mehrmals gesehen, auch wenn das unglaublich erscheint und ich finde es sehr interessant zu beobachten, wie Menschen auf Szenen des täglichen Lebens reagieren insbesondere auf Szenen von Hausarbeit, die in Echt-Zeit wiedergegeben werden und wie sie mit extremer Ungeduld und Missgefallen rezipiert werden. In dem Moment in dem ich „Tiempo Real“ machte erschien es mir interessant auf Echt-Zeit als Metapher zurückzugreifen, als eine unangenehm empfundene Zeitstruktur die mit der Arbeit der Kulturproduzent_innen zu tun hat, aber in kinematographischer Form, weil es ein wenig von dem Unbehagen innerhalb des kapitalistischen Systems erzählen kann. Kronotop Handelt es sich bei Deinem Film um einen Film von einer Betroffenen über Betroffene? Hast Du Dein Leben zum Arbeiten gebracht? María Ruido Absolut. Und es hat mich Teile meines Lebens gekostet zu Arbeiten. Es ist etwas das mich betrifft. Ich arbeite niemals über Sachen, die mich nicht betreffen [...]. Das setzt vorraus, dass Du Dich positionieren musst, Du bist Teil von der Arbeit, Du bist Richter und Teil des Problems, dass Du vor 826 Kronotop: Tiempo Real…(Maria Ruido), in: Kronotop.org. Plattform für Videointerviews über Kunst, Politik und Aktivismus, 2010, [Transkript Kronotop], URL: http://www.kronotop.org/folders/maria-ruido/ (09.09.2013). 827 María Ruido: Tiempo Real. Spanien: Fundació La Caixa 2003. 265 und hinter der Kamera stehst. Klar, ich habe mein Leben zum Arbeiten gebracht, meinen Beziehungen, meine Gefühle, meine Familie, meine Freunde, meine Eltern. Es gibt einen kleinen Ausschnitt in dem Film, in dem Publio und Marta, Freunde von mir, die auch ein Paar sind, sagen „Ich bin mein eigenenes Unternehmen“ und ich konnte mich sehr gut mit dem Satz identifizieren, den Marta in der Kücheneinstellung sagt. Und klar, ich glaube, wir bringen Alle unsere Leben zum Arbeiten. Kronotop Kannst Du etwas zur Intertextualität von „Tiempo Real“ sagen? Wen tötet Jeanne Dielman in Deinem Film? (Es gibt nicht mehr den Fabrikbesitzer als Feindbild: wir sind es selbst die sich ausbeuten, …. wir sind die verinnerlichten Chef_innen). Das Bild von der Fabrik war emblematisch um die Kritik an der industriellen Produktion zu formulieren. Nun sehen wir die Fabrik verschwinden, so wie die Abrisssequenzen in Deinem Film (die Aufnahmen des ehemaligen Industriedistrikts Poble Nou): das Rohmaterial der aktuellen immateriellen Produktion ist die Subjektivität, der Arbeits-Ort der verschwindet, wir können uns gleichzeitig mit vielen Orten vernetzen und kommunizieren. Die gegenwärtige Erfahrung sagt uns, dass die Orte von Arbeit verschwinden weil das gesamte Leben zum Arbeiten gebracht wurde, die gesellschaftliche Fabrik. María Ruido Das müsste man an erster Stelle Chantal Akerman selbst fragen, die eine der angeeigneten Stimmen in meinem Film ist (…). „Tiempo Real“ ist ein Metafilm, der voll von Intertextualität ist, so wie wir bereits vorher sagten, er ist wie ein Palimpsest, wie Zwiebelschichten und ich würde sagen Jean Dielman tötet mehrere Menschen, tötete mehrere Figuren, mehrere Zeichen und einen der Charaktere kennen wir alle den sie tötet, das ist der Arbeitgeber, der Kunde. Es stellt aber auch gewissermassen symbolisch dar, dass sie das Kapital tötet oder sie will die Lebensform der Selbst-Ausbeutung töten, sie tötet eine Lebensform in jenem Moment, die einer viel perverseren Form Raum schafft … es ist ein apotropäischer Tod, sie ersticht ihn mit der Schere und das ist zusätzlich noch ein sehr phallisches Zeichen, nicht wahr? Verwendung eines Instruments, nach lacanscher Argumentation würde man sagen oder in der feministischen Filmtheorie, die Verwendung des Phallus als „agenciamiento„ (Hilfsmittel, als Agent) der Macht. Ich glaube, was Chantal Akerman nicht wissen konnte, vielleicht wusste sie es bereits auf intellektueller Ebene, aber sie konnte es nicht persönlich wissen, und natürlich weiß es Jeanne Dielman auch nicht, ist dass den Boss oder Kunden zu töten, noch nicht bedeutet, neue Formen der Ausbeutung zu vernichten, die sich gleich darauf bilden. Vorher haben wir über den italienischen Operaismus gesprochen, der fordert sich nicht mehr über Arbeit zu definieren, eine Neubewertung von 266 Arbeit und Leben vorzunehmen, etwas das wir, denke ich, noch überhaupt nicht erreicht haben, sicherlich auf intellektueller Ebene können wir das denken, aber wir haben dies noch nicht umgesetzt und zusätzlich haben wir indessen zugelassen, dass unser Leben durch die Arbeit kolonisiert wurde, jetzt haben wir nicht mehr die Fabrikarbeit sondern unser Leben ist Fabrik geworden. Und ich glaube, in diese Richtung denkend, waren die vergangenen Kämpfe eine Niederlage, insbesondere eine Niederlage für die Frauenbewegung, weil wir in vielen Fällen gesehen haben, dass es Rückschritte seit den siebziger Jahren gibt, die Arbeiterklasse ist kaputt gegangen. Im Moment arbeite ich gerade an einem Projekt, das versucht die Vorstellungen der Arbeiterklasse noch einmal zu überarbeiten, zu redefinieren, gerade hinsichtlich dessen, dass es zurzeit keine Repräsentation der Arbeiterklasse gibt. Der Fakt, dass es keine Artikulation von der Arbeiterklasse gibt, hat uns überzeugt, dass der Klassenkampf beendet ist, dass wir jetzt alle die sogenannte Mittelschicht sind und die Konflikte und Antagonismen der Klasse nun nicht mehr vorhanden sind, weil wir alle Konsumenten, Prosumenten etc. sind. Aus heutiger Sicht würde es auch etwas geschmacklos, klebrig und alt klingen von Klassenkampf zu sprechen oder uns als Arbeiter_innen zu bezeichnen, weil wir nun wirklich nicht Arbeiterklasse sind, sonderen eine andere Sache. Was sind wir aber dann? Wenn nicht Arbeiterklasse? Es gibt keine Arbeiterklasse mehr die den Fabrikbesitzer töten kann, das neue System hat erreicht, dass unsere Forderungen (die der herkömmlichen Arbeiterklasse) nach mehr Flexibilität umgesetzt werden aber sie hat sie in prekäre Formen von Flexibilität verwandelt, ein ziemlich perverses Ende des Ganzen. Ich bin sicher, das Chantal Akerman es so nicht gemeint hat, sie hat den Film vermutlich vielmehr aus ihrer damaligen Gegenwart konstruiert, zur Zeit des Höhepunktes der feministischen Bewegung, eine Rache mit ihren eigenen Instrumenten und ich habe die Arbeit wesentlich wörtlicher genommen als sie, nicht wahr? Abgesehen davon, dass man nicht sieht wen Dielman tötet, können wir uns alle vorstellen, wen Dielman tötet, oder etwa nicht? Aber wir müssen bedenken, dass der Film aus dem Jahre 1975 ist und wir uns nun 35 Jahre später wiederfinden, es ist schon ein wenig bitterer Gedanke. Kronotop Es gibt unterschiedliche Handlungsspielräume, der Eingriff in das Bild gegen Bilder oder Mobilisieren und auf die Strasse gehen. Wie artikuliert sich diese Beziehung in Deinem Leben oder in Deiner Arbeit ? 267 María Ruido Ich habe immer gedacht, dass Intervenieren in das Symbolische sehr wichtig ist, da es bestimmender Teil von Repräsentation unserer Welt ist, das ist die einzige die wir haben, wir haben kein direktes Begreifen der Welt, wir haben ein Begreifen, Wahrnehmen der Welt über Repräsentation. Aber um das Leben verändern zu wollen muss man auf der Straße intervenieren, auf einer wirklicheren Ebene. Ich bin mir nicht sicher, ob Sprache die genaue Bedeutung der Dinge übersetzen kann, symbolisch-real, immer sind wir in diesem binarischen Paar, oder? das ist sehr limitierend. Beide Dinge sind im Realen - offensichtlich ist das Symbolische Teil des Realen, ich glaube wir verstehen uns, es ist nicht genug nur Filme zu machen, man muss auch auf die Strasse gehen, es gibt eine Intervention in das Leben und auch Künstlerinnen, Filmemacherinnen, Kulturproduzent_innen sollten dem nicht fern bleiben. Folgendes passiert, aus Zeit- und Energiegründen und sich dem Leben selbst widmen, [...] enden wir meist damit viel Arbeit im Symbolischen zu vollbringen um dort zu intervenieren und weniger im Realen, jedenfalls ist das mein Fall. Dies resultiert grundlegend aus der Frage zu der Beziehung von Energie - Zeit. Ich habe einfach nicht mehr die Energie die ich vor 20 Jahren hatte. Tagsüber zu arbeiten und danach am Abend zu Demonstrationen oder Besetzungen zu gehen. [...] So endet man überwiegend damit im symbolischen Raum zu intervenieren. Aber ich glaube immer noch das Gleiche: es reicht nicht nur im Symbolischen zu intervenieren. Ein Film ändert nicht das Leben, es ändert die Energie der Personen, du fängst an über ein Thema nachzudenken, Leute fangen über ein Thema ernsthafter an zu sprechen, und das glaube ich ist ein großer Erfolg einer Arbeit, aber es ändert die Dinge nicht. Sie ändert keine Gesetze, sie schafft keine Diktaturen ab, oder? Gerade jetzt (!) sehen wir wie wichtig es ist, dass die Körper sich auf der Straße befinden, wenngleich es einen Haufen an Information im Netz oder im Mobiltelefonnetz gibt das Leute mobilisiert, aber danach müssen die Veränderungen durch die Körper passieren. Kronotop Was ist Deine Beziehung zu dem Verhältnis Arbeit/Leben? Kannst Du uns sagen wo Du Dich genau positionierts? Wir gehen davon aus, das es nicht ein Film ist der nicht Teil von Deinem Leben ist: Wen repräsentiert er (Kulturproduzent_innen einen grössere Gruppe? Wer sind die Betroffenen der gegenwärtigen Prekarität? María Ruido Nun, zunächst antworte ich, oder antworte ich nicht auf den Beginn der Frage. Das ist etwas, dass ich mehrmals in den wenigen Präsentationen von „Tiempo Real“ gefragt wurde, warum assimiliert er Formen von Arbeit die 268 auch als elitär gelten, wie die inmaterielle Arbeit. Obwohl dies fraglich ist, denn es gibt auch da sehr viele unterschiedliche Formen von nicht materieller Arbeit, die im herkömmlichen Sinne nicht als produktiv gelten, und überhaupt nicht elitär sind, ganz im Gegenteil, Sexarbeit, zum Beispiel mit den Formen der Pflege, und so weiter. Gerade auch weil es sich dabei um inmaterielle Formen von Arbeit handelt die nicht künstlerische Arbeit, Design oder wissenschaftliche Arbeit und sagen wir mal die der gesamten Kulturindustrie sind, die wir normalerweise zu dem Begriff Inmaterielle Arbeit zählen und die nicht so hoch angesehen sind. Ein wesentlicher Teil des Films wurde mit Frauen realisiert, die genau dort arbeiten, Pflegearbeit, Service-Arbeit, Sexarbeit leisten, Arbeit mit dem eigenen Körper, und auch die Produktion von körperlichen Stereotypen, wie eine Freischaffende Arbeiterin der Modemarke Zara, die mit ihrem gesamten Erscheinungsbild, ihren Gesten, ihrer Kleidung oder mit ihrer Zurechtmachung wie ein erfolgreiches Mode-Modell dem kooperativen Unternehmen dient. Stereotyp sogar ein Angestellter von Zara , die integriert werden der Diskurs des Unternehmens und das Image des Unternehmens , durch Gesten , durch ihre Art sich zu kleiden oder ein Modell , ein Top-Modell , super gut bezahlt , nicht wahr? Zu einem großen Teil sind diese Arbeiten nun Teil der Service-Industrie geworden und werden und wurden schon immer von Frauen verrichtet. Sie haben in der Regel gemein mit der Arbeit von Künstlern und Kulturschaffenden dass sie aus traditioneller Sicht nicht als Arbeit wahrgenommen und nicht berücksichtigt werden. Ich glaube, dass nicht alle Familien, meine Familie schlussendlich dann doch, gleichermaßen künstlerische Arbeit als ernsthafte Arbeit wertschätzen. Und ich glaube auch, dass die meisten Eltern dieser Welt möchten, dass ihre Kinder etwas machen, das sozial etwas klarer verortet ist und nicht so unbestimmt ist. Meine Mutter wusste nicht was sie dazu sagen sollte, es hat sie sehr beunruhigt das ich nicht alle Tage der Woche Klassen gebe und von 8 bis 17h arbeite. Obwohl ich das sehr gerne tun würden um eben nicht den gesamten Tag zu arbeiten, denn so gehe ich nicht ins Kino um den Film zu geniessen sondern denke während der Film läuft wie gut oder schlecht ist der Film technisch umgesetzt, denn nichts bleibt ausserhalb von Arbeit, oder Du gehst mit Freunden was abends trinken und endest dann doch wieder in Gesprächen über Arbeit. In diesem Sinne die feministischer Theorie. Der Film richtet sich nicht als Hommage an Chantal Ackerman, im Konkreten an den Film „Jeann Dielmann“ sondern an die feministische Theorie Die feministische politische Theorie war grundlegend, dass zu überdenken was als Arbeit anerkannt wird und was nicht. Ich denke, dass dank des Drucks von Frauengruppen vor allem der feministische Bewegung und ihrer Aktivitäten und der Übernahme des öffentlichen Raumes begonnen 269 wurde einige Dinge in Gang zusetzen wie zum Beispiel über Frauen und Hausarbeit zureden, das ihr Arbeitsstatus in der Gesellschaft ein anderer und sie möglicherweise dafür entlohnt werden. Obwohl die realen Früchte [die Resultate] dann in der sozialen Wirklichkeit nochmal ganz anders aussahen. [...] 270 2. Exkurs Spanien: Politisches Kino Zwischen 1967 und 1982 sind in Spanien ungefähr an die hundert militante Filme entstanden. Das militante Kino entwickelte sich aus dem Verständnis heraus, politischen Film als Aufklärungsmedium einzusetzen und ebenfalls neue Produktions- und Distributionsbedingungen zu entwickeln. Es sollte darum gehen, Ereignisse und Sachverhalte aufzuzeigen, die sonst weder in der spanischen Presse, noch im Fernsehen zu sehen waren, die unter der Kontrolle und Zensur des Francoregimes standen. Das industrielle Kino Hollywoods wurde ebenso in Frage gestellt wie das Autorenkino, dessen Konzept die französische Zeitschrift zum Gegenwartsfilm Cahiers du cinéma vertrat: Das, was das französische Bürgertum unter persönlichem und subjektivem Ausdruck des Filmemachers verstand, erschien den spanischen Filmemacher_innen des militanten Kinos als Verbreitung der Werte der dominanten bürgerlichen Klasse. Diese drei Kritiken (an der Zensur, am Unterhaltungskino und am Autorenkino) führten dazu, dass sich eine militante Kinoszene am Rand der Film-Industrie und in der Illegalität entwickelte. Dabei gab es innerhalb der Szene gespaltene Positionen: den einen ging es um eine Revolution des Kinos auf der Repräsentationsebene und die anderen zielten darauf ab, mit politischem Inhalt möglichst viele Menschen zu erreichen, bspw. Arbeiter_innen und Leute ohne (filmische und politische) Bildung. Die Organisationsweise der spanischen militanten Filmproduktionen wollte sich mit der kollektiven Bildproduktion explizit vom individualistischen, zumeist männlichen, Blick des bürgerlichen Filmemachers absetzen. Allerdings wurde genau dieser Produktionstyp, der des bürgerlichen Filmemachers, seit 1967 in Spanien institutionell vom Francoregime subventioniert, um die spanische Kulturproduktion marktfähig zu machen: Es entstand die offizielle spanische Filmhochschule Escuela Oficial de Cinematografía (1962), aus der viele der späteren militanten Filmemacher_innen hervorgingen und die zur Gründung eines „Neuen Spanischen Kinos“ beitragen sollten, das mit der französischen „Nouvelle Vague“ oder dem „italienischen Cinema Nouvo“ kulturell konkurrieren sollte. Der erschwerte Zugang zur einzigen Filmschule in Spanien (drastischer Numerus Clausus als Form von Kontrolle) führte zu großen Auseinandersetzungen: Professoren traten zurück, Streiks wurden organisiert, und es folgte eine massenweise Suspendierung von Filmstudent_innen. Unter den ausgeschlossenen Student_innen entstand der Wunsch, eigene Arbeiten, unabhängig von einer Hochschulinstitution, zu produzieren. Im Kurzfilm, im Super 8- und im 16Millimeter-Format wurden erstmals Möglichkeiten gesehen, die eine Gelegenheit boten, eigene Projekte zu entwickeln und durch relativ niedrige Herstellungskosten eine gemeinsame Arbeit zu realisieren. Der Zulauf von Filmemacher_innen zum militanten Kino war definitiv eine Reaktion auf die offiziellen Ansprüche des sogenannten „Neuen Spanischen Kinos“, sie flohen vor dem System der staatlichen Produktion, um ihre Arbeiten in Freiheit zu realisieren. Grundsätzlich lehnte die Bewegung des militanten Kinos die institutionell subventionierte Produktionsweise aus zwei Gründen ab: seine Zugehörigkeit zum 271 Gefüge der kapitalistischen Produktion und des Konsums und die unterdrückende Ideologie der Francodiktatur, die sich ebenfalls unmittelbar auf den Inhalt der Filme auswirkte. Als Folge formulierte sich aus der militanten Kinoproduktion eine wirtschaftliche und politische Kritik: „Die Regierungsform mag vielleicht die Arbeit eines unkontrollierbaren und rebellischen Künstlers dulden, aber nicht die kollektive Erfahrung einer kollektiven Arbeitsproduktion, in der eine große Anzahl von unterschiedlichen Personen agiert - das die Kontrolle der Tätigkeiten verhindert und in denen, sich die Verantwortlichkeiten auf alle Beteiligten verteilt (was wiederum den Einzelnen erlaubt den repressiven Maßnahmen zu entkommen).“828 1967 verwandelten die damals Studierenden Manuel Revuelta, Antonio Artero, Pedro Costa und Bernardo Fernández die Filmtagung von Sitges in eine politische Versammlung, um über die Zukunft des engagierten Films zu diskutieren, über den ideologischen Wert, seinen Wert als Konsumprodukt, die Rolle des Filmemachers in einer kapitalistischen Gesellschaft, die Funktion der Filmhochschule und den staatlichen Kontrollapparat. In den Anfängen der siebziger Jahre wuchs die Produktion von unabhängigen Filmproduktionen im Vergleich zu den Vorjahren enorm an. Wie bereits erwähnt, können die zuvor angeführten Ereignisse als Auslöser dafür gelten, und zum anderen war es, historisch gesehen, eine Zeit mit gravierenden politischen Ereignissen: der Burgosprozess von 1970 gegen 16 ETA-Mitglieder und die Verhängung von Todesurteilen, der „Proceso 1001“ am 20. Dezember 1973, ein franquistisches Gerichtsverfahren gegen zehn inhaftierte Aktivisten der im Untergrund agierenden Gewerkschaft Comisiones Obreras und das Attentat, in dem der spanische Regierungschef, die rechte Hand Francos, Carrero Blanco starb. Ereignisse, die das politische Bewusstsein schärften und neue Gruppenkonstellationen und Produktionen hervorriefen. Alternatives vs. unabhängiges Kino. Nationales Kino. Kollektive In den siebziger Jahren etablierte sich neben dem militanten Kino ein anderer Typ unabhängiger Filmproduktionen, der sich aber ebenfalls am Rande der offiziellen Industrieproduktion ansiedelte. Dieser Filmtyp, der entweder experimentell war oder sich an neuen Filmen aus dem demokratischen Ausland orientierte, hatte überwiegend mit dem Auftauchen leichterer Filmkameras und einfacherer Handhabung der Negative zu tun. Mit einem Mal wurde die Zuordnung von „Cine independiente“ (unabhängiges Kino) zu ungenau, da alle am Rande der Filmindustrie produzierten Filme in das Konzept des unabhängigen Films passten. Amateurfilme, Autorenfilme, experimentelle Filme versuchten nicht selten über den Umweg der unabhängigen Produktion in die offizielle Filmindustrie einzusteigen. Dem stand das militante Kino gegenüber, das die gesamte kapitalistische Kinoproduktionsstruktur ablehnte: die ökonomische als auch die ideologische (in dem Fall des Francoregimes) Struktur. 828 Julio Pérez Perucha zitiert von Lydia García-Merás: El cine de la disidencia. La producción militante antifranquista (1967-1981), in: Jesús Carrillo (Hg.): Desacuerdos. Sobre arte, políticas y esfera pública en el Estado español, Barcelona: MACBA/Arteleku 2004, S. 16-43, S. 19, [Übersetzung A.S.]. 272 Bei dem ersten 1975 stattfindenden unabhängigen Filmfestival der Kinoamateure „I Muestra Nacional del Cine Amateur“ in Almería wurde ein Manifest verfasst, das die unterschiedlichen Intentionen der Filme klar stellen sollte, um die echten antifranquistischen widerständigen Filmproduktionen, die sich gegen das Regime richteten und zum Ziel hatten, eine neue soziale Realität zu schaffen, von den restlichen unabhängigen Produktionen abzusetzen. Die Unterscheidung erfolgte durch die zusätzliche Etikettierung des militanten Kinos als „alternativer Film“, da sein Motiv war, sich den ideologischen Produktions- und DistributionsVerhältnissen der franquistischen Kulturproduktion zu widersetzen und sich einem sozialen und einem alternativen Distributionsapparat (Ateneus, Kulturvereine, Cineclubs) verpflichtet fühlte. Mitte der siebziger Jahre tauchte dann innerhalb des sogenannten alternativen Films die Bezeichnung eines „nationalen Kinos“ auf. Das Nationale bezog sich auf die unterschiedlichen Probleme und Kämpfe der unterdrückten Regionen innerhalb Spaniens, in denen ursprünglich auch verschiedene Sprachen gesprochen wurden, die das Francoregime verboten hatte (katalanisch, galizisch, baskisch). Die Bewegung verstand das Kino als „Instrument des ideologischen Kampfes der ausgebeuteten Klasse der verschiedenen Nationalitäten im spanischen Staat.“829 Dieses Kino hatte zum Ziel, die nationale Einzigartigkeit der einzelnen Regionen zu betonen, was der zentralistischen Politik des industriellen Systems fremd war. Solche Filme versuchten, eine nationale eigene Identität herzustellen fern von der kitschigen Folklorisierung der unter Franco produzierten Filme. Vielmehr ging es in diesen Filmen um die Wiedererlangung der authentischen populär gefilmten Traditionen, falls möglich, in einheimischer Sprache. Eines der interessantesten Phänomene, die mit dem militanten Kino auftauchte, war das Bilden von Arbeitsgruppen und Kollektiven830 und das Selbst-Organisieren von Produktion, Vertrieb und Aufführung. Auflösungserscheinungen des militanten Kinos mit Beginn der Demokratie Mit dem Ende der Zensur 1977 und dem Wechsel des Regimes zu einem demokratischen Regierungssystem erlitt das militante Kino eine schwere Krise. Obwohl in der Zeit des sogenannten Übergangs (Transición) prägnante Arbeiten wie „Numax presenta…“ von Joaquín Jordá, auf den ich im zweiten Teil dieser Arbeit näher eingegangen bin, entstanden sind, geht das Auflösen des militanten Kinos einher mit einer Demobilisierung und Entpolitisierung der spanischen Gesellschaft. Der Filmemacher Llorenç Soler beschreibt den heiklen Zustand, in dem er und seine Kollegen sich befanden: die militante Bewegung sei mit dem Desinteresse der Öffentlichkeit an Produktionen aus dem politisierten Untergrund konfrontiert gewesen und das Wegfallen der Francozensur habe den Geschmack der „verbotene Frucht“831 aufgelöst, der viele Zuschauer_innen neugierig gemacht hatte. Auf den 829 830 Ebd., S. 27, [Übersetzung A.S.]. Relevante spanische Film-Gruppen: Colectivo de Cine de Madrid, Colectivo de Cine de Clase, Cooperativa de Cine Alternatiu/Central del Curt, Grup de Producció, Equipo Imaxe, Yaiza Borges, el Equipo Penta, Colectivo SPA und Grup de Treball. 831 J.M. García Ferrer/Josep Miquel Martí Rom: Llorenç Soler, Barcelona: Associació d’Enginyers Industrials de Catalunya 1996, S. 151, [Übersetzung A.S.]. 273 Markt drängten viele andere Filme, internationale, die während der Francozeit verboten waren, das Interesse an kleinen politischen Filmprojekten verschwand fast vollkommen. Der Artikel von Josep Miquel Martí Rom „La crisis del cine marginal“832, der Aufschluss über die Situation der militanten Bewegung gibt, analysiert die Gründe: Verschwinden der Aufführungssäle, die generell für Kunst, Filme und andere künstlerische Praktiken zur Verfügung standen, die Demobilisierung der jungen Militanten nach dem Moncloa Pakt und das Nichtexistieren von neuen Kreisen, die unabhängig von der Industrie sind. Auch tauchten innerhalb der Kollektive Meinungsverschiedenheiten und Diskrepanzen auf, was die Fortführung der militanten Arbeit anbelangte: die einen sahen in der Transformation von der Diktatur zur kapitalistischen Demokratie eine Herausforderung, die anderen empfanden aufgrund der veränderten politischen Landschaft die Militanz und Politisierung weniger notwendig. Auch wirtschaftliche Gründe spielten eine Rolle, nicht mehr unbedingt in der Opposition der spanischen Filmindustrie zu arbeiten, sondern sich an kommerziellen Produktionen zu beteiligen. Der Wunsch, gegen einen gemeinsamen Feind (Francoregime) zu kämpfen, hielt die spanische militante Kinobewegung zusammen, und mit dem Ende der Diktatur zerfiel die Bewegung, anstatt sich neu zu strukturieren und die politischen Übergänge und die sogenannten demokratischen Modernisierungsprozesse als Herausforderung anzusehen.833 Übergang, Zeit der Transición Bei den ersten freien Wahlen 1977 nach dem spanischen Faschismus der FrancoDiktatur (1936-77) wurde die sozialistische PSOE, die der deutschen sozialdemokratischen Partei (SPD) inhaltlich nahesteht, als erste demokratische Regierungspartei gewählt. Eines ihrer wesentlichen politischen Ziele war es, Spanien zu modernisieren und den Weg zur Aufnahme in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft EU834 zu ebnen. Hierzu wurden in den achtziger Jahren grundlegende Gesetzesänderungen im Arbeits- und Wohnrecht vorgenommen, die auch heute noch als die Reformen gelten, die zur gegenwärtigen Krise im Immobilien- und Arbeitsmarkt geführt haben. Der Film „Numax presenta…“ von 1979 verortet sich zeitlich in dieser Übergangszeit, der Übergangsperiode 1975 (Tod Francos) zur Demokratie. So gesehen dokumentiert der Film eine bisher wenig aufgearbeitete Zeit Spaniens, in der das Land Angleichungs- und Unterordnungsprozesse (der Pakt von Moncloa) zwischen rechten und linken Parteien verhandelte, um eine neue politische Richtung einzuschlagen. Die meisten Parteien und Gewerkschaften stimmten dieser neuen Tendenz wohlwollend zu, während die Autonomia Obrera (autonome und frei organisierte Arbeiter_innen) und andere Aktivisten sich nicht von dem 832 833 Josep Miquel Martí i Rom: La crisis del cine marginal, in: Cinema 2002, 05/1980, Nr. 61-62, S. 69 Vgl. Lydia García-Merás: El cine de la disidencia. La producción militante antifranquista (19671981), in: Jesús Carrillo (Hg.): Desacuerdos. Sobre arte, políticas y esfera pública en el Estado español, MACBA/Arteleku, UNIA arte y pensamiento, Barcelona, 2004, S. 16-43, S. 19, [Übersetzung A.S.]. 834 Am 1.1.1986 wurde Spanien in die EU aufgenommen. 274 Schweigepakt zwischen der falangistischen und der linken Opposition beeindrucken ließen, der Spanien zu einem modernen, kapitalistischen Land entwickeln sollte. Pepe Rovira, politischer Aktivist und Laienschauspieler, der die Rolle von José, dem stehlenden Taxifahrer in dem Film „Der falsche Taxifahrer“835 spielt, schildert in einem von uns geführten Interview 2007 den Bezug zur vergangenen und gegenwärtigen spanischen Realität. „1982 war ein sehr gutes Jahr für Entlassungen: denn als die erste, damals sozialistische Regierung nach der Francodiktatur gewählt wurde, versprach man uns, dass alles besser würde und dass wir keine Arbeiter_innenbewegungen mehr brauchten: die Arbeiter_innen würden jetzt nur noch arbeiten müssen. Um alles andere kümmert sich die Regierung. In den Siebzigern war unser Arbeitsleben sehr bestimmt von Asambleas [Betriebsversammlungen], Veranstaltungen etc. [...] das alles war auf einmal zunichte gemacht mit der neuen Regierung. Wir, diejenigen Arbeiter_innen, die zu den Asambleas gehörten, die nicht an die Reformen des demokratischen Übergangs glaubten und die die Antikapitalisten waren, wir blieben frustriert zurück, denn uns wurde klar, nun konnte man absolut nichts mehr aus der Arbeit herausholen. Es gab jetzt keine Asambleas, keine Demonstrationen, keinen Streik, keine Forderungen mehr – es gab nichts mehr zu tun in der Arbeitswelt. Du bliebst 8 Stunden allein zurück, Du mit der Maschine. Die wahre Prekarität, die absolute Prekarität ist die der Einsamkeit. Die Vorstellung unserer Zeit, dass Du das alles alleine schaffst ist die größte Lüge überhaupt. Eine/r allein ist gar nichts, absolut nichts. Also die Hauptidee des Films ist die der Gemeinschaft, die des Kollektivs, des Imperativs: Sei mit anderen, sei nicht allein!“836 Kultur im Übergang Spanien hat in der Übergangszeit von der Diktatur hin zur so genannten Demokratie, in der der König Juan Carlos nach wie vor eine repräsentative Rolle spielt, viele grundlegende Kompromisse und Schweigepakte geschlossen, um die jeweils linken und rechten Lager nicht gegeneinander aufzubringen und die Unabhängigkeitsbestrebungen verschiedener spanischer Regionen durch eine versöhnliche Politik zu besänftigen. Guillem Martínez bezeichnet jene Zeit als Kultur des Übergangs837 (Cultura de la transición oder in Kürzeln CT genannt), in der sich darauf geeinigt wurde, dass der 835 836 Jo Sol: El Taxista Ful, [DVD] Spanien: Zip-Filmproduktion 2006. Das Interview mit Pepe Rovira führte die Gruppe Enmedio, unveröffentlicht. 837 Guillem Martínez (Hg.): CT o la Cultura de la Transición, Barceona: Desbosillo 2011. [Übersetzung A.S.]. 275 neoliberale Kapitalismus und die Aufnahme Spaniens in die EU unter dem Diktat der mächtigsten Mitgliedsstaaten als positive und zu befürwortende Rahmenbedingungen für die spanische Kulturproduktion gelten sollen. „Die CT beruht im Wesentlichen auf einer Art Konsens, aber nicht in dem Sinne, das Uneinige durch einen Dialog zu Übereinkünften kommen, sondern indem schon von Beginn an die Grenzen des Möglichen festgelegt sind.“838 Zur CT gehört auch das Gesetz der Memoria Historica (Deutsch: Gesetz des historischen Andenkens), das im Oktober 2007 im spanischen Abgeordnetenhaus in der Regierungsperiode von Premierminister José Luis Rodríguez Zapatero verabschiedet wurde. Das Gesetz scheint zwar nach über dreißig Jahren Transición einige Vorstöße in Sachen Geschichtsaufarbeitung zum spanischen Bürgerkrieg und der Franco-Diktatur zu unternehmen, stellt aber insgesamt innerhalb der CT einen eher regulativen diplomatischen Akt dar, ohne die falangenahen Kreise ernsthaft aufmischen zu wollen. Mit der Übereinkunft zur CT wurde jede widerständige und systemkritische Kultur des Streits und des Widerspruchs erstickt. Die CT ist in keinem Gesetz verankert sondern wird vielmehr durch einen breit gestreuten generationsabhängigen Konsens gebildet, der sich durch Institutionen, Galerien, Universitäten und durch das allgemeine Kunstbetriebssystem reproduziert und auf diese Weise den offiziellen Kulturkanon bestimmt. Martínez beschreibt den 13M, die widerständige Masse, die sich gegen die offizielle Version der Regierung zu den Terroranschlägen in Madrid 2003 richtet, als Wende in der Kultur des Übergangs. Auch in den Platzbesetzungen der 15MBewegung 2011, deren Impuls oftmals von jüngeren Generationen ausging, sieht Martínez Veränderungen markiert, die sich gegen den CT- Konsens richten und möglicherweise ein Ende der CT einläuten. 2.1 Exkurs Spanien: Wirtschaftkrise Für viele Spanier_innen stellt die sozialistische PSOE, die der deutschen SPD inhaltlich nahe steht, nur das kleinere Übel zur rechtskonservativen PP (Partido Popular), deren Mitglieder immer wieder Sympathien gegenüber dem ehemaligen Diktator Franco bekunden und sich damit direkt auf den spanischen Faschismus beziehen, dar. Grundlegende Gesetzesänderungen, die in der Legislaturperiode der sozialistischen PSOE in den achtziger Jahren realisiert wurden, können unzweifelhaft Jahre später immer noch als Ausgangspunkt der spanischen Wirtschaftskrise gesehen werden. Sie sollten Mitte der achtziger Jahre den Weg Spaniens zur Aufnahme in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft839 ebnen. Bei diesen Gesetzesänderungen handelte es sich zum einen um ein Gesetz, das dem Hypothekenmarkt Handlungsfreiheit zugesteht, das so genannte Ley del Mercado Hipotecario (das Hypothekenmarktgesetz), welches die Basis für Hypotheken838 Veronica Gago, Interview mit Amador Fernandéz Savater: Después de la Puerta del Sol, [Übersetzung W.B.]. 839 Am 1.1.1986 wurde Spanien in die EU aufgenommen. 276 abwicklungen und Darlehensvergaben bildet. Zum anderen handelte es sich um das Real Decreto-Ley 2/1985 (auch Decreto Boyer genannt), ein Gesetz, das die Merkantilisierung von Wohnraum in Spanien gesetzlich verankert: Es schaffte den 1964, also noch in der Franco-Diktatur erlassenen Artikel 56 LAU ab, in dem die automatische Verlängerung von Mietverträgen zum Schutze der Mieter festgeschrieben war. Die Mieten konnten von nun an auf Grundlage eines Mietspiegels erhöht werden. Auf diese Weise wurde zum ersten Mal in Spanien ein Mietmarkt geschaffen. Wie bereits zuvor erwähnt, sollten beide Gesetze Spanien den Eintritt in die EU und NATO erleichtern und langfristig internationales Kapital sichern. Die beiden PSOE-Minister Miguel Boyer (Ökonomie- und Steuerminister, nach dem der Boyer-Erlass benannt wurde) und Carlos Solchaga (1982-1985 Industrieund Energieminister) realisierten ein weitgreifendes wirtschaftliches Modernisierungsprogramm des postdiktatorischen Spaniens und initiierten die Neoliberalisierung der Politik des Landes. Das ging mit einer Umstrukturierung der städtischen Bebauung einher: aus Industriestädten wurden Freizeit-, Konsum- und Servicestädte. Mit der unter José María Aznar regierenden PP wurde 1998 das Bodengesetz geändert, das für einen Boom in der Bauindustrie sorgte. Immobilienspekulanten erwarben große ländliche Flächen und holten für die Fläche eine Baugenehmigung ein. Danach wurde das Bauland für ein Vielfaches seines ursprünglichen Preises weiter veräußert. Grundlegend für den spanischen Bauboom und die Erfolge des Immobilienmarktes waren die Angebote der Geldinstitute, die ihre Kunden mit niedrigen Zinsen und minimalen Sicherheiten lockten. Viele Spanier_innen, die aufgrund der rasant gestiegenen Mieten ihre Stadtwohnungen kaum noch bezahlen konnten, entschieden sich, mit Hilfe von Hypotheken Grundbesitz beziehungsweise Eigentumswohnungen zu erwerben. Allerdings prekarisierten sich parallel durch politische Reformen in der Arbeitsmarktpolitik ihre Arbeitsverhältnisse, so dass viele Haushalte den Hypothekenzahlungen nicht mehr nachkommen konnten. Als es im Sommer 2007 zum Platzen der Immobilienblase kam, brach zugleich die Bauindustrie ein. Seitdem stehen über 700.000 Neubauwohnungen in Spanien leer. Nach der Immobilienkrise von 2007 brachten faule Kredite die spanische Wirtschaft zum Wanken und Institute wie Bankia an den Rand der Pleite. Die Euro-Staaten sicherten im Juni 2012 Hilfen von bis zu 100 Milliarden Euro zu, um die Geldhäuser zu stabilisieren. Spanien ist derzeit mit mehr als 900 Milliarden Euro verschuldet, im Oktober 2012 musste die Regierung mehr als 30 Milliarden Euro für den Schuldendienst aufbringen. Um das Defizit einzufahren, wurde unter anderem die Mehrwertsteuer angehoben, die Arbeitslosenhilfe gekürzt, steuerliche Vergünstigungen für den Wohnungskauf gestrichen und die Arbeitszeit der öffentlichen Angestellten verlängert. Der Unmut in der Bevölkerung steigt parallel zur Arbeitslosenquote. Im Sommerquartal 2012 war jeder vierte Spanier ohne Arbeit. Die Arbeitslosenquote ist auf mehr als 25 Prozent angestiegen, dazu im Vergleich hat Deutschland eine Quote von 6,5 Prozent.840 840 O. A. : Negativrekord: Jeder vierte Spanier ist arbeitslos, in: Der Spiegel, 26/10/2012, 277 Der Eindruck, dass die Regierung versucht, das korrupte Bankensystem zu Lasten der Bürger_innen zu retten, bestätigt sich durch die realisierten Kürzungen und Schließungen im Gesundheitssystem, in der Bildung und vor allen Dingen in der Privatisierung von sozialen Einrichtungen. http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/spanien-arbeitslosenquote-steigt-auf-mehr-als-25-prozent-a863572.html (02.02.2013). 278 3. Exkurs Argentinien: Third Cinema und politisches Kino in Argentinien In diesem Abschnitt wird ausschnitthaft das „dritte Kino“, argentinisches fiktionales Kino und der Dokumentarfilm vorgestellt, um den Kontext der kinematografischen Repräsentation in Argentinien zu skizzieren, in dem sich die Filmstudentin Albertina Carri verortet, deren Abschlussarbeit von der Filmakademie „Los Rubios“ bereits näher untersucht wurde. Mit dem Manifest „El tercer cine“841 (Das drittes Kino) forderten die argentinischen Filmemacher Fernando E. Solanas und Octavio Getino, Mitglieder des Filmkollektivs Cine Liberación, Ende der sechziger Jahre ein eigenständiges Kino der sogenannten Dritten Welt, 842 dass sich gegen den dem vorherrschenden Diskurs der ehemaligen westlichen Kolonialmächte stellen sollte. Dieses, von ihnen formulierte neue Kino positionierte sich explizit gegen das kapitalistische System der Hollywoodfilmindustrie als Unterhaltungsspektakel (erstes Kino) - und kritisierte den europäischen Autorenfilm (zweites Kino) als bürgerliche Sicht, wie bspw. bereits erwähnt, das spanische militante Kino. Es wurde der Vorschlag eines dritten Kinos gemacht, das mit kollektiven guerillaähnlichen Arbeitsweisen experimentiert, alternative Produktionsstrukturen herstellt und andere Distributionskanäle öffnet. Solanas und Getino plädieren für ein Kino, das in Kooperation mit den sozialen Bewegungen in Lateinamerika, Afrika und Asien gegen die dominierende kulturelle Vorherrschaft der westlichen Industrienationen und der ehemaligen Kolonialmächte international antreten sollte.843 Vorausgegangen waren die weltweiten Entkolonialisierungsprozesse, die Auflösung der sogennannten Kolonialreiche, die jedoch noch keine Ende der Kolonisation bedeuteten. Der Wunsch auf das Ende der neokolonialen Regierungsformen der ehemaligen Kolonialmächte in den Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens wurde Dreh- und Angelpunktpunkt sozialer Protestbewegungen in den sechziger Jahren . „One of the most effective jobs done by neocolonialism is its cutting off of intellectual sectors, especially artists, from national reality by lining them up behind ‚universal art and models‘. [...] When they have not been 'openly used by the bourgeoisie or imperialism, they have certainly been their indirect tools; most of them did not go beyond spouting a policy in favour of 'peace and democracy', fearful of anything that had a national ring to it, afraid 841 Fernando Solanas/Octavio Getino: Für ein drittes Kino, in: Peter B. Schumann (Hg.): Kino und Kampf in Lateinamerika. Zur Theorie und Praxis des politischen Kinos, München: Carl Hanser 1976, S. 9–19, Auszug aus Fernando E. Solanas/Octavio Getino: Hacia un Tercer Cine, in: Cine, cultura y descolonización, Buenos Aires 1973. 842 Ich übernehme die Bezeichnung „dritte Welt“ an dieser Stelle, da sie sich direkt auf die Bezeichnung des „dritten Dritten Kinos“ bezieht. 843 Vgl. Nikolaus Perneczky: Revolutionen aus dem Off , in: PERSPEKTIVEN - Magazin für linke Praxis und Theorie, 05/2009, URL: http://www.perspektiven-online.at/2010/01/20/revolutionen-ausdem-off/ (30.01.2013). 279 of contaminating art with politics and the artists with the revolutionary militant.“844 Vergleichbar mit Michel Foucaults und Walter Mignolos Denkansätzen zur Analyse und Veränderung von Machtbeziehungen entwerfen Solanas und Getino Praktiken für das dritte Kino, um dem universellen, in diesem Fall eurozentristischen Diskurs ein anderes Kino entgegenzusetzen, eines, das nicht über nationale Kenntnisse und Wissensdiskurse herrscht sondern sie als Grundlage für ihre Produktionen nimmt. Die beiden Filmemacher skizzieren, ohne das Konzept der Postmedia zu nennen, eine operative Intermedialität, die vielfältige filmische Ausdruckformen explizit miteinschließt. Die Einbindung von jeweils lokalen und nationalen kulturellen Codes und unterschiedlichen politischen Formen verhindert durch ihre strukturelle Offenheit die Zugehörigkeit zu einem universellen Filmkodex oder einer bestimmten Norm. „The differences that exist between one and another liberation process make it impossible to lay down supposedly universal norms. Pamphlet films, didactic films, report films, essay films, witness-bearing films - any militant form of expression is valid, and it would be absurd to lay down a set of aesthetic work.“845 Das dritte Kino schlägt vor, die verschiedenen Prozesse von Machtkonstitution und Regierungsformen zu untersuchen, ohne im Vorfeld den Feind auf ein Innen oder Außen zu reduzieren. Das steht nicht im Gegensatz zu der klaren Abgrenzung zum ersten und zweiten Kino, sondern unterstreicht vielmehr, dass der soziale, kulturelle und politische Alltag durch die kapitalistische Organisation des Konsums, der Kommunikations- und Unterhaltungsindustrie wesentlich geprägt ist und im selben Moment als Entfremdungsprozess hinterfragt werden muss. Dazu sollen Befreiungsprozesse initiiert werden, die diese Entfremdungsprozesse darstellen beziehungsweise subversiv wirken, um sie zu transformieren. „The battle begins without, against the enemy who attacks us, but also within, against the ideas and models of the enemy to be found inside each one of us. Destruction and construction. Decolonising action rescues with its practice the purest and most vital impulses. It opposes to the colonialisation of minds the revolution of consciousness. The world is scrutinised, unravelled, rediscovered.“846 Der Dokumentarfilm „La hora de los hornos“ (Die Stunde der Hochöfen)847 der 844 Fernando Solanas/Octavi Getino: Towards a Third Cinema, Notes and Experiences for the Development of a Cinema of Liberation in the Third World, in: Michael T. Martin (Hg.): New Latin American Cinema, Volume 1 (Contemporary Film and Television), Michigan: Wayne State University Press 1997, S. 43. 845 Ebd., S. 47. 846 Ebd., S. 65 847 Fernando Solanas/Octavio Getino: La hora de los Hornos, [DVD] Argentinien: Trigon-Film 1968. 280 Gruppe Cine Liberación, zu der Solanas und Getina gehörten, kann als filmische Verwirklichung des Manifests für ein drittes Kino gelesen werden und gilt als Klassiker des agitatorischen Kinos, das sich an seine Zuschauer_innen wendet und zu direkter Aktion aufruft.848 Während der Zeit der Militärdiktatur war die Filmproduktion aus verschiedenen Gründen (Staatsterror, staatliche Zensur und Geldmangel) stark eingeschränkt. Die Situation unterschied sich von anderen Künsten, die zwar auf zulässige Themen reduziert war, aber auch keine hohen Produktionskosten wie beim Film verlangten. Der Spielfilm „La historia oficial“ (1985) von Luis Puenzo ist einer der ersten Filme, der durch fiktiv erzählende filmische Darstellung das oftmals geheime Vorgehen von der Militärdiktatur (bspw. das Verschwindenlassen von Personen und klandestine Folterzentren) nach dieser Zeit zeigt. Der Film markiert den Beginn von Produktionen, die sich mit der Sichtbarmachung der staatsterroristischen Verbrechen beschäftigen, unter ihnen die Filme „La noche de los lápices“(1986), „Garaje Olimpo“(1999) und „Crónica de una fuga“ (2006). Mitte der achtziger Jahre werden die Schlussstrichgesetze und die Gewährungsgesetze erlassen. Damit beginnen zwei gegenläufige Bewegungen: in Bezug auf die kinomatografische Repräsentation werden Opfer und Täter definierbar und die Filme nehmen klare Position für die Subversiven, für die politischen Aktivist_innen und Überlebenden, ein. Dagegen steht die reale Politik der angestrebten repräsentativen demokratischen Regierung mit den zuvor genannten Gesetzen. Wichtige erste dokumentarische Aufarbeitungen über die Zeit der Diktatur in Argentinien entstanden durch Filmemacher_innen, (Marcelo Céspedes, Carmen Guarini, Andrés Di Tella, David Blaunstein, Alejandro Fernández Moujan, Carlos Echeverría, etc.), die u.a. aus dem ausländischen Exil zurück nach Argentinien kamen. Marcelo Céspedes gründete die Dokumentarfilmproduktionsfirma Cine ojo, die wichtige Anlaufstelle für die Dokumentarfilmszene in Argentinien wurde. An dieser Stelle sei nur ein Film von vielen erwähnt „Juan, como si nada hubiera“ (Juan, so als wäre nichts passiert) von Carlos Echeverría aus dem Jahr 1987. In seinem Schwarzweißfilm lässt Echeverría den barilochensischen Journalisten Esteban Buch auf die Suche nach dem einzigen Verschwundenen in Bariloche gehen und versucht, in journalistischer und detektivischer Genauigkeit das Verschwinden von Juan zu verfolgen. Der Film konnte erst 1988 uraufgeführt werden, da seine Fertigstellung zeitgleich mit dem Erlass der Schlussstrichgesetze zusammenfiel und die Kinobetreiber Angst vor politischer Repression hatten, da der Film deutlich Position für die Opfer der Militärverbrechen einnahm. Auch nach der Wirtschaftskrise von 1989 endet die Aufarbeitung über die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur in Argentinien nicht. Die Aufarbeitung vom Staatsterror wird weniger direkt und die Gegenwart beginnt nun in den Filmen eine wichtige Rolle zu spielen. Gefühle von Verunsicherung, 848 Vgl. Nikolaus Perneczky: Revolutionen aus dem Off , in: PERSPEKTIVEN - Magazin für linke Praxis und Theorie, 05/2009, URL: http://www.perspektiven-online.at/2010/01/20/revolutionen-ausdem-off/ (30.01.2013). 281 Verdrängung und Verlust finden jetzt ihren Ausdruck.849 Auf der Suche nach neuen ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten experimentiert der argentinische Film in dieser Zeit mit Neorealismus, Fantastik und Intermedialität. 3.1 Exkurs Argentinien: Die Militärdiktatur Juan zeigte mir vor einigen Jahren innerhalb des Hollywood-Spielfilmes „Imagining Argentina“850, mit Antonio Banderas und Emma Thompson in den Hauptrollen, ein Foto seines Vaters Chufo. Wie kam das Passfoto von Chufo in eine britisch-US-amerikanische Megaproduktion von Universal Studios? In einer ganz bestimmten Einstellung bewegt sich die Kamera über eine Wand mit Fotos von Desaparecidos, den Verschwundenen, aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur. Es handelt sich um ein originales Dokumentarfilmfragment, das, wie an anderen Stellen des Films, hineinmontiert wurde, um die Nähe der fiktiven Erzählung zur argentinischen vergangenen Realität zu betonen. Beim Anhalten der Filmbewegung finden wir Chufos Bild. Wir entdecken sein Bild innerhalb dieser Großfilmproduktion, die sich realer Biografien als Kulisse, als Requisit für eine kitschige Liebesgeschichte bedient, um die Kino- und die Blockbusterkassen zu füllen. Das Bild von Chufo und den vielen anderen Verschwundenen auf der Fotowand verweist auf reale Widerstandsbiografien und in unserem Fall auf Juans Vater, der der Montonero-Bewegung im Kampf gegen die argentinische Militärdiktatur angehörte und umgebracht wurde. Die Fotoportraits von Verschwundenen wurden als Praxis der Sichtbarmachung an Wände, auf Transparente und Flyer geklebt. Die Mütter, Madres, marschierten mit ihren weißen Kopftüchern und Fotos ihrer verschwundenen Kinder um den Platz vor dem Parlament. Wir finden Chufos Bild in einer dokumentarischen Aufnahme einer solchen Fotowand.851 Ohne näher analysieren zu müssen, lässt sich hier feststellen, dass die Produktionsbedingungen, die Ideologie und die Herkunft dieses Universal Filmes im radikalen Gegensatz zu der politischen und geopolitischen Ausrichtung der Montonero-Bewegung852 stehen: das Bild von Chufo wurde von der Bilderproduktion der USA, einem Land, das politisch, ökonomisch und militärisch die südamerikanischen Militär-Diktaturen unterstützte, einverleibt. „Wir waren Sozialisten, glaubten an den neuen Menschen, an Gerechtigkeit und Aufbruch, wir suchten den Umsturz, damit Argentinien sich neu ordne. Und wir, die Montoneros, begriffen uns als Vorhut. Als Avantgarde des Besseren. [...] Ich studierte Geschichte, weil ich es für meine revolutionäre Pflicht hielt, ich 849 Vgl. Bettina Bremme: Movie-mientos: Der lateinamerikanische Film: Streiflichter von unterwegs. Stuttgart: Schmetterling 2000, S. 93. 850 Christopher Hampton: ‪Imagining Argentina‬ [DVD] USA: Arenas Entertainment 2003. 851 Unter dem Begriff „Footstockage“ werden im Abspann des Spielfilmes verwendete Dokumentarfilm- und Videomaterialsequenzen aufgelistet. 852 Montoneros (eigentlich: Movimiento Peronista Montonero = Peronistische Bewegung Montonero) war eine militante links verortete Gruppierung innerhalb der peronistischen Bewegung, die sich Ende der 1960er Jahre in Argentinien gründete und Aktionen gegen die Regierungen organisierte. 282 wollte, dass der Holocaust sich nie wiederhole.“853 Die zuvor einleitenden Worte zur Entdeckung des Bildes von Chufo und die Erklärung von Juans Mutter, sich politisch zu engagieren, damit sich der Holocaust nicht wiederholt, verweisen auf zwei Koordinaten meiner Schreibposition (die Geschichte meines Lebenspartners und die deutsche Geschichte). Ohne Zweifel ließen sich die Koordinaten der Beziehungen Argentinien Deutschland auch auf anderer Ebene herstellen. Hier seien zusätzlich noch zwei andere erwähnt: „Der deutsche Botschafter ging mit den Generälen des argentinischen Regimes Tennis spielen und hatte Sicherheitsleute aus den Reihen der Todesschwadron Triple A. Die deutsche Wirtschaft profitierte vom `schmutzigen Krieg` in Argentinien. Mercedes-Benz [...] ließ in Argentinien während der Diktatur mit Hilfe der Militärs unbequeme Arbeiter_innen verschwinden.“854 Dieser Abschnitt reicht in keinem Fall aus, um über die Komplexität der argentinischen Geschichte, der kollektiven Erinnerung und über die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Erinnerungspolitik zu schreiben. Es ist vielmehr ein einleitender Versuch, um uns den Strategien der Selbst-Repräsentation der Filmemacherin Albertina Carri, dem in dieser Arbeit vorgestellten argentinischen Filmbeispiel, zu nähern. Carri lehnt eine allgemeingültige Erinnerung und Heroisierung der Elterngeneration ab, um ihre eigene Version der Geschichte zu erzählen, dabei legt sie ihre De- bzw. Konstruktionsunternehmungen von Erinnerung den Zuschauer_innen offen dar. Am 24. März 1976 putschte das argentinische Militär unter General Jorge Videla gegen die damalige Präsidentin Isabel Martínez de Perón (nicht zu verwechseln mit Evita, der ersten Frau Juan Peróns) und ergriff die Regierungsmacht über das Land. Es folgten sieben Jahre Diktatur, in der die rechtsgerichtete, autoritäre Militärjunta einen schmutzigen Krieg (spanisch: guerra sucia) gegen Kommunist_innen, Regimekritiker_innen und die Regierungsopposition führte. Unter der Führung von Diktator Jorge Rafael Videla verschwanden über 30.000 Personen. Videla kommentiert den Status des Verschwindens: „Was ist ein Verschwundener? Sollte jemand verschwinden, ist der Verschwundene ein Unbekannter. Wenn er wieder auftaucht, erwartet ihn die Behandlung X, wenn sich das Verschwinden in Gewissheit seines Todes auflöst, erwartet ihn die Behandlung Z. Aber während er verschwunden ist, kann ihm keine besondere Behandlung zukommen, er ist unbekannt, ein Verschwundener ist keine Körperschaft, er ist nicht da, nicht tot und auch nicht lebend, 853 Hans Rudolf Schär: Tango Argentino, in: TAZ. Hamburger Tageszeitung, 19/01/2002, URL: http://www.taz.de/1/archiv/?id=archiv&dig=2002/01/19/a0200&t (30.01.2013). 854 Esteban Cuya: Mehr als nur ein Tennismatch, Deutsche Diplomaten mit offenkundiger Sympathie für die argentinische Militärdiktatur, in: Lateinamerika Nachrichten, Ausgabe 381, 03/2006, URL: http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/820.html (30.01.2013). 283 er ist verschwunden.“855 Stefan Nowotny bezeichnet das „Verschwindenlassens von Personen“ als Euphemismus für Folterung und Mord, dass darüber hinaus auch noch gezielt und nachhaltig das soziale Leben der Hinterbliebenen schädigt, deren Verlusterfahrung durch Ungewissheit überlagert bleibt.856 Die „Madres de la plaza de Mayo“ (die Mütter der Verschwundenen, die vor dem Regierungspalast demonstrieren) veräußern sich selbst in Form der Identität als Mutter, als verkörperte Kritik an den Regierungsformen, oder in Nowotnys Worten als sichtbares Zeugnis von dem was ihnen angetan wurde: „Sie können nicht bezeugen, was genau geschehen ist; umso sprechender ist ihre Bezeugung dessen, dass etwas geschehen ist, dessen Gewaltförmigkeit schon daran offenbar wird, dass der Mantel der konspirativen Verschwiegenheit, der über die Ereignisse gebreitet wurde, auch nach dem Ende der Diktatur nicht vollständig gelüftet werden konnte.“857 Die argentinische Militärjunta wählte die Bezeichnung „Prozess der Nationalen Reorganisation“ (Proceso de Reorganización Nacional), um die Zeit ihrer Herrschaft von 1976 bis 1983 zu definieren. Der Name sollte den vorübergehenden Charakter eines Prozesses andeuten, der das Land, das sich zu dieser Zeit in einer tiefen gesellschaftlichen Krise befand, nach konservativen Idealen neu zu organisieren und auf diese Weise, nach dem Plan der Militärs in eine Demokratie zu entlassen. 1983 löste die Wahl Raúl Alfonsíns zum Präsidenten das argentinische Militärregime, durch mehrere Faktoren geschwächt und ruiniert (u.a. durch eine Wirtschaftskrise und den Falkland-Krieg), ab. Kurz nach Alfonsíns Amtsantritt wurde die „Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas“, CONADEP (Nationalkommission über das Verschwinden von Personen) am 15. Dezember 1983 durch das Dekret 187/83 gegründet. Die Kommission hatte die Aufgabe, das Schicksal der über 30.000 Desaparecidos und andere Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 (der sogenannten Zeit der Nationalen Reorganisation) zu untersuchen und zu registrieren. Das veröffentlichte, man muss sagen, unvollständige Dokument über Nachforschungen der Verbrechen wurde unter dem Titel „Nunca más“858 (Nie wieder) bekannt und erhob Anklage gegen einige Beamte der Militärdiktatur. Zur gleichen Zeit erließ Alfonsíns Regierung Gesetze, die genehmigten, dass militärische Beamte ungestraft bleiben durften. Im Jahr 1986 trat das Gesetz Ley de Punto Final (Schlusspunktgesetz), in Kraft, das eine Verjährungsfrist für das 855 Bei Videlas Worten handelt es sich um die von der Tageszeitung Clarín transkripierten und veröffentlichen Rede am 14. Dezember 1979, [Übersetzung A.S.]. 856 Stefan Nowotny: Affirmation im Verlust Zur Frage der Zeugenrede, in: EICPC 05/2008, URL: http://eipcp.net/transversal/0408/nowotny/de, (30.01.2013). 857 Ebd. 858 Vgl: „Nunca Más“, Conadep Bericht der Wahrheitskommission von 1984, URL: http://www.desaparecidos.org/nuncamas/web/english/library/nevagain/nevagain_001.htm (30.01.2013). 284 militärische Personal genehmigte. 1987 verabschiedet das Parlament zusätzlich das Gesetz Ley de obediencia debida, (Gesetz des gebührenden Gehorsams), das verhindert, das Mitglieder der Militärjunta strafverfolgt werden. Demzufolge konnten nur Personen strafrechtlich verfolgt werden, die während der Diktatur auf höchster Ebene, im Komando der Miltärzentralen im Einsatz waren, das betraf ca. dreißig Personen. Auf unterer Ebene wurden nur diejenigen strafrechtlich verfolgt, denen Diebstahl, Vergewaltigung oder die zwangsweise Entfernung von Kindern nachgewiesen werden konnte.859 Aus diesem Grund sind viele der Verantwortlichen der Verbrechen für ihre Rollen in der Diktatur als Gewalttäter, Vergewaltiger, Mörder und Unterdrücker nicht zur Rechenschaft gezogen worden und kehrten nach der Diktatur zu einem „normalen“ Leben zurück. 2005 erklärte der argentinische Oberste Gerichtshof das Schlussstrichgesetz und das Gesetz über den “gebührenden Gehorsam” als rechtswidrig und ebnete auf die Weise den Weg zur nationalen und internationalen Strafverfolgung der Täter aus der argentinischen Militärdiktatur.860 859 http://www.trial-ch.org/de/ressourcen/trial-watch/trialwatch/profils/profile/935/action/show/controller/Profile/tab/context.html 860 Vgl. TRIAL (Track Impunity Always): Kontext, in: TRIAL Länderprofil Argentinien. 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